DIESER KRIEG BEGANN NICHT VOR EINEM MONAT

von Dalia Hatuqa

Dalia Hatuqa ist eine unabhängige Journalistin, die sich auf Palästina und Israel spezialisiert hat. Diesen Artikel hat sie in Ramalllah, Westjordanland, geschrieben.

Seit einem Monat ist das normale Leben in Ramallah – einer Stadt im Westjordanland, die normalerweise für ihre junge Bevölkerung und ihr pulsierendes Nachtleben bekannt ist – zum Stillstand gekommen.
Seit den tödlichen Angriffen der Hamas am 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte zahlreiche Razzien im Westjordanland durchgeführt und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten verhaftet: Studenten, Aktivisten, Journalisten und sogar Personen, die im Internet zur Unterstützung des Gazastreifens posten. Luft- und Drohnenangriffe haben Häuser und Straßen zerstört, zahlreiche Flüchtlingslager ins Visier genommen und die Al-Ansar-Moschee fast dem Erdboden gleichgemacht. Letzten Monat zerstörten die israelischen Streitkräfte die Gedenkstätte für die Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh an der Stelle, an der sie vor mehr als einem Jahr bei einer Reportage getötet wurde.

In der Zwischenzeit hat ein Siedlungsrat Hunderte von Sturmgewehren an zivile Gruppen in Siedlungen im nördlichen Westjordanland verteilt. Dies ist Teil einer größeren Anstrengung des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, der selbst ein Siedler ist, zivile Gruppen nach den Anschlägen vom 7. Oktober zu bewaffnen. Bislang hat das Ministerium 10.000 Sturmgewehre für solche Teams im ganzen Land gekauft. Dies ist Teil der eskalierenden Gewalt, die seit dem 7. Oktober mehr als 130 Palästinenser im Westjordanland getötet hat.
Für die Palästinenser ist diese Art von systematischer Gewalt nichts Neues.
Für viele innerhalb und außerhalb dieses Krieges war die Brutalität der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einem ständigen Strom unvorstellbarer Gewalt ausgesetzt – ebenso wie der schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler.

Wenn die Menschen diesen jüngsten Konflikt verstehen und einen Weg in die Zukunft für alle sehen wollen, müssen wir ehrlicher, nuancierter und umfassender über die jüngsten Jahrzehnte der Geschichte in Gaza, Israel und dem Westjordanland sprechen, insbesondere über die Auswirkungen von Besatzung und Gewalt auf die Palästinenser. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in Wochen gemessen; es handelt sich nicht um einen einzigen Krieg, sondern um ein Kontinuum von Zerstörung, Rache und Trauma.
Seit der Nakba von 1948 – bei der ganze palästinensische Dörfer von der Landkarte getilgt und der moderne Staat Israel gegründet wurde – haben die Palästinenser eine Unterdrückung erduldet, die ihr tägliches Leben bestimmt hat. Seit Jahrzehnten leiden wir unter der militärischen Besatzung Israels sowie unter einer Reihe von tödlichen Invasionen und Kriegen. Die Kriege von 1967 und 1973 haben dazu beigetragen, die moderne Geografie und Geopolitik des Gebiets zu formen, in dem Millionen von weitgehend staatenlosen Palästinensern zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufgeteilt sind. Im Gazastreifen, der oft als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt, das Gebiet zu betreten oder zu verlassen, es sei denn, dies geschieht unter äußerst seltenen Umständen.

Diese Geschichte wurde in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Die Wahrheit ist, dass die Palästinenser selbst in Zeiten relativen Friedens in Israel Bürger zweiter Klasse sind – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden. Nach israelischem Recht haben Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das jüdischen Bürgern des Staates vorbehalten ist. Eine Vielzahl von Gesetzen schränkt das Recht der Palästinenser auf Freizügigkeit ein und regelt alles, von der Frage, wo sie wohnen dürfen, über die Frage, welche persönlichen Ausweise sie führen dürfen, bis hin zu der Frage, ob sie Familienangehörige in anderen Ländern besuchen dürfen oder nicht.
Das „Rückkehrrecht“ – das Recht der Palästinenser und ihrer Nachkommen, in die Dörfer zurückzukehren, aus denen sie während des Krieges von 1948 ethnisch gesäubert wurden – ist für viele Palästinenser von zentraler Bedeutung, da so viele von ihnen rechtlich gesehen immer noch Flüchtlinge sind. Im Gazastreifen zum Beispiel sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge. Dieser Status ist keine abstrakte Größe, sondern bestimmt alles, vom Wohnort bis hin zu den Schulen und Ärzten, die sie besuchen.
Viele Bewohner des Gazastreifens haben Eltern und Großeltern, die nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt aufgewachsen sind, an dem sie jetzt leben, in Gebieten, die sie natürlich nicht mehr betreten dürfen. Sie erinnern sich noch gut an ihre Kindheit oder Jugend, als sie durch Zitrushaine in Yaffa oder Olivenfelder in Qumya spazierten – letzteres wurde, wie viele Dörfer, deren Bewohner während des Krieges von 1948 nach Gaza vertrieben wurden, später in einen Kibbuz umgewandelt.

In den letzten 75 Jahren gab es Zeiten, in denen die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern zunahm. Diesen Zeiten gingen jedoch in der Regel Zeiten verstärkter Konflikte voraus, wie die erste und zweite Intifada oder Volksaufstände. Die Intifadas, in denen die Palästinenser im Westjordanland in großem Stil Widerstand leisteten, mal zivil, mal gewaltsam, werden von den westlichen Medien oft als willkürliche oder wahllose Ausbrüche mörderischer Grausamkeit dargestellt – wie im Fall der Anschläge vom 7. Oktober. Diese Gewalttaten fanden jedoch nicht in einem Vakuum statt. Die schwierigen Bedingungen in den palästinensischen Gemeinden – einschließlich der immer strengeren Kontrolle des täglichen Lebens durch gewaltsame nächtliche Razzien, Verhaftungen, militärische Kontrollpunkte und den Bau illegaler israelischer Siedlungen – bildeten den Hintergrund für diese Ausbrüche. Leider scheinen diese Gewalttaten aus historischer Sicht das Einzige zu sein, was die Palästinenser politisch bewegt hat.
Der Tod und die Zerstörung, die wir Palästinenser kollektiv miterlebt und ertragen haben, haben unser Generationstrauma verlängert. Schon vor diesem Konflikt waren PTBS und Depressionen in den palästinensischen Haushalten weit verbreitet. Als junge Bevölkerung sind die Kinder die Hauptleidtragenden der israelischen Militärherrschaft: Viele werden nachts aus ihren Betten oder aus den Armen ihrer Mütter gerissen, geschlagen und inhaftiert, nachdem sie willkürlich vor Militärgerichte gestellt wurden. Andere werden erschossen und gelähmt, wenn nicht gar getötet.

In Gaza haben diese Opfer praktisch keine rechtliche Möglichkeit, sich an den israelischen Staat zu wenden. Während der 16-jährigen Belagerung des Gazastreifens haben die israelischen Behörden den Zugang zu Elektrizität, Lebensmitteln und Wasser kontrolliert und zu einem bestimmten Zeitpunkt die Anzahl der Kalorien festgelegt, die die Bewohner des Gazastreifens zu sich nehmen durften, bevor sie in die Unterernährung rutschten. Sie haben auch zugelassen, dass der Gazastreifen und die besetzten Gebiete als Testgelände für Israels gepriesene Sicherheitstechnologiefirmen dienen. Viele Menschen aus dem Gazastreifen haben die gefährliche Reise über das Mittelmeer gewagt, nur um auf dem Weg dorthin zu sterben.
Da der Gazastreifen seit 16 Jahren abgeriegelt ist und das Westjordanland durch die Gewalt der Siedler und der Armee weitgehend unter Kontrolle gehalten wird, konnte Israel seine Besetzung auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten. Die periodischen Gewaltausbrüche – wie gelegentliche Angriffe kleiner Gruppen oder Einzelkämpfer und Raketenbeschuss – untermauern die Rechtfertigung des Staates für die langfristige Kontrolle der Palästinenser und des palästinensischen Landes.

Im Laufe der Jahre haben Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Berater sehr deutlich gemacht, dass ein separater, souveräner palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt. Ebenso wenig wie die Möglichkeit, den Palästinensern die Rechte einzuräumen, die Israelis genießen. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich also normalisiert, und die internationale Gemeinschaft scheint nicht willens oder in der Lage zu sein, die israelische Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben diesen Zustand durchbrochen. Die Unhaltbarkeit der Besatzung wurde für alle sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit, zwei Völker zu regieren, ohne eines von ihnen gegenüber dem anderen zu privilegieren.

Es liegen dunkle Zeiten vor uns – so viel wissen wir. Da wir Kriege, Invasionen und Bombardierungen miterlebt haben, haben wir uns auf das Schlimmste eingestellt. Im Westjordanland ist die Moral auf den ruhigen Straßen niedrig. Arabische Satellitennachrichtensender, die rund um die Uhr senden, untermalen das tägliche Leben mit einer dröhnenden, allgegenwärtigen Geräuschkulisse. Sie zeigen einen ständigen Strom schrecklicher Bilder und Videos: alle schockierend, aber nicht beispiellos.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit durchdringt die Städte und Dörfer des Westjordanlandes, während wir zusehen, wie immer mehr palästinensische Mitbürger – nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen inzwischen mehr als 11.100 – ihr Leben verlieren. Israelische Beamte haben vorgeschlagen, die Bevölkerung des Gazastreifens in die ägyptische Sinai-Wüste zu drängen, was sie doppelt und dreifach zu Flüchtlingen machen und das israelische Siedlerprojekt vielleicht in eine neue, noch expansivere Phase führen würde. Im Westjordanland schauen wir uns um und fragen uns: Könnte das auch hier passieren? Passiert es bereits?

Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist höchstwahrscheinlich noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Aber das wussten die Palästinenser bereits. Galt der Tag vor den Angriffen der Hamas als „Frieden“? Für die Israelis vielleicht schon, für die Palästinenser aber nicht.

(Geöffneter) Brief an Markus Lanz und Dr. Himmler Von Abi Melzer

Sehr geehrter Herr Markus Lanz,
sehr geehrter Herr Dr. Norbert Himmler

ich bin immer ein Fan von Markus Lanz´ Talkshows gewesen. Ich fand auch Genugtuung, dass Sie für die Sendung vom 15.11.2023 eine Person wie Frau Khala Maryam Hübsch eingeladen haben, die ich seit Jahren kenne. Ich war mit ihrem Vater befreundet., und ich schätze sie für ihre Klugheit und Besonnenheit. Auch die Teilnahme von Yazan Abo Rhamie war ein Gewinn, auch wenn er zu wichtigen politischen Fragen keine gleichgewichtigen Argumente zu Frau Hübsch vortragen konnte.
In Ihrer ersten Sendung nach dem 7.10. saß Melony Sucharewicz an Ihrem Table. Sie versuchte, ohne auf irgendeinen Widerspruch zu stoßen, die deutsche Öffentlichkeit auf erwartete Kriegsverbrechen im entstehenden Gaza-Krieg einzuschwören. Sie forderte zur Einschränkung der Meinungsfreiheit auf. Demonstrationen gegen „Zionismus“ sollen nicht mehr gestattet werden. Wahrheitswidrig behauptete sie, die Hamas habe angedroht, auf Bombardierung von Häusern mit der Tötung von entführten israelischen Zivilisten zu antworten. Die Hamas hatte solches für den Fall angekündigte, wenn Häuser ohne Vorwarnung bombardiert werden würden.
In der Folge gab es eine Sendung mit Michael Wolffsohn, der unwidersprochen sagen konnte, die Palästinenser hätten „auf dem Silbertablett präsentierte Friedenslösungen immer wieder abgelehnt“ usw. Sie, Herr Lanz und Herr Himmler, saßen da wie ein Schuljunge im Frontalunterricht. In Wirklichkeit hat Israel jede Chance vorrübergehen lassen, die zu einem Frieden hätte führen können.
Verglichen mit den beiden Sendungen war die gestrige ein Fortschritt, obwohl Frau Hübsch leider nicht hart genug gegen Ihre feindselige Art der Moderation opponierte. Ich greife als Beispiel die Diskussion zum Begriff „Apartheid“ auf: Natürlich besteht im traditionellen Staatsgebiet Israels keine Apartheid. Trotzdem lässt es sich nicht verschleiern, dass die palästinensischen Staatsangehörigen auf allen Gebieten benachteiligt sind. Frau Hübsch sprach aber von den sog. „Besetzten Gebieten“, in denen für die indigene Bevölkerung Militärrecht gilt, aber israelisches Recht für die Juden der Siedlungen wie im israelischen Kernland. Sie meinte auch, dass es in diesen besetzten Gebieten getrennte Straßen für Juden und Palästinenser gäbe und vieles mehr. Diesen Zustand bezeichnen viele Organisationen und Experten als Apartheid. Ihre Aufregung, Herr Lanz, war nutzlos und unnötig.
In letzter Zeit empfinde ich die Art und Weise, wie Sie ihre Gäste befragen, wie Sie sie regelrecht attackieren, beleidigen und diskreditieren, als sehr befremdet und zuweilen als unerträglich.
Gerade die Sendung vom 15.11.2023 fand ich als ausgesprochen skandalös. Wir als Zuhörer wollen schließlich die Meinungen der Gäste erfahren, auch wenn diese zwischen langweilig und empörend oszillieren. Wir möchten aber nicht lange und aggressive Einschübe von Herrn Lanz anhören und zusehen müssen, wie er seine Gäste kränkt und herabsetzt. Die Art und Weise, wie er gestern z. B. Frau Khala Maryam Hübsch angegriffen hat, war kaum auszuhalten. Dabei war sie die Einzige, die zur Sache vernünftige Ansichten hatte, zusammen mit dem jungen Palästinenser Yazan Abo Rahmie.
Sie dürfen doch nicht Frau Hübsch derart aggressiv und besserwisserisch fragen, ob sie schon mal in Gaza gewesen sei. Das hätte doch über ihre Qualität und zur Richtigkeit Ihrer Meinung nichts ausgesagt. Niemand braucht in Gaza gewesen zu sein, um zu wissen, was dort derzeit abläuft. Die Medien berichten hierzu überaus anschaulich. Unsere Massenmedien halten uns minütlich und beinahe jede Sekunde auf dem Laufenden. Es ist auch nicht von elementarer Bedeutung, ob „nur“ 9000, 10000 oder 11000 Menschen von der israelischen Armee getötet wurden. Warum bestanden Sie so hartnäckig darauf, dass man den Zahlen der Hamas nicht vertrauen könne, so dass man zuweilen den Eindruck bekam, Sie stünden im Sold der israelischen „Hasbara“. Dabei hatten uns die früheren Gaza-Kriege, die auch nur Kriege in Anführungszeichen, in Wirklichkeit jedoch brutale Strafaktionen Israels waren, schon gezeigt, dass die Zahlen der Hamas stets mehr oder weniger mit den Zahlen der UNO oder anderer Organisationen übereingestimmt haben. Sie haben den Eindruck erweckt, dass Frau Hübsch leichtgläubig die Zahlen der Hamas wiedergäbe. Hat es denn überhaupt eine Bedeutung ob 5000 Kinder getötet wurden oder „nur“ 3000? Und als Höhepunkt der Arroganz und Beleidigung haben Sie noch behauptet, dass Sie in Gaza waren. Damit wollten Sie den Eindruck erwecken, dass Sie es besser wüssten. Da möchte ich von Ihnen erfahren: Wie lange? Wie viele Tage oder besser wie viele Stunden? Und, weil Sie mal als Reporter durch Gaza gefahren sind, wollen Sie glauben, dass Sie besser wissen, was in Gaza los ist?
Ich war vor 40 Jahren auch in Gaza, als man noch unbefangen und furchtlos durch Gaza fahren konnte. Dennoch würde ich nicht behaupten, Gaza zu kennen. Sie sollten Ihre persönlichen Eindrücke bescheidener ausschlachten und nicht den Eindruck erwecken, dass man Gaza mit seiner Struktur und seinen Flüchtlingslagern nach einem Tagestrip kennen würde.
Frau Hübsch hat absolut zu Recht die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangt. Das müsste jedem halbwegs vernünftigen Menschen einleuchten. Ganz besonders müssten sich die Freunde Israels dieser Forderung anschließen. Ich halte es deshalb für unaufrichtig und zynisch, wenn unsere Politiker behaupten, dass sie Freunde Israels seien und gleichzeitig die Israelis ermuntern, den Krieg mit der Tötung von Kindern fortzuführen. Fühlen sich die Deutschen dann weniger schuldig, wenn sie Juden verführt haben, in der Panik eines Krieges Frauen und Kinder getötet zu haben?
Die Freunde Israels stimmen einer gefährlichen militärischen Doktrin zu, die unverzeihliche Fakten schafft, die einem irgendwann gewollten Frieden im Wege stehen werden. Frieden schließen nicht Freunde. Frieden müssen Feinde machen. Aber das sinnlose Töten von Zivilisten kann doch nur immer neue Feinde und immer neue „Terroristen“ hervorbringen. Das zeigen uns die Kriege seit 1948 wieder und wieder sehr anschaulich. Die Kinder von heute, die zusehen müssen, wie ihre Familien „ermordet“ werden, müssen geradezu die „Freiheitskämpfer“ von morgen sein wollen. Sie werden von Generation zu Generation radikaler, brutaler und unversöhnlicher. Unverständlich? Wenn man Menschen keine Hoffnung lässt, wenn sie als Kinder schon wissen, wie ihr elendes Leben ablaufen wird, dann soll und darf man sich nicht wundern, wenn aus ihnen „Freiheitskämpfer“ werden. Mögen sie von Israel und von den meisten westlichen Staaten als Terroristen bezeichnet werden, es ändert nichts. Sie sind genauso wenig Terroristen wie es die Kämpfer des Vietcongs waren, die ebenfalls für ihre Freiheit kämpften.
Leider wird in unserer Gesellschaft zu ungenau, leichtsinnig und falsch mit den Begriffen „Terrorist“ oder „Antisemit“ umgegangen. Für mich war der Überfall vom 11. September 2001 ein Terrorakt. Es wurden Menschen ermordet, die mit dem, was die Terroristen bekämpfen wollten, nichts zu tun hatten. So war es auch mit vielen anderen Anschlägen, die unschuldige Zivilisten getroffen haben. Im Nahost-Konflikt handelt es sich immer eine Stufe weniger um Terror, weil die Gewalt zum Dauerzustand geworden ist. Von Antisemitismus lässt sich im Nah-Ost-Konflikt auch nicht sprechen. Es ist kein religiöser Konflikt, in dem fanatisierte Gläubige sich gegenseitig ermorden. Es ist zum einen ein Konflikt um Land, zum anderen ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit. Wenn die Methoden der Hamas den Israelis und der ganzen Welt missfallen, was absolut gesehen verständlich und berechtigt ist, dann sollte man aber auch berücksichtigen, dass eine brutale Gewalt der israelischen Armee die Brutalität der anderen Seite mitsteigern lässt. Eine schutzlose Bevölkerung mit 1000 Kg Bomben zu attackieren und ungezielt zu töten muss immer neue Kampfmethoden provozieren. Und das geschieht nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon seit ewigen Zeiten, mindestens aber seit dem Vertreibungskrieg von 1948. Es muss auch langsam Schluss sein mit dem manipulierenden Geschwätz über Antisemitismus. Die Palästinenser sind keine Antisemiten. Sie kämpfen nicht gegen „Juden“, sondern gegen eine Gesellschaft, die sie vertrieben, und die ihnen bitteres Unrecht zugefügt hat. Diese Menschen würden um ihr Recht und um ihre Menschwürde genauso kämpfen, wenn die Israelis keine Juden wären. Sie haben auch schon gegen die Türken gekämpft, gegen die Briten und in früheren Zeiten gegen die Kreuzritter. Wenn man noch tiefer in die Geschichte zurückbohren möchte, dann haben sie schon gegen die Griechen, Römer und andere Eroberer gekämpft. Sie kämpfen also nur in unserer Zeit gegen Juden, die für sie aber ihre israelischen Feinde sind. Der Konflikt kommt doch nicht aus dem Nichts. Der Konflikt findet nicht, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich wünschte die Talkshows beim ZDF würden alle Seiten zu Wort kommen lassen. Statt einer türkisch-deutschen CDU-Politikerin, die Israel mit einer Leidenschaft verteidigt, dass es mir als Israeli und Jude schon peinlich wurde, könnte man vielleicht einen echten Israeli einladen, der sein Land verteidigt. Und man könnte vielleicht auch deutsche Juden einladen, die nicht „Juden in Deutschland“ sind, sondern eine kritische pro-israelische Meinung vertreten im Gegensatz zu den Wolffsohns, Broders, Knoblochs und Schusters. Ein solcher Jude hätte es nicht nötig, ein anti-antisemitisches Glaubensbekenntnis abzugeben. Oder haben Sie protestiert, als Charlotte Knobloch mich einen „berüchtigten Antisemiten“ nannte, nur weil ich eine andere Meinung zum Nahost-Konflikt habe.
Vielleicht werden Sie, wenn Sie beim ZDF genügend Mut aufbringen, einen Israeli einladen, der für das „andere“ Israel eintritt, welches seiner rechts-radikal orthodoxen Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu weniger vertraut. Es wäre für die Zuschauer interessant zu erfahren, dass es auch un-orthodoxe Israelis gibt, und wie sie denken.
Eine Alternative wäre es aber diese Sendung abzuschaffen oder einen anderen Moderator einzusetzen, der seine Gäste auch zu Wort kommen lässt. Ein Mensch mit derart deutlichen narzisstischen Zügen wie Markus Lanz ist die falsche Besetzung.

