von Arn Strohmeyer
Von dem israelischen Philosophen Omri Boehm stammt der Satz, dass Zionismus und Humanismus unvereinbar seien (Interview DLF 8.2.2015). Inzwischen hat er seine Meinung aber offenbar wenigstens zum Teil revidiert, denn er gewinnt den frühen Zionisten (er meint den Zeitraum bis Ende der 30er Jahre) doch eine gewisse Menschlichkeit gegenüber den Palästinensern ab. Wenn er Namen wie Achad Ha’am oder Martin Buber nennt, dann stimmt das sicherlich – aber bei Wladimir Jabotinsky und Ben Gurion?
Auch der Begründer des Zionismus Theodor Herzl sei für eine humane Lösung eingetreten: eine binationale Autonomie sollte mit den Palästinensern hergestellt werden, die Schaffung einer vollständigen jüdischen Souveränität sei ihm vollständig fremd gewesen. Warum dann aber Herzls berühmt gewordene Tagebucheintragung, dass man die einheimischen Araber diskret über die Grenze bringen – also vertreiben – müsse? Wie ist dann Israel Zangwills ebenso berühmter Satz „das Land ohne Volk für das Volk ohne Land“ zu verstehen? Denn auch dieser frühe Zionist wusste sehr genau, dass Palästina nicht „leer“ war, dass es dort eine indigene Bevölkerung gab, aber für die interessierten sich die zionistischen Ideologen nicht, diese Menschen existierten für sie gar nicht.
Natürlich kann Boehm seine These, dass die frühen Zionisten eine binationale Lösung anstrebten, gut belegen: dass etwa Wladimir Jabotinsky sich sein Leben lang für die Idee eines „Nationalitätenstaates“, also die Konzeption einer multinationalen Föderation, im Gegensatz zu einem jüdischen Nationalstaat, eingesetzt habe. Warum dann aber seine Idee einer „Eisernen Mauer“, die er als Vorposten der Zivilisation gegen die asiatischen Barbaren errichten wollte, womit ja zweifellos die Araber einschließlich der Palästinenser gemeint waren?
Auch Ben Gurion engagierte sich ursprünglich (1926) für ein jeweils autonomes Gebiet, das sei das geeignetste Modell sowohl für die jüdische wie auch die palästinensische Selbstbestimmung. Er fügte sogar hinzu: da autonome Gebiete die Selbstbestimmung sicherten, mache es keinen Unterschied, ob es dort eine jüdische oder palästinensische Mehrheit gebe. Ihm schwebte also eine jüdische Selbstbestimmung innerhalb einer binationalen Föderation vor, die aus selbstverwalteten Kantonen oder Staaten innerhalb eines Bundesstaates Palästina bestehen sollte. (Boehm fügt dieser Idee Ben Gurion die Bemerkung hinzu: „Seine Prophezeiung, dass jede andere Art von Politik unsere Existenz in Palästina untergraben würde, kann sich noch bewahrheiten.“)
Der Prozess eines radikalen Umdenkens bei den Zionisten setzte aber sofort ein, als 1937 die im Auftrag der britischen Regierung eingesetzte Peel-Kommission forderte, dass Palästina in zwei separate Staaten geteilt werden sollte. Ihr Konzept sah auch vor, dass Teile der palästinensischen Bevölkerung aus den jüdischen Territorien „umgesiedelt“ (das heißt vertrieben) werden sollten. Ben Gurion und die Zionisten gingen sofort auf dieses Angebot ein, denn plötzlich war die Schaffung eines souveränen jüdischen Nationalstaates möglich – etwas, das Ben Gurion „in seinen kühnsten Fantasien nicht zu träumen gewagt hatte“, wie er in seinem Tagebuch schrieb. Da nahm dann auch die Vorstellung von der „Zwangsumsiedlung“, das heißt Vertreibung der Palästinenser konkrete Formen an.
An weiteren Äußerungen von Ben Gurion lässt sich gut belegen, dass die Schaffung einer binationalen Föderation nie das angestrebte Endziel des Zionismus war, sondern bestenfalls nur ein Zwischenschritt. Anlässlich der Vorschläge der Peel-Kommission, schrieb er zudem „mit glühender Begeisterung“ in sein Tagebuch: „Ich sehe in der Umsetzung dieses Plans ein fast schon entscheidendes Stadium am Anfang unserer vollen Erlösung und als unvergleichlich starken Hebel zur schrittweisen Eroberung des ganzen Landes Israel.“ Das war das wirkliche Ziel des Zionismus und nicht ein Zusammenleben mit den Palästinensern.
