Friedrich Holländer parodierte zu Bizets Klängen die politische Behauptung, dass die Juden an allem die Schuld trügen. Barbara Streisand sang das Liedchen noch in den 70er Jahren: „… ob es regnet oder … ob es schneit … an allem sind die Juden schuld…“. Jüdische Autoren fanden Holländers Parodie gar nicht lustig, aber so ganz daneben kann sie nicht gelegen haben. Als Parodie wandte sie sich gegen eine diffus pauschale Sicht der Dinge von Judengegnern, aber „Juden“ fühlten sich doch auch kritisiert. So albern es ist, irgendjemandem die Schuld am Schneefall zu geben, so interessant ist doch das Zusammenspiel von individueller Schuld und kollektiver Unschuld und umgekehrt. Es ist eine rechtsphilosophisch interessante Frage.
1.
Man darf das Wort „alles“ nicht wie „an jedem einzelnen Problem“ lesen. Vielleicht meint Holländer eher „am meisten sind die Juden schuld“. Das Wort „Schuld“ weist zwar auf „alles Negative“ hin, aber man muss die Pauschalierung „die Juden“ wieder so verstehen, dass damit nur die profilierteren Juden gemeint sein können, nicht jeder einzelne. Welche Schuld soll ein von Carl Zuckmayer karikierter Herrenschneider Wormser (den es in echt auch gegeben haben könnte) tragen, der die Uniform des späteren Hauptmanns v. Köpenick für den Gardehauptmann v. Schlettow fertigte? Zuckmayers Stück wird jüdischerseits wegen der Figur des Wormser oft kritisiert. Natürlich kann Wormser nichts dafür, dass seine Uniform bei einem Trödler landet, aber er ist Teil einer Gesellschaft, in der Wilhelm Vogts Straftat möglich wurde. Oder man denke an Bernd Madoff (New York), einen jüdischen Verbrecher, der 150 Jahre Knast kassierte. Woran soll er noch schuld(ig) gewesen sein als am Schaden seiner induviduell betrogenen Opfer? Vielleicht ist er weniger schuldig als man ihn individuell vorhält, weil das „unschuldige“ Kollektiv ihm den Rahmen seiner Verbrechen lieferte. Es ist also genau umgekehrt als wie bei einer Argumentation „pars pro toto“. Können individuell Unschuldige „in toto“ an etwas schuld sein?
Gerade in der Zwischenkriegszeit der Weimarer Republik traten die jüdischen Gruppen hervor. Die Weimarer Republik, heute hoch geschätzt in der Erinnerung, war eine juristische Fehlkonstruktion in allen Details. Hugo Preuß gilt als ihr Autor. Auch sonst traten viele Juden für sie ein, so dass sie auch als Judenrepublik beschimpft wurde. „Die Juden“? Nein. Leute wie Viktor Klemperer lebten in der deutschen Gesellschaft und fanden es albern, sich zum Essen einen Hut aufsetzen zu sollen, und Leute wie Felix Theilhaber machten sich Sorgen um den Bestand des deutschen Judentums als besondere Nation, die es in Palästina besser haben müsste. Vielleicht darf man den Satz Holländers so aufschlüsseln, dass politisch profilierte und bekennende Juden sich eine prizipielle Mitverantwortung am Gesamtschicksal „unschuldig“ aufbürden. In Presse, Parteien und Literatur meldeten sie sich heute noch laut zu Wort.
Heute wütet ein Antisemitismusbeauftragter in Berlin, Samuel Salzborn gegen Straßennamen „mit antisemitischen Bezug“, wobei die Martin Lutherstraße, der Richard Wagnerplatz und die Pacelliallee im Blickpunkt seiner Auslöschungsabsicht stehen. Wagners Schrift vom Juddntum in der Musik interessiert kaum, und seine Ansicht zu der von ihn verworfenen Kletzmermusik ist eigentlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Sein Text ist marginal im Vergleich zu seinem Gesamtwerk. Der Vorkämpfer gegen Antisemitismus macht sinnlos Risches, und die Jüdische Allgemeine klatscht dazu Beifall. Der nach dem loyalen Freicorpsführer General Georg Marcker benannte Weg ist bereits umbenannt. Maercker war 1919 gegen Aufständische mit markant geringem Blutvergießen vorgegangen und hätte es verdient, allein dafür gewürdigt zu bleiben. Friedrich Schiller, der wirklich Antisemit war (Bernd Witte), bleibt als Straßenname akzeptiert. Immerhin wurde er von Juden lieber gelesen als der auch antisemitisch angehauchte Goethe (Wolfgang Benz). Salzborn dürfte als Moderator der inquisitorischen Straßenumbenennungen die Schuld für die Risches tragen, die sich die offizielle Judenheit als kollektiven Erfolg zu eigen macht.