Abraham Melzer
Jüdischer Verleger und Publizist

Rede anlässlich der Kundgebung gegen Staatsterror in Frankfurt, 12.11.23

von Abraham Melzer

Vor mehr als 2500 Jahren predigte der Prophet Jeremias: „Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden.“ (Jeremias 6.14) An dieser Aussage hat sich nichts geändert. Sie ist so aktuell, als ob sie gestern gerufen wurde. Es gibt wohl keine Region auf der ganzen Welt in der mehr Kriege stattgefunden haben und offensichtlich immer noch stattfinden wie der Nahe-Osten bzw. die Region, die man Israel bzw. Palästina nennt.
Den letzten Kriegsausbruch nannte UN-Generalsekretär Guterres: Eine Krise der Menschheit. Aber ist es wirklich „eine Krise der Menschheit“? Welchen Chinesen interessiert das Drama? In vielen Ländern nimmt man den Konflikt als theoretische und verspätete Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus wahr.

Natürlich war die Tat der Hamas bestialisch, unmenschlich und nicht akzeptabel. Ich bin der letzte, der das in Frage stellen würde. Aber es gibt ein „aber“. War die Tat nur deswegen bestialisch, unmenschlich und inakzeptable, weil sie quasi von Hand vollbracht wurde, während man von Israel aus mit hochtechnischen Waffen viel mehr Menschen tötet? Oder weil sie an jüdischen Menschen begangen wurde, während die Palästinenser von den Israelis und ihren Freunden als „Tiere“ angesehen werden? Man sieht grundsätzlich nur das Leid der Juden, der unmittelbar betroffenen Menschen, von denen es Bild und Namen gibt. Man kann es nicht übersehen. Aber, und da kommt mein „aber“, man muss endlich auch das Leid der Palästinenser sehen . Auch sie erwarten Solidarität und Mitgefühl. Bei aller Verpflichtung zur Solidarität mit Israel schaffen es unsere Politiker nicht mal, einen Satz der Empathie für die Menschen in Gaza aufzubringen. Sie schweigen zur Abschlachtung von palästinensischen Zivilisten, Frauen und Kinder durch technische Distanzwaffen. Viele Menschen in Deutschland schockiert die Tat der Hamas, weil man die Leichen zählen kann. Die Leichen nach einem Raketenangriff der Israelis sind in ein Nichts verschwunden. Aber sie merken doch, dass die deutsche Regierung das Leid der Palästinenser geradezu ignoriert. Man hat den Palästinensern das Recht genommen, öffentlich zu trauern. Die Polizei hat sogar Kerzen entfernt, die an die Opfer erinnerten, selbst wenn sie die Toten der anderen Seite einschlossen.
Natürlich soll die Tat vom 7.Oktober von allen Menschen verurteilt werden. Warum wird das Abwerfen einer 1000 Kg Bombe auf ein Wohngebiet in Gaza und die „kollaterale“ Tötung von unzähligen Zivilisten, darunter Kinder, Säuglinge und alte Menschen, nicht als bestialisch und unmenschlich verurteilt? Für das Massaker am 7.10. wurde die Hamas diskreditiert. Für das Abwerfen eine 1000 Kg Bomber bekam der Pilot einen Verdienstorden. Der Befehl der Bombenattacke, aber erst recht der Verdienstorden diskreditiert die israelische Militärführung als bestialisch. Man soll nicht vergleichen, aber von den Vorkommnissen muss man eben wissen, bevor man die Palästinenser verurteilt. Es ist leider doch so, wie es Guterres gesagt hat: Die bestialische Tat der Hamas geschah nicht in einem luftleeren Raum. Sie hat eine Fortsetzungs-Vorgeschichte, für deren frühere Folgen sich die Weltgemeinschaft nie gekümmert hat. Kümmert sie sich inzwischen darum? Wie viele Staffeln soll diese Soap noch bekommen?

Sogar Palästinenser schweigen. Sie haben Angst, dass ihre Worte verdreht und als antisemitisch interpretiert werden, wie es laufend gemacht wird. Sie verzweifeln an der innerdeutschen Debatte, die sich an abstrakten Begriffen aufhält, während in Gaza Menschen verhungern und verdursten. Andere können ihren Angehörigen in Deutschland vermelden: „Wir leben noch“. „Noch“ (!); denn schon kann ein Bombardement am nächsten Tag kann sie schon töten.

Jüdische Opfer haben Namen und Gesichter. Palästinensische Opfer sind nur Zahlen ohne Gesicht und ohne Namen. Wenn Palästinenser sterben, sagen die Opfer in Gaza, gebe es niemanden, der ihren Tod herbeigeführt hat.

Ein Engagement für Menschenleben in Gaza ist nicht, kann nicht und darf nicht als antisemitisch diskreditiert werden. Es wäre eine zynische und perfide psychologische Manipulation mit dem Zweck, uns hier in Deutschland unseren moralischen Kompass verlieren zu lassen. Man will uns komplett aus dem Diskurs heraushaben. Dazu benutzt man die Angst in Deutschland, als Antisemit diffamiert und diskreditiert werden zu können.

Man nutzt gegen uns viele Worte und Begriffe aus einer abgeschlossenen Vergangenheit. Die Gegenwart im Nahen Osten ist eine andere. Wir brauchen neue Begriffe für die Situation und die aktuellen Ereignisse. 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler und Künstlerinnen, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, und Schriftsteller und Schriftstellerinnen haben einen Brief unterschrieben, in dem sie die Beendigung der grausamen und wirkungslosen Strafaktion fordern. Ich habe den Brief auch unterschrieben.

Der Angriff der Hamas hat auch Menschen getroffen, die sich für Frieden und eine Lösung des 100jährigen Konflikts eingesetzt haben. Menschen wie wir. Jetzt instrumentalisieren die Politiker die Opfer, um Dinge zu rechtfertigen, die mindestens die Hälfte der Israelis nicht will.
Wir stehen am Beginn eines Zivilisationsbruchs. Die Folge wird eine grenzenlose Wut sein, die wir alle wie wir hier stehen zu spüren bekommen werden. Für mich und für uns alle muss die einzige Lehre aus dem Holocaust sein, sich für die Rechte aller Menschen einzusetzen, und nicht zu schweigen, wenn diese Menschenrechte verletzt werden, wie es viele Deutsche wieder hinnehmen. Zu lange wurde vergessen, dass wir für diesen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine Lösung brauchen. Wir müssen deshalb unsere Politiker gnadenlos auffordern, diese Werte der Humanität und der Menschenrechte zu vertreten. Nur dann gibt es Hoffnung auf Frieden.
Seit 3 Generationen vegetieren die Menschen in Gaza in einem „Freiluftgefängnis“. Wobei es grundsätzlich nicht um Gaza geht, sondern um Palästina. Die Besatzung, über die nicht gesprochen wurde und über die nicht gesprochen wird, in keiner der Talkshows, ist der „Elefant im Raum“. Die Besatzung ist das Problem und sonst nichts. Man kann nicht ein Volk länger als 55 Jahren (von der Staatsgründung 1948 will ich noch nicht reden) in Gefangenschaft halten, unterdrücken, demütigen, berauben, vergewaltigen und sich sein Land Stück für Stück aneignen und glauben, dass es für ewig so weitergehen kann.
Der Schuldigen sind in erster Linie Benjamin Netanjahu und sein Kreis. Diese Leute sind arrogant, selbstherrlich und selbstgerecht. Es geniert sie nicht , der UNO eine Landkarte der Region zu zeigen, auf der Palästina nicht dargestellt wird. Gleichzeitig empören sie sich, wenn jemand ein „Palästinna from the River to the Sea“ fordert Man kann nicht jahrelang behaupten, dass man in der Lage ist den Konflikt zu verwalten, ohne den Palästinensern nur einen Millimeter entgegenzukommen.

