Die Dämmerung des Zionismus

von Daniel Beaumont

Der Preis war hoch, aber die Palästinenser hatten im Mai wieder die Aufmerksamkeit der Weltpresse. Dafür brauchte es ein elftägiges Bombardement des Gazastreifens und Angriffe unterschiedlicher Art auf Palästinenser im Westjordanland und sogar innerhalb Israels selbst.

Die tägliche Gewalt, die den Palästinensern im Westjordanland und in Gaza angetan wird, ist keine Neuigkeit. Ansonsten bleibt Israels historischer Auftrag, „ein Licht für die Nationen“ zu sein – d. h. sein Raub palästinensischen Landes und seine Verletzung palästinensischer Rechte – meistens unbeachtet. Das Einzige, was sich bei diesem Prozess ändert, ist zumeist das Tempo der Diebstähle und Verstöße. Das Tempo beschleunigt sich, wenn Israel wie ein Dieb denkt, dass niemand zuschaut. Aber jetzt scheint ein anderer Faktor diese Ereignisse zu beschleunigen. Die Angst Israels wächst, weil die Wut und der Abscheu auf der ganzen Welt über sein Verhalten wächst. Gleichzeitig schwinden sowohl die Macht als auch der Einfluss seines einzigen wirklichen Freundes, der USA, und Israel findet sich immer isolierter. Seine neue Freundschaft mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko verringert seine Isolation kaum und soll in jedem Fall nur Eindruck machen. Israelis sind jetzt eingeladen, in Dubai Urlaub zu machen. Israel bleibt aber eine zionistische Insel in einem Meer von 360 Millionen Arabern, die es verachten. All diese Dinge deuten darauf hin, dass die Zeit kommen wird, in der der Rest der Welt Israel endlich sagen wird – es reicht.

In den USA hat die Berichterstattung über den israelisch-palästinensischen Konflikt im Laufe der Jahre den Eindruck erweckt, er sei hoffnungslos kompliziert. Das ist ein Trugschluss. Die Ursache des Konflikts – es gibt nur eine – ist, dass Israel den Palästinensern ihr Land raubt. Ebenso gibt es wirklich nur ein Hindernis für seine friedliche Lösung. Israel will keinen Frieden. Denn Frieden würde bedeuten, dass Israel aufhören müsste, palästinensisches Land zu stehlen, und es hat nicht die Absicht, das jemals zu tun, bevor es sich alles angeeignet hat. Alle großen Abkommen, die Israel mit verschiedenen arabischen Partnern unterzeichnet hat, machen dies deutlich. Beginnend mit den Camp-David-Verträgen von 1978 hat Israel in jedem Abkommen genau die Bestimmungen ignoriert, die in irgendeiner Weise die Rechte der Palästinenser anerkannten. Die meisten palästinensischen Führer haben seither Israels Recht anerkannt, auf dem Land zu existieren, das es vor 1967 eingenommen hat. Und keine israelische Regierung, ob Likud oder Labor, hat seither jemals die Usurpation von palästinensischem Land gestoppt. Und die Grenzen auf den Landkarten von 1978 haben sich nicht geändert. 

Aber die Haltung gegenüber Israel in der ganzen Welt und sogar in den Vereinigten Staaten hat sich geändert. Und diese Veränderung wird wahrgenommen, wie die Berichterstattung über Israels Angriff auf die Palästinenser im Mai zeigt. Die meisten Berichte im Mai begannen und endeten noch immer so, wie sie es seit 1948 getan haben. Sie begannen mit einer „rücksichtslosen palästinensischen Provokation“ und einer „maßvollen israelischen Antwort“, und sie endeten mit den düsteren Aussichten auf eine „friedliche Lösung“ wegen der Spaltung beider Seiten und ihrer Weigerung, Kompromisse zu schließen.