Die Entwicklung zeigt, wie sehr die politische Planung der Zionisten nicht von humanen Ideen abhängig war, sondern von den jeweiligen Zeitumständen – ein Punkt, den Boehm nicht deutlich genug herausarbeitet. Mit anderen Worten: Die angebliche Humanität, die er den frühen Zionisten unterstellt, war kein echter Antrieb ihrer Politik, sondern war den politischen Entwicklungen der Zeit geschuldet. Die Ansprüche der Zionisten steigerten sich mit der Gunst der jeweiligen historischen Gelegenheiten: Am Anfang wollte man mit den Arabern friedlich zusammen leben (1897), nach der Balfour-Deklaration war das Ziel die Errichtung der „jüdischen nationalen Heimstätte“ (1917/1918), dann trat die Forderung nach einem binationalem Staat auf die zionistische Agenda (1929) und wurde von der Postulierung eines eigenen Staates (1942) abgelöst, der dann 1948 errichtet wurde. Mit der Eskalation der Ansprüche gingen die Eliminierung der arabischen Bevölkerung (ab 1948) und die Vergrößerung des israelischen Territoriums einher (1948, 1956,1967).
Die Erwähnung dieser Vorgeschichte ist deshalb so wichtig, weil Omri Boehm seine Vision oder Utopie einer jüdisch-palästinensischen Zusammenarbeit auf dem Vermächtnis der frühen Zionisten aufbaut. Er bezieht sogar Menachem Begins Autonomie-Plan von 1979 in diese humane Geschichte des Zionismus mit ein, des Mannes, der als Irgun-Führer an den schrecklichsten Massakern (King David-Hotel und Deir Jassin) beteiligt war, als Ministerpräsident den Massenmord 1982 in Sabra und Schatila mit zu verantworten hatte und Palästinenser grundsätzlich als „Tiere auf zwei Beinen“ bezeichnete.
Dieser Plan Begins enthielt für Boehm dennoch einige positive Eckpunkte: Selbstverwaltung der Palästinenser, das Angebot die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen sowie die Ausübung des aktiven wie passiven Wahlrechts bei Wahlen zur Knesset. Die Kritik der Palästinenser war dennoch berechtigt: Die Selbstbestimmung in Verwaltungsangelegenheiten war eben keine Souveränität und die militärische Kontrolle über die Palästinenser sollte erhalten bleiben. Israel behielt sich zudem das Veto-Recht bei jedweder Vereinbarung vor. Edward Said nannte den Vorschlag, der auf Drängen von US-Präsident Jimmy Carter und Ägyptens Präsident Anwar-as-Sadat zustande gekommen war, eine „Kombination aus Theologie, juristischer Raffinesse und purer Kasuistik“. Said fügte hinzu, dass Begin, wenn er von Autonomie für die palästinensische Bevölkerung spreche, natürlich nicht das Land meinte, auf dem diese Menschen lebten, das sollte weiter den Israelis gehören.
Auch Omri Boehm gesteht die Mängel des Begin-Plans ein, sieht in ihm wie auch in den Oslo-Verträgen aber das Potenzial des Übergangs zu einer binationalen Föderation zwischen Israelis und Palästinensern als Ersatz für das durch die israelische Landnahme-Politik unmöglich gewordene und deshalb überlebte Zwei-Staaten-Konzept. Boehms Utopie, die ein gewandelter „liberaler“ Zionismus herbeiführen soll, umfasst – kurz zusammengefasst – folgende Elemente: Vereinigung der zwei Staaten Israel und Palästina in einem binationalen Zusammenschluss; jeweilige kulturelle und nationale Selbstbestimmung; gemeinsame Verfassung, die die Menschenrechte und Grundrechte garantiert; Freizügigkeit mit offenen Grenzen; wirtschaftliche Freiheit; jeweilige Verantwortung für die eigene Sicherheit; Wahlrecht zu den jeweiligen Parlamenten sowie die Anerkennung von Arabisch und Hebräisch als gleichrangigen Amtssprachen.
Eine Bedingung gehört als unabdingbare Voraussetzung zu Realisierung dieser Vision: Israel darf erstens seine Identität nicht weiter auf dem Holocaust aufbauen, muss ihn „vergessen“, ohne ihn zu verdrängen, denn eine Zukunft lasse sich nicht auf der Asche der Toten aufbauen. Und zweitens darf Israel nicht weiter die Nakba verdrängen oder sogar gutheißen. Juden und Palästinenser müssten gemeinsam des Holocaust und der Nakba als Menschheitsverbrechen gedenken.
