Ersatz-Antisemitismus: ein Mittel zur Verteidigung des Aberglaubens?

von Eurich Lobenstein

Niemand will sich gerne einen Antisemiten nennen lassen. Man käme sich bescheuert vor als eingefleischter Antisemit: Man würde zugeben, gegen alles zu sein, nur weil es jüdisch oder jüdisch gesprenkelt ist. Man müßte die größten Geister des Abendlandes wie Baruch Spinoza, Sigmund Freud, Edmund Husserl, Felix Hausdorff, Mendelsohn-Bartholdy und Albert Einstein ablehnen, weil sie jüdische Eltern hatten. Deswegen war der Begriff immer schon anrüchig im Sinne von närrisch. Selbst die Argumente gebildeter Antisemiten wie Kittel, Stapel oder Fritsche bestehen keine Nagelprobe. Der Begriff „Antisemit“ ist heute doppelt verrufen. Einmal, weil der „Antisemit“ nichts von Philosophie, von Musik, von Psychologie, oder von Mathematik zu verstehen scheint, und dann, weil er automatisch ein „Nazi“ sein muss. Gibt es Nazis, die keine Antisemiten waren? Man weiß kein konkretes Beispiel dafür. Im Gegenteil, auch das reaktionäre Umfeld der Nazis war antisemitisch eingestellt. Und die „Nazis“ haben gemordet ohne Ende und einen Krieg verloren, den sie nie hätten riskieren dürfen. Wer sich heute als „Nazi“ bekennt, muß also eine Ausgeburt der Unvernunft sein. Und das Kennzeichen der Unvernunft tragen die „Antisemiten“ automatisch mit.

1.

Deswegen ist es unzulässig, mit der Dreckschleuder des Antisemitismusvorwurfs umzugehen. So heißt es heute, die palästinensische BDS sei „zutiefst antisemitisch“ (Felix Klein). Ist „zutiefst“ dasselbe wie früher das „eingefleischt“? Reaktionäre jüdische Funktionäre der Bundesrepublik verunglimpfen selbst oppositionelle Juden als „Antisemiten“, wenn ihnen die Ansprüche der Palästinenser nicht völlig unbegründet erscheinen. Vielleicht sind diese jüdischen Antisemiten oberflächlich antisemitisch angehaucht. Ein Josef Ginsburg hatte die Kombination „Zionnazi“ erfunden. Was es nicht so alles gibt! Dem kreativen Verstand sind kaum Grenzen gesetzt. 

Dazu kommt noch, daß es unpräzise ist, Faschisten und Nazis gleichzusetzen, wie es üblich geworden ist. Dem Faschismus fehlte die gesellschaftliche Rassenideologie; er nahm die Gesellschaft hin, wie sie war und ist, von deutschem Standpunkt aus gesehen, nur eine Zuspitzung der republikanischen Idee von einem starken Staat. Die Faschisten waren daher auch keine Antisemiten, die die italienische Gesellschaft hätten, umzüchten wollen. Mussolini war eher Machiavellist, der sich in seinem Bundesgenossen Deutschland bzw. in Adolf Hitler fatal geirrt hatte. Warum er dem Zauber des antisemitischen Deutschlands erlag, versteht man nicht ganz. Denn Nahum Goldmann (in: Mein Leben als deutscher Jude) weiß zu berichten, wie abfällig sich Mussolini über Hitler und dessen Antisemitismus noch 1934 geäußert hatte.

 Google weiß zu berichten:

Zahlreiche Italiener jüdischen Glaubens unterstützten von Anfang an die faschistische Bewegung finanziell. An der Gründung der fasci di combattimento im März 1919 nahmen fünf Juden teil. 230 von 746 jüdischen Mitgliedern der faschistischen Partei waren im Oktober 1922 an Mussolinis Marsch auf Rom dabei. 