Aber neben diesen Standardformulierungen beinhalteten viele der Geschichten im Mai auch etwas Neues. Die weltweiten Proteste waren neu und ließen sich nicht ignorieren. Zehntausende gingen in Städten auf der ganzen Welt auf die Straße, um gegen Israels Angriff auf den Gazastreifen und die gewaltsame Unterdrückung palästinensischer Proteste im Westjordanland, in Jerusalem und in Israel selbst zu protestieren. Die Größe und das Ausmaß der Proteste zwangen die Presse, noch etwas Neues zur Kenntnis zu nehmen: die sich verändernde Haltung gegenüber Israel auf der ganzen Welt, besonders unter jungen Menschen. Und besonders hervorgehoben wurden diese Veränderungen in den USA. Dieser Wandel ist schon seit geraumer Zeit im Gange, aber für die Mainstream-Medien ist er jetzt eine Neuigkeit. Die Berichterstattung über die sich ändernden Einstellungen beinhaltete notwendigerweise eine Änderung der Rhetorik in der Berichterstattung. Begriffe wie „Kriegsverbrechen“, „Apartheid“, „Paria“ haben begonnen, in den Mainstream-Medien häufiger aufzutauchen. All diese Dinge signalisieren, dass eine Neubewertung des Zionismus im Gange ist. Und das hat weitreichende Auswirkungen für die Zukunft Israels. Der Staat Israel wurde 1948 mit dem Zionismus als ideologischer Blaupause gegründet. Wenn die Idee des Zionismus in Misskredit gerät – was dann?

Die Zahl der Menschen, für die der Zionismus noch eine respektable Idee ist, nimmt ab. Für diejenigen in Israel und im Ausland, die noch an ihm festhalten, wird seine Verteidigung immer schwieriger, je mehr sich die Leichen seiner Opfer stapeln. Die erste Linie ihrer Verteidigung des Zionismus und eines zionistischen Staates ist das pauschale Argument, dass Kritik an Israel und am Zionismus antisemitisch sei. Das ist nicht nur deshalb absurd, weil Israels gegenwärtige Handlungen nicht zu rechtfertigen sind, sondern es übersieht auch die Tatsache, dass vor langer Zeit von Juden selbst noch fundamentalere Kritik am Zionismus geäußert wurde. Als der Zionismus begann, Gestalt anzunehmen, stritten Juden nicht nur über die Grundsätze und Ziele des Zionismus, sondern einige stellten auch die Idee des Zionismus selbst in Frage. Einige hielten ihn gar für eine Torheit.

Der Zionismus begann im neunzehnten Jahrhundert als Lösung der sogenannten „Judenfrage“. Die Judenfrage‘ war natürlich nicht wirklich eine Frage hinsichtlich der Juden, sondern zum europäischen Antisemitismus. Die Lösung des Zionismus war, dass das jüdische Volk ein eigenes Heimatland haben sollte. Das scheint einigermaßen einfach. Aber von Anfang an waren die Implikationen dieser einfachen Idee und die Details ihrer Umsetzung sofort ein Streitpunkt zwischen den Zionisten und ihren nicht-jüdischen Verbündeten. Und die Folgen dieses ungelösten Streits begleiten uns bis heute.

Die erste Frage, die sich hinsichtlich der Judenfrage stellte, war, was ist ein Jude? War das Wort „Jude“ in erster Linie ein ethnischer oder ein religiöser Begriff? Diese Frage taucht immer noch in der aktuellen Debatte darüber auf, was es bedeutet zu sagen, Israel sei ein jüdischer Staat. Prominente frühe Zionisten debattierten über diese Frage, aber ihre Debatte blieb offensichtlich ergebnislos Für Theodor Herzl, der den ersten zionistischen Weltkongress 1897 leitete, war Jude in erster Linie ein ethnischer Begriff. Aber für Rabbi Abraham Kook, der nach der Jahrhundertwende mehrere einflussreiche Artikel schrieb und später der Oberrabbiner des Mandatsgebietes Palästina sein sollte, war das Wort in erster Linie ein religiöser Begriff. Es ist schwierig, ein anderes Wort zu finden, das eine Gruppe von Menschen benennt, die ähnlich uneindeutig ist. Wenn wir „Italiener“ oder „Muslim“ sagen, haben wir eine ziemlich klare Vorstellung davon, über welche Menschen wir sprechen. Nicht so bei dem Wort „Jude“. Und das ist immer noch ein Streitpunkt unter den Menschen, die innerhalb der gegenwärtigen Grenzen Israels leben – die, wie ich hinzufügen möchte, – ihrerseits gleichfalls umstritten sind.

