von Clemens Messerschmid
Sehr geehrter Herr OB Köhler,
Sie kennen mich nicht, ich Sie nicht.
Zu meiner Person: Ich bin von Beruf Hydrogeologe und seit über 20 Jahren wohnhaft in Ramallah und dort in den besetzten Gebieten der West Bank in deutschen und internationalen Wasserprojekten tätig (und gegenwärtig auch mit Ihrer Uni im Rahmen meiner Doktorarbeit verbunden).
Ich kenne einige der in Deutschland lebenden deutschen und israelischen Mitglieder der Jüdischen Stimme seit Jahren persönlich. Vor allem kenne ich jedoch vor Ort, in Israel, die leider kleine, aufs Engste mit der Jüdischen Stimme verbundene Gruppe aufrechter Aktivisten gegen die Besatzung und Advokaten eines tatsächlich gerechten Friedens. Sie zählen, wie Sie vielleicht wissen, zu einer zunehmend angegriffenen und immer weiter ausgegrenzten Minderheit in Israel, v.a. unter der Rechts- und Siedlerregierung Benyamin Netanyahus. Es gehören leider zunehmend Mut und Zivilcourage sowie tiefe rechtspolitische Überzeugungen und Ausdauer dazu, in dieser gegenwärtigen Phase rasanten Rechtsrucks in Israel, weiterhin das Fähnlein einer echten Aussöhnung mit den Palästinensern und einer Beendigung der schwerwiegenden und mannigfaltigen Unterdrückungs-formen durch Israels Regierung, Militärrichter und Militäradministration hochzuhalten.
Die israelischen Mitglieder der Jüdischen Stimme nehmen diese Anfeindungen durch Siedler und andere israelische Besatzungsfanatiker klaglos auf sich. Wirklich unerträglich finden sie hingegen, wenn sich deutsche zivilgesellschaftliche und Regierungsstellen an der Kampagne zur Vertiefung und Unumkehrbarmachung der Besatzung auch noch aktiv beteiligen – insbesondere unter dem infamen Vorwurf des Antisemitismus, und ausgerechnet aus dem Land der Täter, und ausgerechnet an die Adresse genau der jüdischen Streiterinnen, die den Buchenwaldschwur Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! begriffen haben, beherzigen und heute aktiv leben. Nichts weniger tut die Jüdische Stimme, die vor vielen Jahren gegründet wurde, mit dem einzigen Zweck um ihr Scherflein dazu beizutragen, der unerträglichen Besatzung ein rasches und wohlverdientes Ende zu setzen. Alle meine politisch aktiven israelischen Freunde beteuern mir gegenüber und sehen mit größter Sorge die fortschreitende Delegitimierung von Besatzungsgegnern in Deutschland, und sie betrachten diese als Angriff auf ihre ureigensten Bemühungen in Israel!
Ich kenne und wertschätze die European Jews for a Just Peace für genau jene erfrischend klare und laute, aber nicht heisere, sondern tonsichere und vor allem unverfälschte, unverdruckste Stimme und Sprache, wie sie in der Erwiderung an die Helden der Stadtrats-FDP zum Ausdruck kommt.
Frau Oldenburg möchte, zusammen mit nicht wenigen ihrer FDP-Parteifreunde der israelischen Besatzung den Rücken freihalten. Die Jüdische Stimme möchte das glatte Gegenteil. Der Konflikt zwischen beiden ist kein Missverständnis, sondern folgerichtig. Aber es gibt hier keinen neutralen Mittelweg, genauso wenig wie seinerzeit beim Gefangenen Nr. 466/64 auf Robben Island, Nelson Mandela.