Wenn man den Weg der deutschen Politik pessimistisch als abschüssig sieht, dann wiegt eine prinzipielle Mitwirkung im Namen von einem halben Prozent der Bevölkerung schwer genug, dass man bei Juden an deren „kollektive Unschuld“ (Salzborn) glauben möchte. Nahum Goldmann räumt auch ein, dass die Juden „nicht nur die Opfer gewesen seien“.
Leon Poliakov beschreibt die jüdische Geschichte wie eine des Antisemitismus bzw. umgekehrt. Man kann sich durchaus fragen, wer eigentlich in der Historie kein Antisemit war. Waren etwa die katholischen Könige 1492 Antisemiten? Indirekt vielleicht, aber nicht wirklich, denn sie verlangten vom jüdischdn Individuum nur die Taufe. Sie wurde anstandslos gewährt. Das jüdische Kollektiv als solches passte nicht in das neue Spanien. War Baruch Spinoza Antisemit oder war es eher die jüdische Gemeinde, die ihn bannte? Selbst Heinrich Graetz meint für das Judentum des 18. Jahrhunderts, dass es geistig völlig verkommen war, und dass es rein geistig gesehen die Rolle kindischer Greise spielte. Graetz ein Antisemit? Nach Salzborn vielleicht doch. Die Durchforstung des deutschen Waldes nach antisemitischen Baumleichen erlaubt, mit den Maßstäben von Heinrich Graetz auch für unsere Zeit der amtlich inszenierten Judenschaft das Charakteristikum „kindische Greise“ zuzuordnen.Sie leben von der Versimpelung der Vergangenheit. Selbst Simon Dubnov berichtet, dass, während die einen Juden unter Chmielnikow litten, andere in Amsterdam prosperierten und den Flüchtlingen massiv helfen konnten.
Anti-Israelismus in Indonesien motiviert deutsche Politiker, umso eindeutiger für Israel Partei zu ergreifen. Was können die Indonesier gegen Juden haben? Nach Sigmund Freud könnte der indonesische Anti-Israelismus auch nur ein auf Israel sublimierter Hass auf die westliche Welt sein. Es gehört nicht zu den jüdischen Tugenden, Ereignisse zu hinterfragen. Warum gab es im moslemischen Granada 1066 das erste große Massaker an Juden in Europa? Warum massakrierte der Pöbel die Juden von Grenada, mit denen er 300 Jahre ausgekommen war? Das wird nicht überlegt. Waren Massaker vielleicht das ganze Mittelalter hindurch etwas gewöhnliches? Wenn „ja“, warum erwähnt man dann die Massaker an Juden überhaupt, wenn „“nein“, dann wäre es doch interessant zu studieren, warum sie nach so langer Zeit ausbrechen.
Die berühmtesten sonstigen Massaker waren die Sizilianische Vesper, der alle Franzosen in Sizilien zum Opfer fielen, und die Jacquerie, die Massaker am grundbesitzenden Adel während des 100-jährigen Krieges. Hier erkennt man den Zusammenhang zwischen Ursache und Folge. Den Sizilianern war die angegovinische Herrschaft von Anfang an verhasst. Bei den Judenmassakern erkennt man den Grund nicht. Vielleicht wehrte sich das niedere Volk gegen ausbeuterische Herrschaft von wirtschaftlich überlegenen Gruppen? Bei Michael Brenner gilt „der Neid“ als Motiv: kollektive Unschuld der Betroffenen? Etwas billig.
Wenn man die Rolle der Juden und des Antisemitismus für unsere Zeit untersuchen will, muss man auch wissen, was „unsere Zeit“ sein soll und wann „unsere Zeit“ etwa beginnt. Wir lesen heute noch Goethe und Schiller, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geboren wurden. Die politischen Grenzen in Europa wurden 1815 auf dem Wiener Kongress gezogen. Die politischen Ideen von heute haben in Rousseau und Montesquieu ihre Väter. Man kann also sagen, auch die judische Geschichte unserer Zeit beginnt mit dem 19. Jahrhundert neu. Es ist also heute völlig gleichgültig, wenn Martin Luther „die Juden“ verteufelte, weil sie als Vater von Jesus den griechischen Söldner Panteras annahmen (toledot Jeshu). Wenn die Ukrainer 1648 die Juden niedermetzelten, spielt das heute auch keine Rolle mehr, nachdem sie einen Juden zum Präsidenten gewählt haben. Das Chmielnikow-Denkmal steht trotzdem. Was Leute wie Salzborn verkennen: Chmielnikow steht für den Willen zur Freiheit, die damals niedergetzelten Juden hatten in „kollektiver Unschuld“ mit der polnischen Slachta Arrendaverträge geschlossen und sich Schlüsselpositionen im Wirtschaftsleben zur Ausbeutung der Ukrainer gesichert.