Das zweite Problem war, dass dem Zionismus ein Merkmal anderer Formen des Nationalismus fehlte. Andere Spielarten des Nationalismus bezogen sich auf Völker, die bereits in einer Region konzentriert waren, auch wenn sie diese nicht beherrschten – die Serben zum Beispiel im neunzehnten Jahrhundert. Aber der Zionismus war eine Form des Nationalismus für ein Volk ohne jedes Land. Ihr Heimatland existierte nur in ihrer Vorstellung. Dies konnte nur die Probleme verstärken, die bereits mit einfacheren Versionen des Nationalismus einhergingen, die zumindest ein wenig Land unter den Füßen hatten, um das ihre Befürworter mit ihren Nachbarn, den Befürwortern eines anderen Nationalismus, kämpfen konnten. Die Zionisten hatten also ein Problem, das andere Nationalisten nicht hatten. Bevor sie um ein Stück Land kämpfen konnten, mussten sie dafür überhaupt erst einmal ein Stück Land finden. Es gab nur zwei Möglichkeiten, dies zu tun: sie konnten es kaufen oder sie konnten es stehlen

Bei der Diskussion, wo ein zionistischer Staat errichtet werden sollte, wurde Europa nie ernsthaft in Betracht gezogen. Es war ja der Antisemitismus in Europa, der den Zionismus überhaupt erst hervorgebracht hatte. Und auf jeden Fall würde kein europäischer Staat einen Teil seines Landes verkaufen. Das war nicht mehr passiert, seit der Zar Alaska an die USA verkauft hatte.

Die beiden Orte, die von frühen zionistischen Denkern am häufigsten genannt wurden, waren Palästina und Argentinien. Der Säkularist Herzl bevorzugte Argentinien, wo es viel mehr unbesiedeltes Land gab und wo bereits eine aufstrebende Kolonie von sowohl aschkenasischen als auch sephardischen Juden existierte. Aber Herzl erkannte, dass Palästina aus emotionalen Gründen erheblich mehr Unterstützung hatte. Palästina war ein kleiner, aber wichtiger Teil des Osmanischen Reiches, das damals allerdings nur eine sehr kleine jüdische Bevölkerung hatte. Tatsächlich rangierte Palästina von allen Orten im Osmanischen Reich mit einer jüdischen Bevölkerung an letzter Stelle. Viel größere jüdische Bevölkerungen gab es in Algerien, Syrien, Irak und in Istanbul selbst. Eine Schätzung der jüdischen Bevölkerung in Jerusalem im Jahr 1867 bezifferte sie auf etwa 4000 bis 5000 Menschen. Man vergleiche dies mit der jüdischen Bevölkerung von Bagdad, damals ebenfalls Teil des Osmanischen Reiches, die zur gleichen Zeit auf etwa 80.000 bis 90.000 Menschen geschätzt wurde – also etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung.