Die Palästinenser sind empört, frustriert und voller Zorn. Sie wollen endlich auch frei sein, frei leben und dieselben Rechte haben, wie ihre jüdischen Nachbarn. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Die Führer der Welt sehen aber, dass sich seit Jahrzehnten nichts ändert. Alle Welt hat Verständnis für die Juden und die Rechte der Palästinenser werden ignoriert. Und wenn sie protestieren, und wenn bei uns in Deutschland Menschen ihr Leid verstehen und mit ihnen Mitgefühl offenbaren, dann werden sie als Antisemiten diffamiert, wie z.B . ich. Mich nannte Charlotte Knobloch einen „berüchtigten Antisemiten.“
Das geht so nicht mehr weiter. Die Tat vom 7.10. ist eine Zäsur und vor allem ein Aufruf. Wenn die Israelis und die westliche sogenannte demokratische Welt diesen Aufschrei nicht verstehen wollen, dann wird es noch schlimmer kommen. Am Ende sehe ich sogar die Gefahr eines Bürgerkrieges in Israel, eines Krieges mit seinen Nachbarn und schließlich sogar eines dritten Weltkrieges.
Man solle sich in die Lage eines Palästinensers in meinem Alter versetzen. Ich bin 78 Jahre alt. Mein gleichalter Palästinenser war noch nie in seinem Leben frei. Er hat noch nie etwas anderes erlebt und gesehen als israelische Soldaten, nie etwas anderes erlebt als Unterdrückung, Demütigung, Checkpoints und Straßen nur für Juden. Und wenn er das ertragen konnte, so wollen seine Kinder und Kindeskinder es nicht mehr erdulden. Und sie haben recht.
Das Problem ist die selbstgerechte und leider rassistische israelische Gesellschaft, die z.B. schweigt, wenn ein durchgeknallter, rassistischer, ultranationalistischer Richter in Israel vor Gericht entscheidet, dass jüdisches Blut wertvoller sei als arabisches, wie es seit mehr als 20 Jahren gefestigte Rechtsprechung geworden ist. Eine Gesellschaft, die ein solches Urteil stillschweigend akzeptiert, darf sich nicht wundern, wenn sowas wie am 7.10. in Gaza geschieht.

Die Hamas muss vernichtet werden, weil die Hamas nicht nur der Feind Israels, sondern vor allem auch der Feind der Palästinenser in Gaza und in der Westbank ist. Die Frage ist nur wie man die Hamas vernichtet, ohne tausende Zivilisten zu töten und die Infrastruktur vollkommen zu zerstören. Israel hat die Hamas mit-gegründet und ist heute nicht in der Lage, die Hamas zu besiegen. Aber die Bewohner von Gaza könnten das. Die internationale Gemeinschaft müsse Israel jetzt dazu drängen, die Besatzung zu beenden. Ansonsten wird der Konflikt sich nur verschärfen. Die Menschen in Gaza würden noch radikaler werden und nach ein, zwei Jahren werde es die nächste Runde geben. Es wird nie aufhören, solange die Besatzung nicht endet.
Es ist zynisch zu behaupten, dass der Krieg Israels ein Verteidigungskrieg ist. Es ist ein Vernichtungskrieg gegen die Hamas und gegen die Zivilbevölkerung. Israels Ziel ist es Gaza zu zerstören und für immer oder zumindest für lange Zeit unbewohnbar zu machen. Was vor den Augen der ganzen Welt stattfindet ist ein Rachekrieg bzw. ein Vergeltungskrieg, wie es die Israelis nennen, und nicht das, was uns permanent eingetrichtert wird, ein „Selbstverteidigungskrieg“. Vergeltung im Sinne von Rache. Nach den Kriterien des Völkerrechts ist es nichts anderes als Genozid. Und deshalb graust mich die Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, dass „Israel ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien sei und die israelische Armee sich an die Regeln des Völkerrechts halten werde.“
Es ist nicht der erste sogenannte „Gaza-Krieg“. Über die israelische Strafaktion von 2008 hat der jüdische UN-Mitarbeiter Richard Goldstone seinen „Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza Konflikt“ herausgegeben. Ein 800 Seiten dickes Buch, indem Israel vieler Kriegsverbrechen beschuldigt wird. Und wer sich in der Geschichte des Konflikts auskennt, weiß, dass auf israelischer Seite schon seit 1948 Kriegsverbrechen stattgefunden haben. Man kann das bei Uri Avnery, S. Izhar und andere israelischen Autoren und Historiker wie Ilan Pappe nachlesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Staatsoberhäupter wie Olaf Scholz das nicht wissen. Seine Haltung ist deshalb verlogen, zynisch und nicht akzeptabel. Vor allem aber der immer wieder gehörte Vorwurf: Es handele sich um Antisemitismus. Da machen es sich viele Politiker, Intellektuelle, der Zentralrat der Juden und andere bedeutende oder unbedeutende Personen sehr leicht, wenn sie immer wieder „Antisemitismus – haltet den Dieb“ rufen.
Man soll und muss die Hamas beseitigen, wie man auch fundamentalistische Gruppen innerhalb der nationalistischen Siedlerbewegung zum Schweigen bringen muss. Die Faschisten und Kriegstreiber auf beiden Seiten müssen verschwinden.
Ich bin entsetzt und traurig, wie man bei uns die Palästinenser behandelt. Man hält sie alle für Terroristen. Es gibt die jüdisch-israelische Seite, die leben will, aber es gibt auch die palästinensische Seite, die ebenfalls leben will.
Ich spreche zu Ihnen nicht als jemand, der sein Wissen aus der Presse oder Talkshows hat, in denen so viele inkompetente Experten dummes Zeug reden. Ich spreche zu Ihnen als jemand, der in Israel aufgewachsen ist und in der israelischen Armee gedient hat und mit eigenen Augen viel Unrecht gesehen hat.
Ich arbeite seit vielen Jahren dafür, dass es aufhört. Leider ohne Erfolg. Aber „bedingungslose“ Unterstützung Israel ist nicht das, was ein „Freund“ erklären sollte. Auch ein Freund Israels muss das internationale Völkerrecht beachten und danach handeln. Man hilft Israel nicht, wenn man der dortigen zZ herrschenden ultra-rechten, nationalistischen und nach eigenen Angaben reaktionären Regierung einen Blankoscheck gibt und die Augen und Ohren zudrückt, weil man nicht sehen will und nicht hören darf. Die Israelis haben in der Vergangenheit schon Kriegsverbrechen begangen. Sie sind dieser Tage dabei, in Gaza wieder Kriegsverbrechen zu begehen. Als Freunde müssen wir die Israelis davor abhalten.
Das bedeutet nicht, dass man die Hamas verschonen soll. Nein, die Hamas, als terroristische Organisation, muss ein für alle Mal vernichtet und beseitigt werden. Aber auch Israel muss umdenken, denn ansonsten wird eine Beseitigung der Hamas nicht nützen. Wenn Israel so weiter macht, werden neu palästinensische Terroristen wachsen und aus Erfahrung wissen wir, dass jede neue junge Generation Palästinenser radikaler und rücksichtsloser war. Und auch wenn man nicht damit einverstanden ist, so muss man es zur Kenntnis nehmen, dass junge Palästinenser, die ohne Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Leben aufwachsen, bereit sind ihr Leben zu opfern, weil sie nichts zu verlieren haben außer ein Leben, dass für sie kaum lebenswert ist.
Die Palästinenser müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Hamas mit ihrer radikalen Politik und der Absicht Israel total zu zerstören, ihnen schadet. Sie müssen sich per „intifada“ von der Hamas befreien. Gaza ist nicht die Hamas. Gaza ist zum Friedhof für tausenden Kindern geworden, wie es UN-Generalsekretär Guterres sagte.
Und noch ein persönliches Wort: Alle denke n an die unschuldigen zivilen Geiseln. Ganz Israel trauert. Bis auf einen. Bis auf Benjamin Netanjahu. Wie kann unser unglücklicher Kanzler Olaf Scholz die Position Netanjahus unterstützen? Die Hamas wird ganz sicher die Geiseln nicht freilassen, ohne einen Erfolg vorweisen zu können. Die Hamas fordert die Freilassung von palästinensischen Gefangenen. Für einen einzigen israelischen Gefangenen, Gilad Schalit, hat Israel 1000 Gefangene freigelassen. Warum kann es nicht für mehr als 200 Geiseln 6000 Gefangene freilassen. Israel hat Angst, dass daraus Hamas-Kämpfer werden. Aber wenn Israel so weiter macht, dann werden 60 000 junge Palästinenser in den nächsten Jahren radikalisiert werden. Gaza ist doch schon so zerstört wie Berlin am Ende des 2. Weltkrieges. Jetzt weiterzukämpfen, bis der letzte Hamas-Kämpfer tot ist, ist meiner Meinung nach, nicht, was das Leben der Geiseln retten kann. Die Hamas-Kämpfer sind bereit zu sterben. Wollen wir warten bis der letzte alle Geiseln ermordet. Lohnt sich dieses Opfer für Israel? Ich meine nicht.
Aber das ist Netanjahus Pokerspiel. Gewinnt er, und befreit die Geiseln lebend, dann ist er ein Held und sein Gerichtsverfahren Schnee von gestern. Verliert er und die Geiseln sind alle tot, dann landet er entweder in einem israelischen Gefängnis oder es gelingt ihm mit seiner Familie nach Florida zu fliehen, wo eine Prachtvilla auf ihn wartet. Sein Sohn ist schon dort.