Jüdische Präsenz in Führungsämtern des Faschismus und in Mussolinis Regierung stellten Aldo Finzi (Unterstaatssekretär im Innenministerium), Dante Almansi (Vizechef der Polizei), Guido Jung (Finanzminister) und Maurizio Rava (General der faschistischen Miliz), der auch Vize-Gouverneur von Libyen und Gouverneur von Somalia war. Der Rechtsanwalt Renzo Ravenna war 15 Jahre lang podestà von Ferrara. Giorgio Del Vecchio, Professor für internationales Recht und Philosophie, wurde 1925 zum ersten faschistischen Rektor der Universität Rom ernannt. Alberto Liuzzi stieg in der faschistischen Miliz auf. Der prominente Journalist Gino Arias lieferte als Cheftheoretiker des Korporativstaates  Beiträge für die Tageszeitung Il Popolo d’Italia und das politische Magazin „Gerarchia“.  Von allen Italienern jüdischen Glaubens ab einem Alter von 21 Jahren traten 10.370 der Faschistischen Partei bei, was ein Drittel aller italienischen Juden bedeutete.

Zahlreiche jüdische Emigranten fanden im faschistischen Italien Zuflucht vor der Verfolgung im nationalsozialistischen Machtbereich. Noch im Jahr 1938, bis wenige Monate vor dem Beginn der offiziellen antijüdischen Kampagne, flohen österreichische und deutsche Juden nach Italien. Bis 1938 wurden es etwa 4000.

„Die Juden“ Italiens wurden von Mussolini verkauft, wie er später seinen Schwiegersohn an Hitler verkauft hatte. Widersprechen sich Faschismus und Judentum trotzdem? Nicht zwingend: Ayelet Shaked, frühere israelische Justizministerin bekennt sich zum Faschismus. Es gibt nicht wenige Kritiker Israels, die den ganzen jüdischen Staat als „faschistisch“ sehen. Ganz richtig liegen sie in der Theorie nicht, denn Israel fehlt das korporative System, das den Faschismus bedingt.

Widersprüchlicher als jüdische Sympathie mit dem Faschismus wäre eine jüdische Sympathie für Deutschland. Denn den Deutschen ist das jüdische Wesen an sich zuwider: die „antisemitischen“ „Nazi“-Filme wie “Jud Süß“ oder „Aktien auf Waterloo“ erhalten ihre „antisemitischen Akzente“ durch Einblenden typisch-jüdischer Lebensäußerungen: das sind Jüdische Gesänge im Gottesdienst und Bilder von Juden, die mit Sack und Pack in Stuttgart (1737) eintreffen. Die Deutschen distanzieren sich zwar heute vom Antisemitismus, vom Nationalsozialismus und vom (ihnen wesensfremden) Faschismus, aber schon 1945 wollte niemand, je ein Nazi gewesen sein. Letztlich deswegen, weil sie von ihrem Sieger entnazifiziert wurden und als Nazis bestraft worden wären, weil die Wiedergutmachung zum politischen Programm der Adenauerregierung gehörte, weil die Freundschaft zu Israel absolute Staatsraison im Hinblick auf die USA ist (John McCloy), und, weil für deutsche Ohren der Faschismus zum Synonym für alles Rechte geworden ist, dessen Stallgeruch man nicht annehmen will. Der mittelmäßige, normalverbrauchende Deutsche mag trotzdem keine jüdischen Gesänge. Die instinktive Ablehnung des fremden Wesens ist geblieben.

Es wäre also vernünftig, die intellektuellen Verzwirnungen einmal auseinander zu fädeln.

2.

Was Nationalsozialismus sei, haben schon die Nazis nicht schlüssig definieren können. Das Parteiprogramm der NSDAP galt ihr selbst als überholt; es wurde trotzdem kein aktualisiertes erlassen. Hitler trieb Politik im Sichtflug. Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers im Verhältnis zur NSDAP, meinte, daß Nationalsozialismus so was wie angewandte Biologie sei. Gemeint war damit eine Eugenik. Der Führer selbst sah in der Partei mehr die zivile Grundlage für seine praktische Kriegspolitik, wobei ihn ärgerte, daß die Generale seine politische Vorleistung zu wenig würdigten. Erst die Organisationen unter Heinrich Himmler erlauben die deutsche Zukunft zu skizzieren: ein artamanisch geprägtes Volk von kosakischen Wehrbauern, das sich unaufhaltsam reproduziert und seinen Lebensraum in ferne Weiten ausdehnt. Weil aber diese artamanischen Bauern auf ungermanischen Handel angewiesen wären, hätte es wieder jüdischer Viehhändler und Landhändler geben müssen. Der Irrsinn kennt keine Grenzen.