2.
Schon um 1820 gab es in Deutschland „für unsere Zeit“ die ersten Judenkrawalle, bekannt als Hep Hep Bewegung. Heinrich Graetz tut sie als idiotisch ab, und Michael Brenner hinterfragt sie in seiner deutsch-jüdischen Geschichte nicht weiter. Die Krawalle fanden aber ihre Fortsetzung in der Revolution von 1848 in Baden. Speziell im Odenwald, wo den Bauern noch viele überkommene Fron-, Hand- und Spannpflichten bei mediatisierten Fürsten oblagen, hatten Juden den Bauern Gelder vorgestreckt, um solche Pflichten abzulösen und Abgaben entrichten zu können. Damit scheint es, die Juden hätten den Bauern geholfen, aber in Wirklichkeit und bei „wirtschaftlicher Betrachtungsweise“ hatten Juden ein anachronistisches Regime über die Bauern gefüttert. Die Bauern, die scheinbar diese Abgaben dank jüdischer Kredite entrichten konnten, gerieten mit den Kreditverpflichtungen gegenüber Juden in eine Not, in die sie mit der Abgabenschuld nicht hätten kommen können. Die jüdischen Geld- und Pfandleiher hatten sich zwischen die feindlichen Klassen geschoben und dafür in der Revolution die Prügel eingesteckt. Im französischen Elsass bestanden noch ähnlich konservierte Verhältnisse wie auf deutscher Rheinseite, und so beschwerten sich die elsässischen Bauern bei der Nationalversammlung in Paris „antisemitisch“. Während des Revolutionsjahres gab es in Randegg und Gailingen, in zwei badischen Bauerndörfern, wo der jüdische Bevölkerungsanteil 30% bzw 50% betrug, Plünderungen. Beide Ortschaften gehörten vor Napoleon zur österreichischen Herrschaft Nellenburg, die nach den Verlusten durch den 30-jährigen Krieg gerne aus den schwäbischen Reichsstädten verbannte Juden aufnahm. Michael Brenner hinterfragt die Motive der Plünderer von 1848 nicht. Interessant wäre es zu erfahren, warum 200 Jahre Zusammenleben auf enger Flur zu Abneigung und nicht zu Toleranz führten. Selbst für Brenner wird alles auf wirtschaftlichen Neid geschoben. Das ist sehr trivial.
Untersucht man das Judentum und nimmt Kritiken wie die eines Heinrich v. Treitschke im Kern ein bisschen ernst, dann muss man einräumen, dass das deutsche Judentum laufend durch erzorthodoxes Judentum des Ostens ergänzt wurde. Wo Maskilim und aufgeklärte Juden sich abwandten oder taufen ließen, füllten Ostjuden die Lücken auf. Das Judentum blieb trotz der Umbrüche der Zeit durch biologischen Support konservativ. Ein Heinrich Heine, der sich hatte taufen lassen und doch nach Paris verzog, wandte sich dort – anders als die Amsterdamer Marranen – dem dortigen Judentum der gleichberechtigten Mitbürger nicht wieder zu. Die Reformjuden blieben in Deutschland in einer hoffnungslosen Minderheit, auch weil reformfavorisierte Juden sich einfacher ganz dem Streit durch Austritt entziehen konnten, als sich von Leuten konservativer Art beschimpfen zu lassen. Die Idee, den Sabbat auf den Sonntag zu verlegen, auch weil moderne Juden eher die Sonntagsruhe statt eine Samstagsruhe pflegten, war chancenlos. Selbst heute kann man erkennen, dass in sehr säkularisierten Zeiten sich ein jüdischer Zentralrat spießiger Nicht-Theologen ganz auf traditionellen Positionen verharrt. Flaschen mit den richtigen Etiketten, aber der Wein ist bereits ausgelaufen.
So kommt man zu dem Schluss, dass „die Juden“, soweit sie allgemein als solche wahrgenommen werden, nicht nur ihren eigenen, innerjüdischen Anachronismus verteidigen, sondern damit simultan auch den anachronistischen Tendenzen der Gemeingesellschaft Vorschub leisten: den Kirchen des Christianismus vorab, aber auch allem archaischen Vorstellungen, denen sie kollateraliter sekundieren. So entsteht der Eindruck, dass die echt religösen und formal religiösen Juden dem Fortschritt grundsätzlich im Wege stehen, was ein revolutionäres Vorgehen gegen sie legitimiert. So könnten die Massaker der Vergangenheit als modernisierende „Lokomotiven der Geschichte“ (Karl Marx) gedient haben. Aber, wie oben gesagt, wir gucken besser nicht über das Jahr 1815 hinaus zurück.