Diese Tage ist das Tagebuch von Prof. Saul Friedländer erschienen. Friedländer ist heute 91 Jahre alt und Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Der Titel seines Buches heißt: Blick in den Abgrund – ein israelisches Tagebuch. Er hat das Buch in diesem Jahr vollendet, zwischen dem 17. Januar und den 26. Juni. Er hat die letzte Eskalation noch nicht berücksichtigt. Ich bin sicher, dass wenn er eine Fortsetzung schreiben würde, diese heißen wird: Blick aus dem Abgrund. Israel befindet sich seit dem 7.10.2023 im freien Fall in einen Abgrund. Ich habe seit Jahren davor gewarnt.

Lassen Sie mich zum Schluss noch Worte meines verstorbenen Freundes Hajo Meyer zitieren, der schon 2004, also vor fast genau 20 Jahren, in seinem in Holland publizierten Buch schrieb (ich habe seine Gedanken dann 2006 in meinem Verlag für deutsche Leser veröffentlicht:

DAS ENDE DES JUDENTUMS – DER VERFALL DER ISRAELISCHEN GESELLSCHAFT:

Hajo Meyer sagte:

„Dass die Welt der Rückkehr der Juden in das Land, in dem sie etwa zwei Jahrtausende zuvor gelebt hatten, zustimmen würde, war zu Zeiten Theodor Herzls höchst unwahrscheinlich. Dazu bedurfte es einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Man kann nur hoffen, dass der noch unwahrscheinlichere Frieden zwischen Israelis und Palästinensern tatsächlich durch ein Wunder zustande kommen wird. Leider ist die Sorge nicht unberechtigt, dass auch der Frieden einer vergleichbaren oder gar einer noch größeren Katastrophe bedarf“.
Und da sage jemand, dass es keine Propheten mehr gäbe, seitdem die Juden ihr Land verlassen haben.

 

 

Die Juden schaffen sich ihr eigenes Unglück

06.11.2023 von Eurich Lobenstein

Von 250.000 so genannten Juden, die um die jüngste Jahrhundertwende aus dem Ostblock zu den 30.000 deutschen Alt-Juden stießen, sind 60.000 bei den jüdischen Gemeinden immatrikuliert. Die Synagogen sind leere Prachtbauten (Deborah Feldman).Die meisten Nachkommen des Stammes Juda glauben auch nicht mehr an Jehova, der christlich als Gott Vater von Jesus gilt. Es läuft darauf hinaus, wie es Felix Theilhaber in den 1920ern beschrieb: auf den Untergang des deutschen Judentums. Natürlich wird immer ein unaufklärbarer ultra-orthodoxer Kern bleiben. Denn Esoteriker gibt es immer: Piusbrüder, evangelikale Sekten aller Art, Satansanbeter und Chassidim. In den USA ist es nicht anders. Von 7 Millionen Juden werden 1/3 nicht als „jüdisch“ anerkannt. ihnen wird die Zugehörigkeit zum Judentum bestritten. Die Voraussagen Theilhabers gelten auch dort. Das US-Judentum wird untergehen. Binnen zweier Generationen werden sich die 5 Millionen auf 13% ihres Bestandes reduzieren (Carlo Strenger). Das Judentum wird dann so etwas sei wie der historische Adel ohne Monarchie: adelige Namensträger ohne Feudalbesitz, von denen die meisten nicht einmal mehr 4 adelige Großeltern aufweisen können.

Die Alternative zum Untergang durch Abfall vom Glauben, und eine Alternative zur Ultra-Orthodoxie ist der Zionismus; in Palästina könnten sich die Juden als normale Nation entwickeln. 7 Millionen Juden sind diesen Weg gegangen. Es gibt nur zwei Probleme: Das Land ist zu klein, um eine Nation von 15 Millionen Juden zu beherbergen. Weitere Kriege gegen die Araber, wie sie Itamar Ben Gvir und Bezalel Schmotrich predigen, werden nötig sein. Aber wird dann dieses Israel stark genug sein im Falle, dass im Westen für dessen nationalistische Politik die Unterstützung versiegt? Die jüdische Fraktion im Westen dünnt sich nach Theilhaber und Strenger aus. 87% der heutigen US-Juden gelten dann als Abtrünnige und als Marranen. Warum sollten sie zu Israel stehen, wenn man dort „marrano“ mit „Schwein“ übersetzt?

Israel stand immer schon am Abgrund (Saul Friedländer). Aber die Sicherungsseile reißen noch nicht. Das Seil „made in Germany“ taugt allerdings nichts. Es besteht aus billigem Kunststoff.

Während sich die westlichen Gesellschaften durch starke Immigrationsströme rassisch neu bilden, herrscht in Israel das halachische Religionsgesetz. Die Juden sind über die Jahrhunderte hinweg immer ähnlich geblieben. Arthur Ruppin spricht von einem jüdischen Typus. Das verlangt deren Religion, denn sonst würde der Messias sein zerstreutes Volk nicht erkennen können. Deswegen wird das gläubige Volk (auch nicht das zionistisch-nationalistische) keine wirklich demokratische Gesellschaft mit der Urbevölkerung bilden können, sondern ein jüdischer Staat bleiben müssen, der selbst seinen russischen Juden gegenüber reserviert bleibt: Die „Russen“ leiten ihre Jüdischkeit vom Vater her ab. Heiraten können sie in Israel keine halachische Jüdin.

Das Wesen des jüdischen Staats ähnelt dem Wesen des spartanischen von Lykurg. Google schreibt:

Lykurg gilt als Gesetzgeber von Sparta. …Der Mythos Lykurg wurde vermutlich geschaffen, um die Einzigartigkeit der spartanischen Verfassung zu erklären. Sie unterschied sich in klassischer Zeit, also im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., deutlich von denen anderer griechischer Stadtstaaten. … Vor dem Hintergrund der Messenischen Kriege, des Gesetzes der Erbteilung oder der drohenden Vormachtstellung Athens wandelte sich Sparta …. in einen Staat, in dem das Kriegswesen eine dominierende Rolle spielte. …“

Israel bedarf der militärischen Überlegenheit über alle seine Nachbarn. Was das verlangt, hat Jeshajahu Leibowitz vorgezeichnet. Wie lange ein solches System die Sympathie und die Unterstützung des in „athenischer“ Tradition stehenden Westens behalten wird, ist angesichts des gesellschaftlichen Wandels im Westen offen. Der „jüdische Staat“ verletzt zu häufig völkerrechtliche Grundsätze und internationale Abkommen. In der Dritten Welt wird der Staat als Kolonialstaat mit Apartheitsregime wahrgenommen.

Wer für ein Fallen-Lassen Israels plädiert, gilt heute noch als Antisemit. Antisemit zu sein ist verpönt. Aber ist dies berechtigt? Die meisten Länder, fast die ganze UNO, sind gegen Israel eingestellt. Irgendwann werden Indien und Indonesien wichtiger als der Judenstaat mit seinem amerikanischen Patron, auch für Deutschland.

Alex Bein ist ohnehin der Meinung, dass der Begriff „Antisemitismus“ weder auf den religiösen „Antijudaismus“ noch auf den modernen Antizionismus erstreckt werden kann. Mögen im Westen die Linken Antikolonialisten, und davon abgeleitet Antizionisten sein, Antisemiten im klassischen Sinne sind die nicht. Die Antisemiten der Nazizeit förderten sogar die Einwanderung von Juden nach Palästina (Haawara-Abkommen). Sie sprachen sich zwar nicht unbedingt für einen jüdischen Staat, aber für ein jüdisches Reservat in Palästina aus (Siegfried Francke in Bezug aus Ghisbert Wirsing). Die Nazis waren im Prinzip keine Antizionisten. Insofern ist die heutige Beschimpfung von demonstrierenden Palästinensern als „Antisemiten“ ein Denkfehler.

Antisemitismus ist ganz etwas anderes als eine propalästinensische Haltung:

Bernd Witte hat den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen den Verehrern von „Moses“ und den Bildungsklassikern nach Homer beschrieben. Sigmund Freud hat die Wurzel des Antisemitismus in genau diesem Gegensatz analysiert. Die instinktive Ablehnung der monotheistischen Religion ist die Wurzel einer Feindschaft, die auf die Juden „sublimiert“ wird. Sublimiert, also übertragen auf die Juden, weil sich das Volk gegen die christliche Obrigkeit nicht erheben konnte, und seinen Frust über die Unterdrückung an den Juden ausließ. Das Dogma des christlichen Monotheismus wurde 325 in Nikäa formuliert und 395 zur Staatsreligion erklärt. Dadurch wurde der orientalische Despotismus westlich. Das galt zwar für das damalige Römische Reich, jedoch basiert die westliche Staatenwelt kulturell auf dessen geistigen Trümmern. 1792 definierte die Französische Republik die christlichen Lehren als „alten Aberglauben“. Um diese Zeit begann „der Westen“ die Schicht des monotheistischen Despotismus abzutragen.

