von Ulrich Kammer
Sehr geehrter Herr von Notz,
Ihrer Vita im Internet habe ich entnommen, daß Sie einmal in der Bahnhofsmission Frankfurt gearbeitet haben. Dasselbe habe ich als Student in den Semesterferien 1952 getan, da war ich 26 Jahre alt, kurz vor meinem 1. Staatsexamen. Im Herbst 1971 habe ich mit einer Schülergruppe in Auschwitz gearbeitet unter Aktion Sühnezeichen -Friedensdienste. Im Jahr 1995 wurde ich Gründungsmitglied des Synagogenbauvereins Gießen, setze mich seitdem für das Wohl der jüdischen Gemeinde Gießen ein. 1996 warb ich für das Wapniarka-Hilfswerk der Charlotte Petersen, einer Freundin meiner Mutter seit 1924. Im gleichen Jahr bereiste ich das Baltikum, aus dem meine mütterlichen Vorfahren stammten. Dolmetscherin und Reiseleiterin war die jüdische pensionierte Krankenschwester Ester Lagdzdina aus Riga, die als junges Mädchen 1941 in die Sowjetunion geflüchtet war – ihre Zwillingsschwester und Mutter waren in Riga geblieben und wurden ermordet. Ester konnte 1997 auf Betreiben meiner Verwandten in Berlin nach Potsdam übersiedeln und dort ihren Lebensabend verbringen.
Doch nun zur Gegenwart: Nach dem Jahr 2000 erfuhr ich von den Forschungen der sogen. Neuen israelischen Historiker seit dem Buch des Altzionisten Simcha Flapan, dessen Buch „Die Geburt Israels – Mythos und Wirklichkeit“ 1987 erschienen war. (Melzer Verlag) Eine gründliche Rezension dieses Buchs ist unter Schattenblick Rezension 288 weiterhin im Internet lesbar.
In Deutschland setzen sich das „Bündnis für gerechten Frieden“ und die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ ein für einen menschenwürdigen Frieden zwischen Israel und den seit 54 Jahren besetzten Gebieten, in denen jetzt rd. 700 000 Síedler auf geraubtem Land leben.
Sie wissen vielleicht nicht mehr, was im 2. Weltkrieg als Kollaboration bezeichnet wurde. Petain in Frankreich, Quisling in Norwegen, Pavelic in Kroatien waren die deutschen Marionetten. Nichts anderes ist die sogen. Autonomiebehörde in Ramallah, der im ablaufenden Jahr zwei kritische Journalisten zum Opfer gefallen sind. Die deutsche Staatsräson und in ihrem Gefolge unsere Kirchenleitungen predigen Solidarität mit Staat Israel und bezeichnen Kritiker als Antisemiten, auch die vielen Jüdinnen und Juden in Israel selbst und weltweit, die sich für Menschenrecht einsetzen. Die deutschen Verbrechen bis 1945 können nicht durch Solidarität mit der israelischen Politik gesühnt werden. Wohl aber versündigt sich Deutschland nicht nur an den seit 54 Jahren rechtlosen Bewohnern der besetzten Gebiete und Gaza. Wenn Sie sich sachlich über die wirkliche Zeitgeschichte von 1907 bis 1987 informieren wollen, lesen Sie bitte die jüngst erschienenen Erinnerungen des jüdischen Verlegers und Buchhändlers Joseph Melzer „Ich habe neun Leben gelebt“. Meine Nichte Heike K., von 1984 bis 1997 als Menschenschützerin und Friedensaktivistin in lateinamerikanischen Ländern unterwegs, 1999 mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar ausgezeichnet, hielt sich zu Beginn des Jahres 2013 ein Vierteljahr in Hebron auf. Ihren Bericht von dort hänge ich an.
Schon im Jahr 2003 hat der Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu aus Südafrika nach Nahostreise dort die Zustände mit der selbst erlittenen Apartheid verglichen. Der Lohn: Bis heute darf er bei keinem ev. Kirchentag über seine Erfahrungen berichten. Für mich ergibt sich: Die Identifikation von Staat Israel mit Judentum ist menschenrechtlich verfehlt und religiös bewertet eine Irrlehre. Den dumpfen rechtsextremen Antisemitismus können noch so viele dagegen Beauftragte nicht ausrotten.
Hakenkreuzschmierereien, dumme Sprüche, selbst Angriffe auf Kippaträger sind nicht vergleichbar mit dem, was tagtäglich in den besetzten Gebieten passiert: Bauern können ihre Oliven nicht ernten, von denen ihre Existenz abhängt. Häuser und Schulen werden zerstört, bei nächtlichen Razzien werden auch Kleinkinder aus ihren Bettchen gerissen, und alle Bewohner werden fotografiert, denn es könnte ja sein, daß ein Junge mit Steinen nach einem IDF-Krieger wirft. Hunderte von Kindern und Jugendlichen werden in israelischen Gefängnissen Gehirnwäschen unterzogen. Das sind keine fake-news, sondern durch die israelische Zeitung Haaretz ermittelte Tatsachen. Ich bezichtige die bundesdeutsche Politik, Verdummung der Bevölkerung Vorschub zu leisten.
Mein eigenes Urteil: Diejenigen nichtjüdischen Deutschen, die Juden verbieten wollen, sich offen für einen menschenrechtlich korrekten Frieden einzusetzen, machen sich eines selbstgerechten Antisemitismus schuldig. Und unter diesem Segel schwimmt auch die neue Ampelkoalition los, nachdem bis vor wenige Tage die alte mit Noch-Finanzminister Scholz einen Export-Rekord von Rüstungsgütern aufgestellt hat . . .
Friede auf Erden – echt oder geheuchelt?
Dr. Ulrich Kammer, Laubach.
Man kann nicht wirklich von einer „Verdummung der Bevölkerung“ sprechen, auch nicht in punkto Israel. Deutschlands Bevölkerung ist seit Ewig von Denkverboten und -geboten betroffen. Innerhalb der erlaubten Denkgrenzen sind die Deutschen geschickt und agil. Die Überlegung, ob Deutsche durch besondere Israel-Freundlichkeit ihre Kriegsverbrechen kompensieren können, ist eine politische Entscheidung jenseits der erlaubten Denkgrenzen. Die entsprechende Frage ist daher unzulässig. Deswegen wird es auch nicht legitim sein, Inhalte aus Haaretz in Deutschland zu verbreiten. Sie könnten in dem Sinn verstanden werden, dass die „Zionisten“ auch nicht besser seien als die verpönten (N…[verbotenes Wort]), Narren, die sich ein eigenes autarkes Universum hatten schaffen wollen. Man soll das nicht zu sehr vertiefen: Dünnbrettbohren reicht, schon kratzen ist nicht ungefährlich.