Deswegen hatte das NS-System so oder so wie ein Ponzi irgendwann scheitern müssen, mit oder ohne Endsieg. Ralph Giordano (in: Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte) meint allerdings, die „Nazis“ hätten von selbst auf das spätere System der Bundesrepublik umschwenken müssen. Fakt ist:  Hitler ist nach wie eine Art deutscher Schattenkanzler, von dem sich jede deutsche Regierung zwanghaft distanzieren muss.

Auch das hat mit Faschismus italienischer Art nichts zu tun. Und der deutsche Antisemitismus ist zwar kein zweites Paar, aber noch ein eigener Stiefel. So wie der Nationalsozialismus ohne Antisemitismus nicht hat funktionieren können    – Hitler soll in Gesprächen mit Hermann Rauschning geäußert haben, die Juden nicht ausrotten zu wollen, weil er sie dann neu erfinden müsse –   ist ein absoluter Antisemitismus ohne Nationalsozialismus sinnlos. Er wäre reines Geschwätz. Daher hatten „die Antisemiten“ im kaiserlichen Reichstag nur 12 Sitze (Deutsche Reform Partei). Antisemitischer Aufruhr wie bei der Hep-Hep-Bewegung, wie bei den Unruhen im Odenwald 1848 und wie bei Pogromen nach Art des Fettmilchaufstands von 1614 in Frankfurt verliefen immer im Sande, sobald die auslösenden Mißstände beseitigt sind. Eine Kompilation solcher Ereignisse zu einer „Geschichte des Antisemitismus“ zusammenzufassen, wie es Leon Poliakov tat, ist daher auch nur Geschwätz. Denn es gibt zwischen den Ereignissen weder einen inneren noch äußeren Zusammenhang: auch keinen ideellen, keinen zwischen den jeweils handelnden „Antisemiten“ und auch keinen von den Juden des Ereignisses „A“ mit denen des Ereignisses „B“. Der Antisemitismus wird immer neu erfunden. Dafür stehen Martin Luther und Andreas Eisenmenger. Die Schriften des ersteren sind den Protestanten immer peinlich gewesen (Schemhamphoras 1543) und das „Entdeckte Judentum“ regt höchstens christliche Theologen auf.  „Antisemitismus“ der gewöhnlichen Deutschen ist eher eine instinktive Ablehnung jüdischer Lebensart (Sigmund Freud), die auf konkrete Anlässe reagiert, die die Nazis zu einem Dauerzustand machten. Die instinktive Ablehnung ist geblieben reaktionstaugliche Anlässe fehlen heute.

Das hängt auch mit dem deutschen Demokratieverständnis zusammen. Die Demokratie steht angeblich im Gegensatz zur Diktatur; dabei wird Diktatur als Regierungsgewalt eines einzelnen Diktators oder einer „Junta“ verstanden, was bei rudimentären Staaten zu Militärdiktaturen führt. Aber die Demokratie ist in Deutschland nicht zwingend das Gegenteil von Diktatur. Demokratie ist in Deutschland die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, so ähnlich, wie es Karl Marx „Diktatur des Proletariats“ nannte oder Alexis de Tocqueville 1835 „über die Demokratie in Amerika“ schrieb. Entscheidend ist, daß Deutschland immer autoritär und nie liberal ist. Man kann das gut abschätzen an dem Bild, wie Thomas Kemmerich zur Wahl als Thüringer Ministerpräsident behandelt wurde. Die Landtagspräsidentin übergab ihm nicht den obligatorischen Blumenstrauß, sondern warf ihn ihm vor die Füße. Die deutschen „Demokraten“ wissen nicht einmal die Form zu wahren. Die Bundeskanzlerin setzte sich über die verfassungsrechtliche Eigenständigkeit der Bundesländer hinweg und behandelte Thüringen als Bundesregierungsbezirk; sie forderte, die „Wahl Kemmerichs rückgängig zu machen“, was schon rechtstechnisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber dieses Vorgehen, dem wegen der unerwünschten Stimmen der AfD bei der Regierungsbildung Kemmerichs die meisten Deutschen applaudierten, ist für die deutsche Demokratie symptomatisch: in einem echt demokratischen Land hätten sich die „Volksparteien“ mit der CDU neu zusammensetzen können und Kemmerich wieder abgewählt ohne das angelische Theater um „Rückgängig“ und ohne Entgleisung per Blumenstrauß.