Was unterscheidet den jüdischen Aberglauben vom Christlichen? Grundsätzlich glaubt der Jude, dass der Messias noch kommen werde; der Christ meint, in der Person des Jesus sei es bereits da gewesen. Jesus konstruieren die Christen als ein Wesen menschlicher wie göttlicher Natur. Die zwei Naturen blieben unvermischt. Nachdem Jesus körperlich (!) in den Himmel aufgefahren war, blieb seine Anhängerschaft als sein mystischer Leib zurück, in den zu Pfingsten der Hl. Geist, eine weitere Person der göttlichen Trinität einfuhr. Diese Gemeinschaft, nun Kirche genannt, die mit dem Reich (und dem christlich-monarchischem Staat) identisch wurde, verkörpert also genau dieselbe Göttlichkeit auf Erden wie Jesus zu seinen Erdentagen.  Die Kaiser Konstantin und Theodosius etablierten die Despotie in West-Europa nach der Formel: „Ein Gott, ein Reich, ein Kaiser“.

„Der Jude“ glaubt an die Existenz des letztlich gleichen Gottes. Dieser Gott hat sich nicht in Sohn und Hl. Geist verklont. Er hat mit Israel einen besonderen Bund mit abstrusen Speisegesetzen, Alltagsregeln und Kleidungsvorschriften geschlossen. Diesen Bund wollen die abergläubischen Leute pingelich einhalten, egal, was der Gott ihnen zumutet. Kaiser Julian meinte, der Gott der Juden müsse ein böser Kobold sein, der dieses Volk von einer Bredouille in die nächste führe. Jeder zweite Jude hat diesem Kobold die Gefolgschaft versagt. Machten die Juden im Römischen Reich noch 8% der Bevölkerung aus, repräsentieren sie auf demselben Territorium nicht einmal mehr ein einziges Promille. Die Lehre der Juden (und abgeleitet davon die der Christen) ist in sich unlogisch. Tertullian meinte: „ich muss glauben, weil es absurd wäre, so zu denken“. Wenn der Glaube vernünftig wäre, hätte der Gott nur in einem Anfall von Unvernunft den Menschen schaffen können, der seine Schöpfung zerstört. Einen solchen verrückten Gott verehren zu müssen hat in Israel zu einer nie endenden Herrschaft einer Priesterkaste geführt, die sich nach Zerstörung des Tempels als Herrschaft der Rabbiner fortsetzte (Gilead Atzmon). In Israel stellt diese Priesterkaste heute die Justiz, die in allen Dingen der Staatsführung das letzte Wort hat.

Gegen diesen verrückten Gott wehren sich nach Sigmund Freud die germanischen und slawischen Völker. Die Romanen kommen dank einer breiten Heiligenverehrung und der Mutter Gottes mit diesem Glauben besser zurecht. Schleiermacher meinte: Der Katholizismus sei die profilierteste polytheistische Religion. Der Katholizismus ist also weniger christlich als der Protestantismus.

Das klassische („athenische“) Denken, ausfabuliert vom alten Hesiod, kennt die Existenz von Göttergeschlechtern. Der alte Uranos zeugte die Titanen, und wurde von seinem Sohn Chronos entmannt und entmachtet. Chronos herrschte; sein Neffe Prometheus schuf den Menschen. Jedoch wurde das Titanengeschlecht durch die olympischen Götter abgelöst. Prometheus wurde an den Kaukasus geschmiedet, sein Bruder Atlas musste das Himmelsgewölbe tragen. Die anderen Titanen wurden in den Tartarus gestürzt. Die Menschen blieben ohne den göttlichen Schutz des Titanensohns Prometheus, und waren als dessen Geschöpfe den neuen Göttern ein Gräuel. Sie, die Götter, wollten sie, die Menschen, auch vertilgen und schickten ihnen die Büchse der Pandora. „Die Menschen“ überlebten dank ihrer Intelligenz und Schläue (was Homer in der Odyssee besingt). Solange sie die Logik der Naturgewalten nicht durchschauten, bauten die Griechen den Unsterblichen prachtvolle Tempel, die jene davon abhalten sollten, ihre Gemeinschaften samt den Tempeln zu zerstören. Die Intelligenteren erkannten das Fehlen von Göttern hinter den Naturgewalten, und entwickelten die Demokratie und die Republiken, schufen vernünftige Rechtssysteme und begründeten unsere Zivilisation: das Römische Reich. Römerstraßen, römische Brücken, sogar römische Theater sind noch heute in Funktion.

Durch endlose Bürgerkriege erschöpft übernahm Kaiser Konstantin 325 die Idee des Monotheismus: Ein Gott – ein Reich – ein Kaiser. 1.300 Jahre hat es bedurft, um das davon abgeleitete Gottesgnadentum zu überwinden.

KURZUM.

Die Menschheit schuldet dem Judentum nichts. Auch aus dem Holocaust resultiert keine Verpflichtung gegenüber den Juden. Schon das Luxemburger Abkommen war umstritten. Deutschland zahlte, weil man unter amerikanischer Fuchtel weiterwirtschaften musste (und wollte).

Im Gegenteil: der jüdische Monotheismus ist ein Danaergeschenk gewesen. Trotzdem verdankt die Welt einzelnen Juden viel.  Arthur Ruppin listet seitenweise Personen jüdischer Herkunft auf, denen die Menschheit viel verdankt: Sigmund Freud, Heinrich Hertz und Albert Einstein sind darunter: aber sie haben dem Judentum den Rücken gekehrt. Sogar die Nachkommen von Moses Mendelsohn haben sich vom Judentum abgewandt.  Das Judentum als solches ist ein alberner Aberglaube, bei genauer Prüfung ein unglaublicher Unsinn. Den müssen wir abschütteln. Nicht „der Jude“, sondern die monotheistische Lehre gehört ausgerottet. Dazu fängt man aber nicht bei den Juden und Moslems an, sondern bei den Christen. Der ganze kirchliche Grundbesitz könnte zur Staatsschuldentilgung versteigert werden. Die Curaille mag betteln gehen.

Und Israel?

Es wird selbst sehen, was es von seiner para-spartanischen Militärpolitik haben wird. Jeder ist seines eigenen Unglücks Schmied.

 

EINE VERPASSTE CHANCE – Meine Gedanken Zum Krieg Zwischen Israel Und Hamas

October 17, 2023

von Judith Bernstein

„Dem Brith Schalom schwebt ein binationales Palästina vor, in welchem beide Völker in völliger Gleichberechtigung leben, beide als gleich starke Faktoren das Schicksal des Landes bestimmend, ohne Rücksicht darauf, welches der beiden Völker an Zahl überragt. Ebenso wie die wohlerworbenen Rechte der Araber nicht um Haaresbreite verkürzt werden dürfen, ebenso muss das Recht der Juden anerkannt werden, sich in ihrem alten Heimatlande ungestört nach ihrer nationalen Eigenart zu entwickeln und eine möglichst große Zahl ihrer Brüder an dieser Entwicklung teilnehmen zu lassen.“, 1929.*

(*Das Zitat ist dem Buch meines verstorbenen Mannes Reiner Bernstein „Wie alle Völker…? Israel und Palästina als Problem der internationalen Diplomatie“ entnommen.)

Dieses Manifest, das bereits 1929 verfasst wurde, wäre die Chance für die Juden, im Nahen Osten anzukommen. Leider haben die Juden aber es vorgezogen, statt einen gemeinsamen Staat mit der dort ansässigen Bevölkerung zu gründen, ihren Staat mit Gewalt zu erobern. War es wirklich notwendig, die palästinensischen Orte zu zerstören und die Bevölkerung zu vertreiben?  So begann für die Palästinenser die bis heute anhaltende Nakba; damit haben Ben-Gurion und seine Regierung es in Kauf genommen, dass Israel immer ein Fremdkörper in der Region bleiben würde. Das Schicksal der vertriebenen Palästinenser hat niemanden nach 1948 interessiert.

Auch Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Hannah Arendt waren skeptisch. Albert Einstein: „Frieden kann nicht mit Gewalt aufrechterhalten werden; er kann nur durch Verständnis erreicht werden. Nicht Herkunft oder Religion sollte unser Sein und unser Leben bestimmen, sondern allein die Vernunft, die Toleranz und die Verantwortung füreinander!“
Hannah Arendt plädierte für einen jüdischen Staat im Rahmen eines föderativen, multiethnischen Konstrukts. Nur so, glaubte sie, konnte die jüdische Nation Teil der Nationen der Welt werden.

Die Zustimmung der Weltgemeinschaft zur Gründung des neuen Staates ging auf das Versagen der Länder zurück, die Juden aus der Barbarei der Nazis zu befreien. Auch sah der Westen Israel als sein Bollwerk in der Region.

Eine weitere Chance für Israel wäre die Niederlage der arabischen Staaten nach 1967 gewesen. Es war diesmal Golda Meir, die nicht bereit war, mit den besiegten Staaten Jordanien und Ägypten über einen eigenständigen palästinensischen Staat zu verhandeln.
Der Erste, der verstanden hat, dass der Konflikt nicht mit Gewalt zu lösen war, war Yitzhak Rabin (der bestimmt kein Linker war). Dafür musste er mit seinem Leben bezahlen; ihm wurde vorgeworfen, „er kümmere sich nicht um sein Land“.