Boehm merkt zu seiner Vision an: „Der Wert des vorliegenden Vorschlags besteht darin, dass er einen Weg aufzeigt, wie sich die Menschen- und Bürgerrechte im gesamten Territorium sichern lassen, ohne mit den historischen Ambitionen von Juden und Palästinensern zu brechen – der Ausübung nationaler Selbstbestimmung und nationaler Rechte. Er entspringt der Überzeugung, dass der Zionismus, das Verlangen nach jüdischer Selbstbestimmung, im 21. Jahrhundert als ein realistisches, erstrebenswertes Ziel bewahrt werden kann, aber nur, wenn er grundlegend verändert werden wird, wenn er in einer aus seiner Vergangenheit bekannten Form neu erfunden wird. Wäre Israel zu diesem Wandel nicht fähig, so würde es zu einem Rhodesien des 21. Jahrhunderts herabsinken.“
Boehm beschreibt hier die Sackgasse, in die Israel sich durch die Verweigerung der Zwei-Staaten-Lösung manövriert hat. Die Fortsetzung seiner bisherigen Politik plus die Realisierung des Trumpschen „Jahrhundert-Deals“ können nur zu einem Apartheidstaat führen (der Israel jetzt eigentlich schon ist) und damit die Existenz und das Überleben Israels in Frage stellen. Denn eine Apartheid mit menschlichem Antlitz gibt es nicht.
Insofern ist eine Konzeption, wie Boehm sie darstellt, der einzige Ausweg aus der Misere. Aber genau da setzen die Zweifel ein. Denn Boehms Utopie setzt die „Transformation“ des Zionismus voraus, also einen Bewusstseinswandel von einer inhumanen Ideologie zu einer humanen Weltanschauung. Und dafür gibt es im heutigen Israel nicht die geringsten Anzeichen. Es gibt großartige human denkende Menschen dort, aber sie sind eine verschwindend kleine Minderheit. Der jüdische Auschwitz-Überlebende Hajo G. Meier sagte zum Verfasser dieser Zeilen in einem Gespräch: „Die Israelis haben mit ihrer inhumanen Erziehung zum Zionismus schon drei Generationen geprägt. Wie soll man das aus den Köpfen wieder herausbekommen?“
In vielen Medienkommentaren ist immer wieder der Satz zu finden: Israel braucht einen Willy Brandt. Das ist richtig, aber man darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Erst muss ein Mentalitätswandel, ein Prozess des Umdenkens, in einem Großteil der Bevölkerung stattfinden, erst dann kann ein Willy Brandt die politische Bühne betreten und politisch wirken. Davon ist in Israel nichts zu sehen, der politische Prozess bewegt sich stramm in die andere Richtung. Viele Beobachter (auch in Israel) nehmen sogar das Wort „Faschismus“ in den Mund.
Das heißt aber nicht, dass Omri Boehm ein schlechtes oder unsinniges Buch geschrieben hat. Er geht hart und unerbittlich mit der israelischen Realität ins Gericht und bietet Aufklärung im besten Sinne. Auch die Vorstellung seiner Utopie ist völlig legitim, sie ist ja auch die einzige humane Alternative, die Israel noch hat. Aber angesichts der politischen Realitäten in diesem Staat fehlt schlicht der Glaube, dass Israel diesen Weg gehen wird.
Omri Boehm: Israel – eine Utopie, Propyläen Verlag Berlin, 2020, ISBN 978-3-549-10007-3, 20 Euro
Zeitfaktoren, Einflüsse und Synkretismen sind nirgends auszuschließen. Shlomo Sand charakterisiert sich als „Postzionisten“. Die Jüdische Rundschau sieht die Black Likes Matter Bewegung als „gefährliche Mischung“ diverser Ideologie-Grundsubstanzen. So wird auch der Zionismus ein Amalgan von europäischen Ideen sein, von denen der Humanismus auf die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit zurückgeht und schon deswegen relativ ausgedünnt sein muß.
Theoretisch dürfte jeder Israeli auch irgendwie Zionist sein, weil er es anders nicht aushalten könnte, in Israel zu leben. Wie war das in Deutschland vor 1945? Hildegard Hamm Brücher schrieb, daß nur 8% antinationalsozialistisch eingestellt gewesen seien. Das erlaubt zu mutmaßen, daß +/- 10% der Israelis ein anti-zionistisches Problem haben; aber von den 90% wird es eher jedes Amalgan von Zionismus mit anderen Ideen geben, auch mit dem Humanismus, auch wenn diese Verbindung widersprüchlich wäre,. Sie mag dann stabil sein und mit weiteren „ismen“ Verbindungen eingehen. So könnte man sich vorstellen, daß auch ein zionistischer Puritaner Situationen akzeptiert, in denen seine humanistischen Elemente zum Tragen kommen., nicht unbedingt weil er zionistisch denkt, sondern Philosophen wie Nachmanides, Maimonides oder gar Averroes zu schätzen versteht. Fördern wir einen amalganistischen Zionismus!