Der „German way of democracy“ schreitet in dieser Art fort; die Polizei löst mit Wasserwerfern eine Demonstration von „Corona-Leugnern“ auf, weil die Abstände unter den Demonstranten nicht eingehalten seien, logisch, denn das Einhalten von „Corona-Abständen“ stünde dem Anlaß der Demonstration entgegen.  Es wird in Deutschland nicht ertragen, daß jemand gegen die „Corona-Maßnahmen“ der Regierung demonstriert; er wird sofort als Verschwörungstheoretiker und Coronaleugner verdammt und ist des Antisemitismus verdächtig (ebenso: Chaim Noll in: Jüdische Rundschau Dezember 2020). Auf diese Weise wird automatisch den Maßnahmen der Regierung akklamiert, obwohl diesen durchaus opponiert werden dürfen müßte:

Der öffentliche Nahverkehr ist ein „Hot-Spot“ der Ansteckung; statt nun die öffentliche Hand zu verpflichten, die doppelte Zahl von Verkehrsmitteln einzusetzen, fahren die Züge fahrplanmäßig. Das steht im Widerspruch dazu, daß man Gewerbetreibenden die Läden schließt und den Lebensmitteldiscountern die Zahl der Kunden im Laden vorschreibt, Den Kommunen nicht zugemutet wird analoge Verluste hinzunehmen, indem sie mehr Busse für jeweils weniger Fahrgäste fahren lassen müssen.

Was Deutschland immer zur Diktatur der Mehrheit über die Minderheit macht, ist das Prinzip der „Alternativlosigkeit“. Folgerichtig läßt man den „demokratischen“ Gegner als Leugner der Tatsachen oder gar als Verfassungsfeind „beobachten“.

Diese diktatorische Methode macht Schule. Theodor Lessing und Gilman Sander haben jüdische Mitbürger als angebliche „Selbsthasser“ katalogisiert, die man heute als „jüdische Antisemiten“ verstehen kann. Katalogisiert sind historische Größen wie Maximilian Harden und Otto Weininger. Charlotte Knobloch hat einen oppositionellen jüdischen Verleger, Abraham Melzer aus Neu-Isenburg, gleich als „berüchtigten Antisemiten“ ausgemacht und der pressebekannte Henryk Broder hat zusammen mit dem jüdischen Museum Berlin an einer Wäscheleine antisemitische Zuschriften dem Publikum in Deutschland vorgestellt, die indirekt als antisemitisch denunziert wurden. Sie begannen mit der typisierten Ansage:

            „ich bin zwar kein Antisemit, aber ….“

Ganz logisch ist das Verhalten von Broder und Co nicht. Denn der Zionismus kann auf einen virulenten Antisemitismus in Europa nicht auskommen. Ganz ohne Antisemitismus würden sich weniger Juden für Israel interessieren und schon gar keine Israelis nach Deutschland kommen. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach sind in der heutigen Gesellschaft Nachrichten über Israel zu bekannt. Die Kritik einer israelischen Opposition ist den jüdischen Kreisen in Deutschland geläufig. Wenn also ein gewisser Antisemitismus indirekt für Israel nützlich wäre, für was arbeiten dann Broder und Co?