Zu Hamas: Israel hat Hamas als Konkurrenz zur PLO aufgebaut, um die palästinensische Bevölkerung zu spalten. Für Netanyahu war immer klar, dass er nie mit der Hamas über einen Frieden verhandeln würde. Er befürchtete jedoch, dass der Westen ihn evtl. zu einem Frieden mit der PLO zwingen würde. Da er die Hamas gebraucht hat und auch heute noch braucht, hat er sie nach keinem Gazakrieg vernichtet.
Im Gegensatz zu vielen Palästina-Anhängern in Deutschland wollen die Palästinenser vor Ort weder die Hamas noch die PLO – sie wollen in Frieden und Freiheit leben. Vor allem die jungen Menschen, die keine Zukunft für sich sehen und aus den sozialen Medien entnehmen, wie andere junge Menschen leben, wünschen sich nichts anderes als wie alle Jugendliche in der Welt zu leben.

Die Hamas hat in ihrer letzten gewaltätigen und brutalen Aktion vom 07.10.23 genau die Orte zerstört und deren Einwohner ermordet bzw. verschleppt, die gegen die Politik ihrer Regierung demonstriert haben und zum großen Teil zum Friedenslager gehörten. Bis zur Abriegelung des Gazastreifens gab es von ihnen sogar Unterstützung für die Bewohner Gazas. Viele der Verwandten der Ermordeten und Verschleppten beschuldigen die eigene Regierung für den Tod und die Geiselhaft ihrer Angehörigen verantwortlich zu sein.
Hamas hält die palästinenesiche Bevölkerung als Geisel genau wie die israelische Regierung es mit ihrer Bevölkerung tut. Der Westen hat es versäumt, die Bevölkerungen auf beiden Seiten und nicht ihre korrupten Regierungen zu unterstützen.

Warum hat der Westen nicht gegen die Gewalt der Siedler protestiert, die jede Form von zusammenleben verhindert? Ist das die Staatsräson, von der immer wieder die Rede ist? Ich höre zwar, dass die deutsche und europäische Politik versagt hat, aber die deutschen Politiker stellen sich wieder auf die Seite Israels, auf die Seite des Mannes, gegen den wöchentlich demonstriert wird. Warum eigentlich? Somit verhindert der Westen eine Lösung für alle dort lebenden Völker.
Auch das Abraham-Abkommen, auf das die Amerikaner so stolz sind, war kein Abkommen zwischen den Bevölkerungen, sondern zwischen Despoten und der korrupten israelischen Regierung. Wieder einmal hat der Westen die falschen Kräfte unterstützt. So hat er verhindert, dass Israel im Nahen Osten ankommt. Eine Tragödie für Israel!
Israel befand sich zwar im Nahen Osten, hat aber in seinem „way of life“ immer den USA und Europa nachgeahmt. Wenn Israel im Nahen Osten ankommen will,  muss es sich mit seinen Nachbarn und nicht mit Amerika oder Europa verständigen.

Und nun zu Deutschland:
Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanyahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann – die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder mit den Friedensgruppen?
Wieso wird gegen Antisemitismus gekämpft, nicht aber gegen Antiislamismus – ein Phänomen, das in Deutschland viel weiterverbreitet ist.

Warum wurden wir, die wir uns für die Gleichstellung der Palästinenser einsetzen – wir, die sehen, dass nur so auch Israel existieren kann – bekämpft? Warum haben die Juden in Deutschland, denen es so gut geht wie nie zuvor, jede Regierung Israels und nicht die Kräfte in Israel, die um die Zukunft dieses Landes kämpfen, unterstützt?
Warum durfte ich seit Jahren nicht über meine Geburtsstadt Jerusalem sprechen? Warum sollte mein Mann wegen seiner vorsichtigen Kritik an der Politik Israels mundtot gemacht werden? (siehe sein letztes Buch „Allen Anfeindungen zum Trotz“).

Mit genau dieser Politik haben Deutschland und der Westen dafür gesorgt, dass die Zukunft Israels im Nahen Osten immer unsicher bleiben wird und wir Juden wieder einmal als der  „Ewige Jude“ abgestempelt werden.

 

 

Rede am 25. 10. 2023 auf dem Rotkreuzplatz in München

Von Jürgen Jung

Gründungsmitglied von Salam Shalom, Arbeitskreis  Palästina-Israel e.V.                               und derzeit Mitglied im kollektiven  Vorstand des Vereins

„Freiheit“, schrieb Rosa Luxemburg einst, „ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“. Leider ist es in der momentan aufgeheizten Situation notwendig geworden, auf diese schlichte Wahrheit hinzuweisen, denn angesichts der verfahrenen Situation im Nahen Osten wird derjenige ja bereits verurteilt, der es sich erlaubt, auf mögliche Entstehungs-bedingungen und Ursachen des terroristischen Angriffs der Hamas vom 7. Oktober aufmerksam zu machen. Das gilt dann bereits als dessen Relativierung, ja vielfach sogar als Ausdruck des Antisemitismus, und es wird von Medien wie Politik die unverbrüchliche Solidarität mit Israel beschworen, dessen Sicherheit deutsche „Staatsraison“ sei. Und es wird in der Regel betont, dass wir mit der – wie es heißt – „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ die gleichen Rechte teilen.

Verwundert reibt man sich die Augen und fragt sich, ob im Mainstream immer noch nicht angekommen ist, was in den letzten Jahren von israelischen und jüdischen Intellektuellen und Organisationen immer wieder  betont und nachgewiesen wurde, nämlich, dass Israel ein „siedlerkolonialistischer Apartheidstaat“ sei.

Dabei haben bereits die frühen Zionisten ganz unbefangen klargestellt, worum es ihnen ging. In einer Broschüre der zionistischen Weltorganisation von 1921, in der die Koloni-sierung Palästinas – unter Berufung auf das Vorgehen der Europäer gegen die Indianer Amerikas und die Schwarzen Südafrika –  verteidigt wird, heißt es:

„Kolonisation ist ein nicht unbedeutenderes Prinzip als Selbstbestimmung, und es gibt Fälle, wo die Selbstbestimmung nur angewandt werden darf, insofern sie mit der freien Entwicklung der Kolonisation vereinbar ist.“

Oder zwei Jahre später Ze’ev Jabotinski, der Ahnherr der heutigen rechten Parteien in Israel – Netanjahus Vater war jahrzehntelang sein Privatsekretär – , Jabotinski in seinem berühmten Essay „Die eiserne Mauer“: „Wir versuchen, ein Land gegen den Willen seiner Bevölkerung zu kolonisieren, mit anderen Worten, mit Gewalt…… Jede Urbevölkerung in der Welt würde sich, solange es noch einen Funken Hoffnung gibt, der Kolonisierung zu entgehen, gegen die Kolonisten wehren….Die zionistische Kolonisierung muß entweder sofort enden, oder andernfalls – ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung – fort-gesetzt werden“. Und diese Kolonisierung müsse dann hinter einer „eisernen Mauer“, d. h. einer unüberwindlichen Armee realisiert werden.

Und im Jahr 1947 – ein Jahr vor der Staatsgründung – äußerte sich Ben-Gurion auf dem Zionistenkongress unmissverständlich: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“ Seine Lösung für das Problem, dass dieses Land schon besiedelt war, hatte er 10 Jahre zuvor – also 1937 – bereits seinem Sohn brieflich mitgeteilt: „Ich bin für Zwangsumsiedlung. Daran kann ich nichts Unmoralisches erkennen.“ Und diese Zwangsumsiedlung begann dann – erforscht v. a. von den  „revisio-nistischen“ Historikern Israels – unmittelbar nach dem UNO-Beschluss vom 29. November 1947 als „ethnische Säuberung Palästinas“, die dazu führte, dass etwa zwei Drittel der Palästinenser, ca. 750 000, vertrieben wurden. Und diese „Nakba“, arabisch für „Katastrophe“, dauert im Kern, ganz im Sinne der von Ben Gurion formulierten Ziel-vorstellung – ganz Palästina als jüdischer Staat –, bis heute an. Die gegenwärtige rechts-reaktionäre Regierung Israels verhehlt ihre entsprechenden, krass völkerrechtswidrigen Absichten nicht einmal.

Insofern ist die Kennzeichnung Israels als „siedler-kolonialistischer Apartheidstaat“ mit-nichten eine „extreme Dämonisierung des Staates der einstigen jüdischen Geflüchteten“, wie uns nicht nur die SZ kürzlich glauben machen wollte.

Nach diesem kurzen historischen Exkurs zurück in die Gegenwart:

Wenn man den Medien, unseren Politikern, auch manchen Wissenschaftlern Glauben schenken darf, dann nimmt der Antisemitismus ständig zu, der herkömmliche Antisemi-tismus von rechts, der von links, der aus der Mitte der Gesellschaft und in den letzten Jahren insbesondere der „zugewanderte“ Antisemitismus der muslimisch-arabischen Migranten. Letzterer ist allerdings – aufgrund der leidvollen historischen Erfahrungen der Araber, insbesondere der Palästinenser mit dem Zionismus und Israel – zunächst einmal Antizionismus, den die falschen Israelfreunde aber kurzerhand mit Antisemitismus gleichsetzen.

Bereits im vergangenen Jahr haben die wichtigsten Menschenrechtsorganisationen der Welt, Human Rights Watch und Amnesty International in teils umfangreichen Studien nachgewiesen, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Bereits 2021 waren sogar die israelischen Menschenrechtsorganisationen B’Tselem und Yesh Din zu dem gleichen Ergebnis gekommen; und in der israelischen Tageszeitung Haaretz konnte man am 13. 7. 2021 nachlesen, dass ein Viertel der ca. 6 Millionen Juden in den USA, also 1,5 Millionen, – so das Ergebnis einer Umfrage – Israel gleichfalls für einen Apartheidstaat halten, unter den jüngeren bis 40 sind es sogar 38 Prozent! Alles Antisemiten?!