Zum Leidwesen der Betreiber des zionistischen Projekts standen die Osmanen vor dem Ersten Weltkrieg der jüdischen Auswanderung nach Palästina generell feindselig gegenüber, obwohl ihre öffentlichen Äußerungen zu diesem Thema zurückhaltend waren. Ihr Misstrauen hatte keine religiöse Grundlage, sondern war auf die Übergriffe von Russland und Österreich-Ungarn auf das Osmanische Reich zurückzuführen. 1882 verkündete der osmanische Ministerrat, dass Juden, die einwandern wollten, sich nicht in Palästina, sondern nur in anderen Provinzen niederlassen konnten, sofern sie osmanische Untertanen wurden. Für Zionisten kam diese Bestimmung aber nicht in Frage. Also versuchten verschiedene zionistische Parteiungen, diese Politik über britische und amerikanische Kanäle zu umgehen. Sie setzten Hebel in europäischen Regierungen in Bewegung und unternahmen Täuschungsmanöver, um Land in Palästina zu erwerben.

Trotz des osmanischen Widerstands gegen die Gründung jeder Art von unabhängigem Staat – ob jüdisch oder nicht – machte die zionistische Bewegung weiterhin einige Fortschritte, hauptsächlich weil das Osmanische Reich größere Probleme hatte. Die jüdische Auswanderung nach Palästina hielt an, und die zionistische Bewegung gewann weiterhin Anhänger und Unterstützer. Unter letzteren waren viele wohlhabende und mächtige Juden, die das Projekt, die Kontrolle über Palästina zu erlangen, unterstützten – obwohl sie selbst mitnichten die Absicht hatten, von Paris oder London oder Wien in eine kleine staubige Provinz des Osmanischen Reiches umzuziehen, um dort Landwirtschaft zu betreiben.

Dann änderte der Erste Weltkrieg alles. In dessen Folge wurde Palästina bei der Zerschlagung des Osmanischen Reiches zum britischen Mandatsgebiet. Der Erfolg schien nun näher – die britische Regierung hatte keine Skrupel, das Land eines anderen zu verschenken. Aber die Probleme, die dem Zionismus von Anfang an innewohnten, blieben bestehen. Diese waren erstmals achtzig Jahre zuvor von Karl Marx erkannt worden.

Während der Zionismus zu Marx‘ Zeiten noch keinen Namen hatte, war die allgemeine Debatte, aus der er hervorgehen sollte, bereits unter dem Etikett der „Judenfrage“ im Gange. Im Jahr 1843 schrieb Marx einen Aufsatz mit dem Titel „Über die Judenfrage„, der den gesamten philosophischen Rahmen sprengte, aus dem der Zionismus entstehen sollte – und nicht nur der Zionismus, sondern im Umkehrschluss auch alle anderen nationalistischen Projekte.

In seinem Essay begann Marx mit der Diskussion der Ansichten seines Hegelianer-Kollegen Bruno Bauer, der argumentiert hatte, dass die Lösung der „Judenfrage“ ein säkularer Staat wie die Vereinigten Staaten sei. Marx konterte, indem er – wie Tocqueville und viele andere Beobachter – auf die herausragende Rolle hinwies, die die Religion in der amerikanischen Gesellschaft und damit auch in ihrer Regierung spielte. Marx argumentierte, dass ein säkularer Staat in der Tat nicht gegen die Religion sei, sondern ihre Existenz voraussetze. Obwohl „Über die Judenfrage“ geschrieben war, bevor er seine Idee des Klassenkampfes ausarbeitete, sagt Marx in dem Essay, dass die Tatsache, dass es in den Vereinigten Staaten keine etablierte Religion gab, irrelevant sei. Die Menschen in den Vereinigten Staaten waren keineswegs frei, weil sie alle der Herrschaft des Geldes und des Marktes unterworfen waren. Und jemand, der nicht frei ist, kann einem anderen keine Freiheit gewähren.