Die deutschen Bundes- und Länderregierungen können eines nicht brauchen: Antisemitismus, denn dieser würde offenbaren, daß das deutsche Verfassungssystem dem des Nationalsozialismus immer noch auf teuflische Weise ähnlich ist: Totalitarismus ist im Keim erhalten, ebenso ein autoritärer Führungskult; „der Deutsche“ will lieber Söder als Laschet als Kanzler.

Entgegen Artikel 20 II GG ernennen die Justizminister die Richter oder lassen obskure „Richterwahlausschüsse“, in denen die Richter die Mehrheit haben, bestimmen, wem die Rechtspflege anvertraut werden soll. Die Juristenausbildung ist autoritär wie alledem (vgl. Ingo Müller in: Furchtbare Juristen). Keine Wahl des Volkes geht der Installation der Justiz voraus. Im administrativen Bereich der Staatsgewalt sind die Reichsstatthalter von damals durch die Finanzhoheit des Bundes ersetzt. Die neuen Bundesländer sind so schwächlich, daß sie nur als Bundesregierungsbezirke wirken. Das Thüringer Beispiel Kemmerich sagt alles. 1990 bekam keines der „neuen Bundesländer“ eine Landeszentralbank.  Der Marsch in den Zentralstaat hat spätestens 1990 begonnen. Und der Bundestag ist mit 700 Abgeordneten faktisch zur blinden Akklamationsmaschine zu Gesetzen der Regierung geworden.

3.

Unter diesen Prämissen organisiert die Bundesregierung auch einen jüdischen Zentralrat, der ein jüdisches Leben in Deutschland lenkt (ebenso: Chaim Noll in: Jüdische Rundschau Dezember 2020). Wie es in Deutschland nur ein künstliches jüdisches Leben geben kann, kann auch kein natürlicher Antisemitismus entstehen. Antisemitisch soll schon der anhaltinische Innenminister gewesen sein, der den Dessauer Polizeipräsidenten nicht absetzte. Letzterer hatte verkündet, zum Schutz jüdischer Einrichtungen seien die Polizeikräfte über Gebühr beansprucht weswegen die Sicherheit im Übrigen leiden könne. Das ist ein Antisemitismus unbekannter Art, ein Kunstprodukt, wie es Dr. Josef Schuster herausdestilliert. Daher kann es nur solchen künstlichen oder willkürlichen Antisemitismus geben. Mangels echten Antisemitismus wird ein jüdischer Verleger zum „berüchtigten Antisemiten“ deklariert. Er publiziert nicht klimakonform. Perverser Weise sehen weder das Landgericht Frankfurt noch das Landgericht München in der Diffamierung als „Antisemiten“ eine Schmähkritik, was für jüdische Institutionen einen Freibrief bedeutet, jüdische Opposition zur israelischen Politik im Allgemeinen und zur deutschen Judenpolitik als Landesverräterisch, hochverräterisch und anderen schwersten Geschützen niederzukartätschen.

In unserem politisch-orthodoxen Klima kann nämlich nur ein „jüdischer Antisemitismus“ keimen.  Meldet sich ein „arischer“ Gunter Grass oder ein Martin Walser mit Kritik an Israel, dann wird der eine zum SS-Mann. Gegen den anderen, der den Roman „Tod eines Kritikers“ geschrieben hatte, wurde der Vorwurf erhoben, er habe ein „antisemitisches Buch“ geschrieben. „In aller Freundschaft“ warf die Schriftstellerin Ruth Klüger Walser in einem offenen Brief vor, er habe sie durch die „Darstellung eines Kritikers als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt.“ (Google). Der Versuch, Faßbenders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ aufzuführen, scheiterte an handgreiflicher Intervention prominenter jüdischer Mitbürger.