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, Sie werden durch polemische Hetzer wie die mir weiter nicht bekannte FDP-Stadtratsfrau Oldenburg unter Druck gesetzt – das ist mir völlig klar. Und klar ist mir sehr wohl auch, dass (nicht nur für einen Politiker) allein der Gedanke, in die Nähe einer Duldung und Tolerierung von Antisemitismus, dieser Geisel des 20 Jahrhunderts, gerückt zu werden, unerträglich ist. Für Sie persönlich unerträglich, und malen Sie sich nur aus, wie es den Mitgliedern der Jüdischen Stimme damit geht! Umso wichtiger ist daher, dass Sie eine klare, gut sichtbare und vor allem eindeutige Entscheidung treffen. Sie darin zu bestärken ist Absicht und Anliegen dieses Briefes.
Sie werden in den letzten Tagen viele Argumente pro und kontra ungefragt zugesandt bekommen haben. Erlauben Sie mir daher, nur ein einziges Argument aus meiner eigenen Anschauung vor Ort in Palästina und Israel hinzuzufügen. Lassen sie die wenigen übrigen und mutigen Streiterinnen gegen Besatzung und für Gerechtigkeit in Israel nicht im Stich!
Bedenken Sie für einen Augenblick die Alternative:
Wenn diesen wirklich letzten in Israel verbliebenen ehrlichen Partnern der besetzten Palästinenserinnen nun auch noch international die Legitimität abgesprochen und das Maul gestopft wird: Wer, bitteschön, bleibt dann überhaupt noch auf jüdischer, israelischer Seite übrig, um für Gerechtigkeit, für einen gerechten Frieden die Stimme zu erheben? (Und umgekehrt, sozusagen aus palästinensischer Sicht bedeutet das: Mit wem in Israel soll denn bitteschön Frieden geschlossen werden, wenn nicht mit genau solchen Menschen wie den Vertreterinnen der Jüdischen Stimme?!)
Wollen Sie als Oberbürgermeister der Stadt Göttingen wirklich dereinst von sich sagen müssen, sie hätten zum Verstummen dieser letzten Stimme beigetragen?
Ich weiß, ich habe leicht reden und Rat aus der Ferne ist wohlfeil, aber ich schreibe Ihnen trotzdem dieses: Es bleibt Ihnen aus meiner Überzeugung gar nichts anderes übrig, als den infamen Verleumdungen gegen die Jüdische Stimme energisch und eindeutig entgegenzutreten und im Gegenteil voll Stolz herauszukehren, dass sich die Stadt Göttingen geehrt fühlen darf, diesen Gerechten einen wohlverdienten Preis zukommen zu lassen.
Ich wünsche Ihnen (und uns) den Mut und die Kraft, diese einzig richtige, langfristig tragbare Entscheidung zu treffen.
Bravo, lieber Herr Messerschmidt! Ihr Schreiben an OB Köhler, der angesichts des massiven Drucks der Antisemitismus-Keulen-Schwinger-Mafia „kalte Füße“ bekommen zu haben scheint.
Hier ist genau das Problem angerissen: die „Antisemitismuskeule“ wird geschwungen, weil denHerren Kolonialisten das Rückgrat fehlt, zu ihren Kolonialismus zu stehen. Warum sagen sie nicht: „ja, wir wollen ein fortschrittliches Land ohne arabische Ziegenhüter, einen modernen Staat wie Amerika, keine Kameltreiberwirtschaft, wir wollen ein kleines Europa im Nahen Osten. Sollen doch die Pazifisten aufheulen. Israel ist stark genug, den letzten arabischen Widerstand zu brechen, es ist aber nicht mächtig genug, den „neuen“ Antisemitismus zu entschärfen, der in Europa aufkeimt, weil die Abneigung der Pazifisten gegen Israel auf die friedlichen Juden in Westeuropa sublimiert wird. Wie schon Jesus sagte: sei kalt oder heiß, aber nicht lauwarm, Dein Wort sei Ja oder Nein, aber keine Summierung von Ausflüchten, die nicht überzeugen können.
Danke, Clemens Messerschmidt, für Ihr menschenfreundliches Engagement.
Erfreulich die Unterstützung, welche die ‚Jüdische Stimme‘ erfährt:
http://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/Goettinger-Friedenspreis-Eine-Welle-der-Unterstuetzung-fuer-kritisierten-Preistraeger