An dieser Stelle muss ich hinzufügen, dass Marx nicht nur das, was zum Zionismus werden sollte, sondern auch die heutige Vorstellung von Identitätspolitik vorwegnahm und widerlegte. Die klare Implikation von Marx‘ Essay ist, dass jede politische Bewegung, die nur auf die Emanzipation einer einzelnen Gruppe von Menschen abzielt, letztlich scheitern wird – egal, welche kurzfristigen Gewinne sie erzielen mag. Vom Marx’schen Standpunkt aus ist die einzige wirkliche Form der menschlichen Emanzipation die Emanzipation aller Menschen. Die angestrebte Emanzipation aller kann nicht von einer Gruppe nach der anderen erreicht werden. So zu denken ist eine Art bürgerlichen Denkens, in dem eine Gesellschaft lediglich ein Aggregat von Individuen ist, und verschiedene Klassen und Institutionen sind bloße Abstraktionen ohne substanzielle Existenz nach ihrem eigenen Recht. Für Marx muss die Emanzipation der Juden Teil der Emanzipation aller Menschen sein, die von Regierungen unterjocht wurden, die allein den Interessen der Wohlhabenden dienten.

Achtzig Jahre nach Marx‘ Aufsatz gewann der Zionismus, trotz seiner falschen Vorstellungen, Anhänger in Europa und auch Land in Palästina. Doch in Palästina zeigten sich die dem Zionismus von Anfang an innewohnenden Probleme in der zunehmenden Feindschaft zwischen den zionistischen Kolonisten und der einheimischen arabischen Bevölkerung. Und es waren die Ereignisse in Palästina, die Sigmund Freud dazu brachten, seine Gedanken über den Zionismus darzulegen. Zu sagen, dass sie negativ waren, ist eine Untertreibung.

Die Zwietracht in Palästina zwischen Arabern und zionistischen Emigranten war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gewachsen. Der August 1929 markierte einen Wendepunkt, als die Zwietracht zwischen den beiden Seiten gewalttätig wurde. Der Auslöser für diese Gewalt kam Mitte August, als eine Gruppe von Hunderten von Juden zur Westmauer marschierte und „Die Mauer gehört uns“ rief. Am nächsten Tag versammelte sich eine große Anzahl arabischer Muslime an der Mauer und verbrannte Kopien der Tora. Dann begannen sie, Juden in der ganzen Stadt anzugreifen, und bald griffen Araber auch Juden in den umliegenden Städten an. Das Ganze kulminierte, als Hunderte von Arabern die jüdische Gemeinde in Hebron angriffen. Es folgte ein Massaker, bei dem 67 Juden und 9 Araber getötet wurden. In einer Woche wurden mehr als hundert Juden von Arabern niedergemetzelt. Die meisten der Opfer waren zionistische Siedler, aber einige wenige waren einheimische Juden. Ihr Schicksal war verhängnisvoll. Sie hatten in der Region mehr als tausend Jahre lang friedlich Seite an Seite mit Muslimen und Christen gelebt, und nun fanden sie sich unversehens in das zionistische Projekt verwickelt. Neunzehn Jahre später, mit der Gründung des Staates Israel, sollte das Gleiche noch einmal passieren, aber jetzt mit der einheimischen jüdischen Bevölkerung überall in der arabischen Welt von Marokko bis zum Irak.

Anfang 1930 schickte der Keren Hayesod, eine vom Zionistischen Kongress gegründete Spendenorganisation, einen Brief an prominente Juden in aller Welt mit der Bitte, sich öffentlich für einen jüdischen Staat in Palästina einzusetzen. Chaim Koffler, der Leiter des Keren Hayesod in Wien, schickte einen solchen Brief an Freud. Dieser Brief und Freuds knappe Antwort wurden erst 1990 öffentlich gemacht.