Was ist am künstlichen Antisemitismus das neophytische? Es ist so ähnlich wie beim ausgestorbenen Sylphium: Für Sylphium fand man Ersatz im Asant. Und so ist der Ersatzantisemit heute jeder, der gegen den israelischen Zionismus opponiert oder den gelenkten jüdischen Institutionen nicht applaudiert. Das zeigt, der Zentralrat hat den „German way of democracy“ auch für sich als typisch deutsche Institution übernommen. Er versteht sich als „alternativlos“ und sieht jede jüdische Opposition als leugnend und irregeleitet, vulgo als „antisemitisch“ an. Wie würde ein derart autoritärer Zentralrat sich in eine Diskussion in Israel einklinken wollen, wo Simon J. Rabinovitch (in: Haaretz, 31.12.2020) nach der jüdischen Identität fragt, ob diese sich von der Religion oder von der natürlichen Abstammung (um nicht „Rasse“ zu sagen) herleite:

 „Israel’s sefardischer Oberrabbiner Yitzhak Yosef, stieß Anfang 2020 eine Diskussion zu seiner These an, daß in Israel zahlreiche „Heiden“ lebten, von denen nicht wenige sogar Materialisten seien, die man gezielt nach Israel geholt habe, um gegen die Orthodoxie eine Front aufzubauen“.

Der Zentralrat könnte sich in eine solche Diskussion nicht zivilisiert einschalten. Er kennt nur seine autoritäre Orthodoxie und die Autorität der israelischen Regierung im Amt. Alles andere existiert nicht. Wer ihm, dem Zentralrat in Deutschland widerspricht, ja, wer nur über den deutschen Tellerrand nach Israel blickt, kann nur Antisemit sein. Das Ringen um jüdisch-israelische Identität treibt auch sonst irre Blüten. Haaretz (30.12.2020) greift den „großen Kampf des Papstes mit den Juden um die Neu-Jahr-Feiern im 4. Jahrhundert“ auf (tatsächlich hatte die Neujahr-Frage mit den Juden gar nichts zu tun):

„wie konnte das Sylvesterfeiern am 31.Dezember bei manchen Israelis derart beliebt werden, obwohl so viele Juden diesen Brauch hassen?“

Ganz einfach; immer mehr Israelis sind in der Moderne angekommen:

„Das Jahresendfest wurde bereits im  Römischen Reich  gefeiert, erstmals zu Beginn des Jahres 153 v. Chr., als der Jahresbeginn vom 1. März auf den 1. Januar verschoben wurde. Die Sitte, das Jahr nach dem zehnten Monat neu zu beginnen, war römisch. Die Monate für  Caesar  –   Juli  – und  Augustus – August – wurden mit der „julianischen Kalenderreform“  eingeführt. Das Sonnenjahr hat nun einmal nach der Natur 365 Tage. Die Assoziation des Jahresendes mit dem Namen Silvester geht auf das Jahr 1582 zurück. Damals verlegte die Gregorianische Kalenderreform den letzten Tag des Jahres vom 24. Dezember auf den 31. Dezember, den Todestag von Silvester I. (335).“ (aus Google) Der gregorianischen Kalenderreform schlossen sich die Protestanten nach dem 30-jährigen Krieg an, die Russen nach der Oktoberrevolution.

Auch für Juden und für den Staat Israel beginnt der Jahreswechsel am 1. Januar um 0:00 Uhr an der Datumsgrenze, die durch den  Pazifischen Ozean am 180.  Längengrad verläuft. Nebenbei zählen sie auch noch die Jahre seit Adams Erschaffung: 5780 (2020); allerdings nicht deckungsgelich, denn sie berechnen den Jahreslauf nach dem Mond (diese Formulierung ist wahrscheinlich schon „antisemitisch“). Wie dem auch sei, die aristotelische Logik ist bei den Orthodoxen auch verhasst.