Paradoxerweise machten sich Juden auch als profilierte Revolutionäre unbeliebt. War das ein Widerspruch? Juden erscheinen als die Zugpferde des sozialen Fortschritts. Aber ist der Kommunismus ein sozialer Fortschritt? Das amerikanische Beispiel erlaubt es, „nein“ zu sagen. Die meisten dieser Revolutionäre kamen (oder entkamen) dem erzreaktionären russischen Machtbereich und glaubten, dass Deutschland reifer für die erhoffte proletarische Revolution sei. Sie fielen in Deutschland ebenso paradox reaktionären Militärs zum Opfer (Rosa Luxemburg durch Walter Pabst, Kurt Eisner durch Anton Graf Arco). Walter Rathenau wurde ermordet, weil man ihn verdächtigte, Deutschand an die Sowjetunion anschließen zu wollen. Letztlich waren aber deren „linke“ Ideen auch nur retardierend. Die Kommunisten industrialisierten auf brutale Weise das agrarische Russland, führten dort aber auch nur einen Staatskapitalismus merkantilistischer Prägung ein, vergleichbar mit dem von Colbert zu Zeiten des Sonnenkönigs. Wirklich modern war immer nur Amerika mit seinem Liberalismus und seinen Juden dort, die alles andere als reaktionär sind. Heute erkennt man, dass der Kommunismus eine Klasse „reicher Russen“, so genannter Oligarcher hervorgebracht hat, nichts anderes als die Plutokraten westeuropäischer Provenienz, die durch Kolinialismus reich wurden.
3.
Facit: das Judentum als kollektiv unschuldiger Anachronismus mit seinen teils vorsintflutlichen biblischen Sagen und Fabeln, teils mit spätantiken Rechtsvorstellungen wirkt für alle Welt retardierend. Schon in der Antike kam es mit dem Fortschritt der Zeit in Konflikt. Die Juden erhoben sich gegen das durchaus liberale Rom, das damals auch Syrien und Ägypten beherrschte. Die Ägypter und Syrer leben heute noch in Syrien und Ägypten. Shlomo Sand glaubt sogar, dass die Palästinenser, die schon 1880 in Palästina lebten, die alten Juden sein müssten. Jedenfalls wanderten nach den Niederlagen des Bar Kochba und seines Rabbis Akiba (des alten Gauchs nach Luther) die konservativen Juden nach Babylon (Pumbedita) ab. Andere verdünnten sich über das Mittelmeer hinweg. Es dürften auch viele Juden in Judaea und Galilaea geblieben sein, die mit den Römern auskamen.
Zu unseren Zeiten kann man sagen, dass diejenigen, die modern und fortschrittlich dachten, um die Jahrhundertwende von Europa nach den USA emigrierten, die Konservativen die imperiale Zeit nutzend nach Israel als kolonisierende Zionisten gingen, um ihren Judenstaat nach Tora und Halacha zu gründen..
Heute ist diese Staatsgründung wieder ein zerrissenes Land analog den Beschreibungen von Peter Beer. Auch in Israel kann der Fortschritt nicht völlig abgewürgt werden. Mosche Dayan soll Atheist gewesen sein. Bücher ohne Ende werden geschrieben, vom geteilten Israeli, der seine Nachbarn hassen müsse, über die Israellobby, die Holocaust-Industrie, Häßlichkeiten ohne Ende, die nur gegenseitige Empörung hervorrufen. Ajelet Shaket, die Faschistin, erscheint modern im Vergleich zu den „Neonazi-Ministern“ (Ayelet Shani) des religiös geprägten Lagers. Steht das heutige Israel vor einer neuen Teilung in einen Staat Juda und ein Nordreich Israel? Das neue Juda dürfte dann mit Jerusalem wieder auf der Basis ideologischer Rückständigkeit wie ein Kirchen- oder Ordensstaat den wahren jüdischen Staat bilden. Die Siedler auf der Westbank haben das durchaus drauf.
Herr Salzborn, wie erklärt man „kollektive Unschuld“ an den Massakern an Arabern?
Könnte Juda in Galiläa und Judaea die legitime Staatlichkeit der konservativen Juden und der jüdischen Gegner allen Fortschritts bilden? Das ist eine Frage, die man sich in Israel stellen sollte. Israel selbst hat inzwischen das klassische Judenproblem.
von Lobenstein