Freuds Antwort kann in einem Artikel von Ro Oranim aus dem Jahr 2019 nachgelesen werden[1]. Freud schrieb an Oranim: „Ich kann nicht tun, was Sie wünschen. Wer die Massen beeinflussen will, muss ihnen etwas Mitreißendes und Aufrührerisches geben, und mein nüchternes Urteil über den Zionismus lässt das nicht zu.“ Es folgte sein nüchternes Urteil über den Zionismus: „Ich glaube nicht, dass Palästina jemals ein jüdischer Staat werden könnte, noch dass die christliche und islamische Welt jemals bereit sein würde, ihre heiligen Stätten unter jüdische Obhut zu bringen. Es wäre mir vernünftiger erschienen, ein jüdisches Heimatland auf einem weniger geschichtsbelasteten Land zu errichten. Aber ich weiß, dass ein solch vernünftiger Standpunkt niemals die Begeisterung der Massen und die finanzielle Unterstützung der Wohlhabenden gewonnen hätte.“

Freud drückte sein Mitgefühl für die schmerzlichen Ereignisse aus, die die jüdischen Emigranten kurz zuvor erlebt hatten, aber dann folgte etwas, das für Koffler eine noch schmerzhaftere Lektüre gewesen sein muss. Freud sagte: „Der grundlose Fanatismus unseres Volkes ist zum Teil für das Erwachen des arabischen Misstrauens verantwortlich zu machen. Ich kann überhaupt kein Verständnis aufbringen für die fehlgeleitete Frömmigkeit, die ein Stück einer herodianischen Mauer in ein nationales Relikt verwandelt und damit die Gefühle der Eingeborenen beleidigt.“ Freud schloss mit den Worten: „Urteilen Sie nun selbst, ob ich mit einem so kritischen Standpunkt der Richtige bin, um als Trostspender für ein von unberechtigten Hoffnungen verblendetes Volk aufzutreten.“

Kofflers Reaktion war mehr oder weniger: „Oh Mann, da habe ich mich wohl vertan.“ Seine Überraschung über Freuds Antwort deutet darauf hin, dass es ihm an einer auch nur rudimentären Vertrautheit mit dessen Ideen mangelte – vor allem mit denen zur Religion. Nachdem er Freuds Antwort gelesen hatte, schrieb er auf Hebräisch in die obere Ecke des Briefes: „Zeigen Sie das nicht den Ausländern!“ Freuds Antwort, mit Kofflers Notiz dazu, landete schließlich in den Archiven der Nationalbibliothek Israels, aber, wie gesagt, sie wurde erst 1990 veröffentlicht.

Das Wort „Ausländer“ in Kofflers Notiz war Ra Oranims Übersetzung des hebräischen Wortes zarim in seinem Artikel von 2019. Das kam mir merkwürdig vor. Angesichts von Kofflers Entsetzen hätte man erwarten können, dass er sagt: „Zeigen Sie das niemandem!“ Wen könnte Koffler mit „Ausländern“ gemeint haben?

Ich zeigte Kofflers hebräische Notiz einer befreundeten Hebraistin, die mir sagte, dass das hebräische Wort, das mit „Ausländer“ übersetzt wird, zarim ist, der Plural des Wortes zar. Sie schrieb: „zar ist ein polysemantisches Wort, das ‚Fremder‘, aber auch ‚Außenseiter‘ bedeutet.“ Zudem dachte sie, dass die bessere Übersetzung von zarim ‚Außenseiter‘ wäre. Das heißt, Menschen außerhalb von Keren Hayesod. Das ist viel plausibler, als dass Koffler darüber besorgt war, was Ausländer oder Nicht-Juden über Freuds harsche Antwort denken könnten. Wahrscheinlicher ist, dass Koffler darüber besorgt war, was zionistische Kollegen von ihm denken könnten. Er befürchtete zu Recht, dass der Brief ihn vor der breiteren Gemeinschaft der Zionisten als uninformiert und naiv erscheinen lassen würde. Denn niemand, der ein allgemeines Wissen über Freuds Arbeit und seine Ansichten über Religion hatte, hätte sich die Mühe gemacht, den Brief zu lesen.