Issac Deutscher sagte 1967, nach dem 6-Tage-Krieg:

„Ich spreche als Marxist jüdischer Herkunft, dessen nächste Angehörige in Auschwitz umgekommen sind und dessen Verwandte in Israel leben. Man erweist Israel einen schlechten Dienst und schadet ihm auf lange Sicht, wenn man seine Kriege gegen die Araber rechtfertigt oder entschuldigt. Israels Sicherheit wurde durch die Kriege von 1956 und 1967 nicht verstärkt, sie wurde vielmehr untergraben und kompromittiert. Seine Freunde haben Israel auf einen zerstörerischen Kurs gebracht.“ (in: Der nicht-jüdische Jude).

Abraham Melzer, der gleiches sagte, befindet sich heutzutage in guter „antisemitischer“ Gesellschaft. Der neophytische Ersatzantisemitismus ist für das natürliche jüdische Leben zerstörerisch. Das bemerken inzwischen viele jüdische Mitbürger, die an Angela Merkel (als Initiative 5,3 GG) einen offenen Brief schrieben und die Ablösung Merkels Antisemitismusbeauftragen Felix Klein forderten. Gegen die Politik Israels darf in Deutschland keine Stimme laut werden. Dabei sieht die IHRA mit ihrer Definition für Antisemitismus selbst vor, daß Israel durchaus kritisiert werden dürfe, wenn man vergleichbare Länder mit an den Pranger stellt: den Iran der Mullahs, Putins Rußland, Evo Morales Bolivien und weiß Gott mit Hilfe von Beispielen zu welchen Bananenrepubliken man noch kritikberechtigt werden kann. Nur wen interessiert es? Warum empört Israel, wenn Kirgisistan seinen Faschismus genüßlich ausleben darf? Weil bei uns zu wenig Kirgisen leben. Wir würden nicht einmal mitbekommen, wenn unter uns ein „berüchtigter antikirgisischer Verleger“ weilte.

Was macht also den Ersatz-Antisemitismus aus? Er geht überwiegend von Juden aus: von einer breiten jüdischen Opposition, die schon in der Haskala begann: Für Leon Poliakov war sogar schon Baruch Spinoza ein früher Antisemit, der den Widerspruch zwischen der Theorie des Gottes Israels und eines simultanen Weltmonotheismus beschrieb. Karl Marx, der jüdische Emanzipation als Junktim zur christlichen Emanzipation verstand, galt deswegen als Antisemit. Antisemiten sind all die Anussim, all die jüdischen Ketzer im Sinne Eliser Ben Abujas, die jüdischen Mischlinge, die Marranen sowieso und und und. All das staatsoppositionelle Volk gilt heute als Ersatzantisemiten, weil sie ganz natürlich was gegen jüdische Orthodoxie haben müssen. Abraham Melzer schätzt, daß möglicherweise 30% der Israelis unter den Begriff „Antisemiten“ subsumiert werden könnten.

Traurig: 30% der Juden laufen Gefahr als Ersatzantisemiten herhalten zu müssen, weil es keine Natur-Antisemiten mehr gibt. Oder doch? es gab einen Pöbler vor Feinbergs Restaurant in Schöneberg, und Gottlob noch den Halle-Attentäter Stefan Balliet. Der Trottel hat aber nur ersatzweise zwei Passanten erschossen, die nicht einmal Juden waren. Beide Täter können die 5% früherer Reichsantisemiten nicht ersetzen. Das führt aber nicht zur Traurigkeit: Das Traurige ist, daß die jüdische Orthodoxie und die israelische Amts- und die deutsche Politik der Staatsraison Heinrich von Treitschke zu bestätigen scheinen:

Die Juden sind (Antisemiten und) unser Unglück.