Die grundlegenden Fehler im zionistischen Projekt und die Konflikte und Probleme, die notwendiger-weise folgen würden, wurden von Marx und Freud in ihren Ursprüngen gesehen. Diese werden jetzt auch von einer wachsenden Zahl von Menschen auf der ganzen Welt gesehen.

Am 6. Mai demonstrierten Palästinenser in Ostjerusalem gegen die bevorstehende Vertreibung von sechs palästinensischen Familien aus ihren Häusern in Ostjerusalem. Am nächsten Tag stürmte die IDF, die israelische Armee, das Gelände der Al-Aqsa-Moschee. Nach Angaben des israelischen Fernsehens reagierte sie auf eine Gruppe von Palästinensern, die sie mit Steinen bewarfen. Als die IDF im Haram al-Sharif und in Ost-Jerusalem blieb, stellte die Hamas am 10. Mai ein Ultimatum an Israel, die IDF bis 18 Uhr von diesen Orten abzuziehen, sonst würde es Konsequenzen geben. Israel ignorierte das Ultimatum natürlich. Wahrscheinlich begrüßten es viele in der Regierung und im Militär sogar. Um 18 Uhr begann die Hamas mit dem Abschuss von Raketen. Wie zu erwarten, wurden Netanjahus Provokationen vor dem 10. Mai von den Mainstream-Medien in den USA ignoriert. Aber ansonsten wusste man in der Welt, dass sie Netanyahus letzter verzweifelter Versuch waren, seine eigene politische Haut zu retten. Der Krieg, wenn man ihn überhaupt so nennen kann, war seine blutigere Version des 6. Januar [in Washington – Anm. d. Übers.]. Es ist keine Überraschung, dass er und Trump sich gut verstanden. Sie sind beide Kriminelle und Betrüger, deren einzige Loyalität ihnen selbst gilt. Aber der Angriff verfehlte sein erklärtes Ziel, die Hamas ein für alle Mal auszuschalten. Sobald der Waffenstillstand erklärt worden war, begann die Hamas mit dem Wiederaufbau. Nach allen strategischen Maßstäben hat die Hamas gewonnen – zu dem gleichen Schluss kam auch die renommierte israelische Tageszeitung Haaretz. Für Israel dürfte wohl noch bestürzender sein, dass sie [die Hamas – Anm. d. Übers.] alle Palästinenser innerhalb und außerhalb Israels trotz ihrer politischen Spaltung vereint hat. In einem kürzlich erschienenen Counterpunch-Artikel sieht Patrick Cockburn diese neue Einheit als einen Weg für die Palästinenser, die Initiative zu ergreifen, indem sie die Anerkennung ihrer Rechte jetzt zum wichtigsten Thema machen und die Fata Morgana eines „Friedensprozesses“ und einer „Zwei-Staaten-Lösung“ den westlichen Politikern überlassen.

Die fadenscheinigen Argumente, die von Israel und seinen Unterstützern vorgebracht werden, um seinen Angriff auf den Gazastreifen und seine Mordtaten in der Westbank als „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen, und seine vergeblichen Versuche, die Demonstrationen der Palästinenser innerhalb Israels gewaltsam zu unterdrücken, haben niemanden getäuscht, außer seine hoffnungslos verblendeten Unterstützer v. a. in den USA.

Am 12. Mai schoss ein israelischer Soldat in Hebron einem vierzehnjährigen palästinensischen Jungen ins Auge, während er Schuhe einkaufte. Er war mehr als eine halbe Meile von der nächsten Demonstration entfernt. Die Chirurgen waren nicht in der Lage, die Kugel in seinem Gehirn zu operieren, und er starb im Krankenhaus. Sechs Tage später, am 18. Mai, schoss die israelische Polizei im Stadtteil Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem der vierzehnjährigen Jana Kiswani mit einer Kugel mit Schwammspitze in den Rücken, während sie mit ihrem Vater vor ihrem Haus stand.[2] Als er versuchte, ihr zu helfen, schossen sie ihm ins Bein. Dann feuerten sie eine Betäubungsgranate auf sie ab. Das Geschoss brach dem Mädchen die Wirbelsäule und beschädigte eine Niere. Über den Polizisten, der auf seine Tochter schoss, sagte ihr Vater Muhammad: „Er wollte einen Mord begehen.“ Siebzehn Tage später, wieder in Sheikh Jarrah, nahm die israelische Polizei die vierzehnjährige Nufouth Hammad fest – wegen Gesichtsbemalung.[3] Sie hatte die palästinensische Flagge auf die Gesichter ihrer Freunde gemalt, und es ist offensichtlich ein Verbrechen, die palästinensische Flagge in Jerusalem zu zeigen.

Der israelische Angriff auf Palästinenser im Mai hat eine größere Empörung ausgelöst als frühere Angriffe. Eine jüngere Generation überall auf der Welt verliert die Geduld mit ihren altersschwachen Führern hinsichtlich aller globalen Themen: Menschenrechte, Klimawandel, die eklatant ungleiche Verteilung des Wohlstands im Kapitalismus. So sieht sie auch die palästinensische Sache als Teil des weltweiten Kampfes für Menschenrechte.

Weder Marx noch Freud wären von dem Elend überrascht gewesen, das durch das zionistische Projekt geschaffen wurde. Und jetzt gelangen immer mehr Menschen überall zu der Ansicht, dass es schlecht durchdacht und von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Dass es die falsche Antwort auf die falsche Frage war.

(Übersetzung aus dem Amerikanischen: Jürgen Jung).

Anmerkungen:

  1. Die hier zitierten Auszüge aus Freuds Brief finden sich in „What Did Freud Really Think of Zionism?“ Ro Aranim, im Blog The Librarians, 9. August 2019. https://blog.nli.org.il/en/freud_on_zionism/ 2. Die Vorfälle von Muhammad Khalil Younis Freijat und Jana Kiswani finden sich in dem Artikel „Israel Attacks, Kills Children Amid Broad Crackdown“ von Tamara Nassar in The Electronic Intifada, 28. Mai 2021: https://electronicintifada.net/blogs/tamara-nassar/israel-attacks-kills-children-amid-broad-crackdown 3. Die Verhaftung von Nufouth Hammad findet sich in dem Artikel „Israeli Forces Detain Palestinian Girl in Sheikh Jarrah“ in The Palestine Chronicle, 4. Juni 2021: https://www.palestinechronicle.com/israeli-forces-detain-palestinian-girl-in-sheikh-jarrah/ ↑

*Daniel Beaumont lehrt arabische Sprache und Literatur und andere Kurse an der University of Rochester. Er ist der Autor von Slave of Desire: Sex, Love & Death in the 1001 Nights und Preachin‘ the Blues: The Life & Times of Son House. Er kann kontaktiert werden unter:  daniel.beaumont@rochester.edu

Ein Gedanke zu „Die Dämmerung des Zionismus

  1. Was wären denn Alternativen? Aus Israel einen zweiten Libanon zu machen? Jetzt, nach dem Desaster in Afghanistan dämmert es, daß man entweder die Finger von islamischen Ländern läßt oder sie mit der Faust beherrscht: Die westlichen Völker sind nicht mehr zur nachhaltigen Gewaltanwendung bereit. Da liegt das Problem Israels, weil dieser Staat Gewalt anwenden muss, will er sich nicht aufgeben. Denn sein Problem ist, daß unter den friedlichsten und westlich assimilierten Moslems junge Moslemgruppen entstehen, die den ursprünglichen Islam wieder neu erfinden: Saladin, Almohaden, Wahabiten, Taliban. In God we trust? Das funktioniert nicht mit Tora, Evangelium oder Talmud in der linken Hand, wenn diese weiß, das die Rechte ein Sturmgewehr hält

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