„Unser“? wer uns? Meint man damit die freien Menschen jüdischer Herkunft, zu denen auch ein Viktor Klemperer gehört hatte? Das Luxemburger Abkommen von 1952 reservierte diesen Leuten DM 50.000.000 als Entschädigung für erlittenes NS-Unrecht. Weder die Jewish Claim-Conference noch die israelische Regierung wollten diese 50 Millionen zur Verteilung an „abtrünnige Juden“ betreuen. Abtrünnig ist gleich antisemitisch? Die abtrünnigen Juden sind nicht organisiert, um an dieses Geld kommen zu können. Gut, daß sie nicht organisiert sind, umso leichter kann man sie des Selbsthasses, der Ketzerei, des Marranentums und des Antisemitismus bezichtigen. Die deutschen Behörden vom Amtsrichterlein von ganz unten bis zur oberen Ebene der Politik wissen die reine Orthodoxie von Glauben und Politik zu schätzen. Sie sekundieren dieser reaktionären Politik. Sie soll wahrscheinlich auch im post-christlichen Deutschland wieder durchgesetzt werden.  Auf diese Weise nützen die verfaßten Juden der deutschen Regierung im Kampf gegen eine unchristliche Entwicklung der Philosophie und gegen fremdpolitische NGO-Ideen in der Gesellschaft.

Den Vogel schießt das amerikanische Simon-Wiesenthal-Center ab, das jährlich die 10 schlimmsten antisemitischen Vorfälle listet; unter Nummer 10 fällt ein potentieller Präsidentschaftskandidat Chiles, Daniel Jadue; das Center teilt mit:

„Chile ist die Heimat der drittgrößten jüdischen Gemeinschaft (20.000 Seelen). Inzwischen ist es auch das Land mit der größten palästinensischen Gemeinschaft außerhalb der arabischen Welt (300.000 Seelen). Letztes Jahr verabschiedete der Rat von Recoleta eine Resolution, daß das palästinensische Volk Opfer von planmäßiger Gewalt und von Terror zionistischer Gruppen geworden sei. Die Führer der chilenischen Juden handeln im Interesse Israels. Obwohl Jadue mit den Juden als solchen gut ausgekommen war, hat er heute Probleme mit den Zionisten. Dabei beleidigte Jadue alle drei abrahamitischen Glaubensrichtungen wie folgt:

Bist du in einer jüdischen Familie geboren, kannst du dich für ein Mitglied von Gottes auserwähltem Volk halten und ungestraft Palästinenser abmurksen, um deren Land zu rauben. Bist du in einer moslemischen Familie geboren, darfst du glauben, der Krieg sei eine heilige Sache. Wenn du christlich geboren wurdest, sollst du glauben, daß deine Armut gesegnet sei und du nach dem Tod im Jenseits entschädigt wirst.

Das hat an sich mit „Antisemitismus“ überhaupt nichts zu tun. Antisemit kann also jeder werden, auf den Etabilssements wie das Wiesenthal-Center, der Zentralrat der Juden oder die deutsche Zentralregierung aufmerksam werden. Man ist unter Antisemiten eigentlich in guter Gesellschaft.

Und aus dem Film „Beresina – oder die letzten Tage der Schweiz“ merke man sich einen Satz:

„Alle Schweizer sind eine Gefahr für die Sicherheit der Schweiz“

Sind „alle Juden eine Gefahr für den Bestand der Orthodoxie der Diaspora oder Israels?“  Darf man sie deswegen als Antisemiten verfluchen? Oder sind nicht die konservativen Juden ihre eigenen Unglücksbringer als Reagenzien in den postchristlichen Essenzen, quasi das Salz der Heiden, das die die jüdische Orthodoxie und eine reaktionäre Staatsideologie unveränderlich für ihre Entwicklung braucht? Unsere Schuster-Juden wissen nicht, was sie tun und für was sie herhalten.

Ein Gedanke zu „Ersatz-Antisemitismus: ein Mittel zur Verteidigung des Aberglaubens?

  1. sehr kenntnisreich, aber im Hinblick auf die Justiz unzutreffend: Inzwischen haben mehrere deutsche Verwaltungsgerichte den anti-BDS Beschluß des Bundestags vom 17.5.2019 als unvereinbar mit GG 5.1 und 3 befunden und die Kommunen, die Aufklärungsveranstaltungen zur Menchenrechtspolitik Israels verboten hatte, dazu verpflichtet, ihre Verbote rückgängig zu machen. Außerdem läuft z.Zt. eine Klage gegen den Bundestagsbeschluß, die gute Chancen hat, Erfolg zu haben.

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