In einem offenen Brief vom August diesen Jahres unter der Überschrift „Der Elefant im Raum“ rechnen israelische Akademiker mit der Politik ihres Staates vorbehaltlos ab. Dieser „Elefant im Raum“, der in Israel geflissentlich ignoriert wird, ist nach Ansicht der Autoren die völkerrechtswidrige israelische Besatzung. Der Kernsatz des Textes lautet: „Es kann keine Demokratie für Juden in Israel geben, solange die Palästinenser unter einem Apart-heidregime leben.“ Diese selbstkritische Radikalität renommierter israelischer Experten auf dem Gebiet der Judaistik, der Antisemitismus- und der Holocaustforschung ist in der Tat so erstaunlich wie die annähernd 3000 Unterschriften von vorwiegend jüdischen Zeitgenossen, die der Brief innerhalb kurzer Zeit bekam.

Und in einer Reaktion auf den 7. Oktober von den gleichen israelischen Autoren heißt es unmissverständlich:

„Wir, die Unterzeichnenden, verurteilen die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Terroristen, die Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge und Senioren auf grausamste Weise abgeschlachtet und zahlreiche weitere entführt haben, müssen vor Gericht gestellt werden. Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen und diese Mörder zu verfolgen, wo immer sie zu finden sind.

In dieser Zeit des Schmerzes und der Verwüstung rufen wir Israel dazu auf,

  1. alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Geiseln zu befreien. Israel hält eine große Anzahl von Palästinensern in Gefängnissen gefangen….. Israel muss sich um einen Aus-tausch von Gefangenen bemühen, um seine eigenen und die gefangenen Bürger anderer Länder vor dem sicheren Tod zu bewahren.
  2. darauf zu verzichten, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv für die Verbrechen der Hamas zu bestrafen. Ein Massaker rechtfertigt nicht das nächste. Dies wird nur zu weiteren Verwüstungen führen und den Kreislauf der Gewalt weiter anheizen. Wir rufen zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Deeskalation auf.
  3. die gewaltsame Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu beenden. Die Apart-heid, die jahrzehntelange Besatzung des Westjordanlandes, die 16-jährige Belagerung des

Gazastreifens mit zwei Millionen Palästinensern und die Auslöschung der Erinnerung an die Nakba tragen alle zur Verrohung und zur Gewalt bei. Ihnen muss dringend ein Ende gesetzt werden. Es gibt keinen anderen Ausweg.

Wir dürfen unsere Trauer und unseren Schock nicht dazu benutzen, Rache zu üben und weiteres Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung zu verursachen.“

Und vor ein paar Tagen sprach die renommierte israelische Publizistin Amira Hass wiederum in Haaretz Olaf Scholz direkt an, der am 12. 10. gesagt hatte:

„Das Leid und die Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen werden nur noch zunehmen. Auch dafür ist die Hamas verantwortlich.“ Und Amira Hass fragt den Bundeskanzler: „Aber gibt es eine Grenze für dieses zunehmende Leid, wenn man bedenkt, dass Sie und Ihre Kollegen im Westen Israel uneingeschränkt unterstützt haben? Werden Sie es hin-nehmen, dass 2.000 palästinensische Kinder getötet werden? …..

Sie sagten auch: „Unsere eigene Geschichte, unsere Verantwortung, die sich aus dem Holo-caust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten.“

Aber Herr Scholz, es gibt einen Widerspruch zwischen diesem Satz und dem oben zitierten.
„Das Leid und die Not werden zunehmen“ ist ein Blankoscheck für ein verwundetes, ver-letztes Israel, das hemmungslos vernichten, zerstören und töten darf mit dem Risiko, uns alle in einen regionalen Krieg zu verwickeln, wenn nicht sogar in einen dritten Weltkrieg, der auch Israels Leben gefährden würde, seine Sicherheit und Existenz. Wohingegen „Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt“, bedeutet, alles zu tun, um einen Krieg zu verhindern, der in einem endlosen Kreislauf zu Katastrophen führt, die wiederum zu Kriegen führen, die das Leid nur noch vergrößern.

Das habe ich von meinem Vater gelernt, einem Überlebenden der deutschen Viehwaggons. Bereits 1992 sagte er mir jedes Mal, wenn ich aus Gaza mit Berichten über die Unter-drückung seiner Bewohner durch Israel zurückkam: „Es stimmt, das ist kein Völkermord, wie wir ihn erlebt haben, aber für uns endete er nach fünf oder sechs Jahren. Für die Palästinenser dauert das Leid seit Jahrzehnten an.“ Es ist eine andauernde Nakba.

Ihr Deutschen habt Eure Verantwortung, die sich „aus dem Holocaust“ ergibt – also aus der Ermordung unter anderem der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden – längst verraten. Sie haben sie verraten, indem Sie ein Israel vorbehaltlos unterstützt haben, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt fördert.

……Es gibt genügend Diplomaten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die darüber berichtet haben, wie Hunderttausende junge Palästinenser unter der arroganten Unter-drückung durch Israel und der willkürlichen Tötung von Zivilisten jede Hoffnung und jeden Sinn ihres Lebens verloren haben. Palästinensische Menschenrechtsaktivisten haben immer wieder gewarnt, dass Israels Politik nur zu einem Gewaltausbruch unvorstellbaren Ausmaßes führen könne. Auch israelische und jüdische Friedensaktivisten haben Sie ge-warnt.

Aber Sie sind Ihrem Weg treu geblieben und haben Israel die Botschaft übermittelt, dass alles in Ordnung sei – dass niemand es bestrafen oder den Israelis durch energische diplo-matische und politische Schritte beibringen wird, dass es mit der Besatzung keine Norma-lität geben kann. Und dann bezichtigten Sie Israels Kritiker des Antisemitismus!

NEIN, diese Kolumne ist keine Rechtfertigung für die Mord- und Sadismusorgie, die die bewaffneten Hamas-Männer begangen haben. …..Vielmehr ist es ein Aufruf an Sie, die aktuelle Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen, bevor sie eine weitere Katastrophe über Millionen von Israelis, Palästinensern, Libanesen und vielleicht sogar Bewohner anderer Länder in der Region bringt.“ Soweit Amira Hass.

Am 19. Oktober, also letzte Woche organisierte die jüdisch-amerikanische Organisation Jewish Voice for Peace eine Protestveranstaltung vor dem Kapitol in Washington zugunsten der Palästinenser, und es fanden sich   – ich wollte es kaum glauben – 5000 Teilnehmer ein. Der Tenor der Versammlung war: Die Wurzel der Gewalt ist Unter-drückung!

Und zum Schluss noch zu einem gestern erst in der taz erschienenen offenen Brief, den  über 100 in Deutschland lebende jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler unterschrieben haben. Darin heißt es:

„Wir verurteilen vorbehaltlos die terroristischen Angriffe auf Zivilisten in Israel.….. Mit gleicher Schärfe verurteilen wir die Tötung von Zivilisten in Gaza….. In den letzten Wochen haben Landes- und Stadtregierungen in ganz Deutschland öffentliche Versamm-lungen mit mutmaßlichen Sympathien für Palästinenser verboten……

Praktisch alle Absagen, einschließlich derjenigen, die von jüdischen Gruppen organisierte Versammlungen verbieten, wurden von der Polizei zum Teil mit der „unmittelbaren Gefahr“ von „volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen“ begründet. Diese Behauptungen dienen unserer Meinung nach dazu, legitime und gewaltfreie politische Äußerungen, die auch Kritik an Israel beinhalten dürfen, zu unterdrücken……

Klar ist jedoch: Es macht Juden nicht sicherer, wenn Deutschland das Recht auf öffentliche Trauerbekundungen um verlorene Menschenleben in Gaza verweigert……

Wir prangern an, dass die gefühlte Bedrohung durch solche Versammlungen die tatsächliche Bedrohung des jüdischen Lebens in Deutschland grob ins Gegenteil verkehrt, wo nach Angaben der Bundespolizei die „überwiegende Mehrheit“ der antisemitischen Straftaten – etwa 84 Prozent – von deutschen extremen Rechten begangen wird. Die Versammlungs-verbote sollen ein Versuch sein, die deutsche Geschichte aufzuarbeiten, doch besteht viel-mehr die Gefahr, dass man sie genau dadurch wiederholt.

Wir befürchten, dass mit der derzeitigen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung die Atmosphäre in Deutschland gefährlicher geworden ist – für Juden und Muslime gleicher-maßen – als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes. Wir verurteilen diese in unserem Namen begangenen Verbote.

Wir fordern Deutschland auf, sich an seine eigenen Verpflichtungen zur freien Meinungs-äußerung und zum Versammlungsrecht zu halten, wie sie im Grundgesetz verankert sind…..“

 

 

Und Finsternis war auf dem Antlitz Israels Von Gideon Levy, in: Haaretz, 26. Oktober 2023

Und Finsternis lag über dem Antlitz der Tiefe. Im Angesicht des Abgrunds des Massakers im Süden wird Israel von Finsternis heimgesucht. Noch ist es ein Wolkengebilde, aber es könnte sich in Dunkelheit verwandeln: Israel wird verrückt. Die Linken werden „wach“, die Rechten werden immer extremer, McCarthyismus und Faschismus regieren.

Kriegszeiten sind immer eine Zeit des Schweigens, der Meinungsgleichheit, des Rassismus, der Hetze und des Hasses, der absoluten Rekrutierung im Dienste der Propaganda, des Endes der Toleranz und der Verfolgung aller, die es wagen, aus der Reihe zu tanzen. Die von der Hamas im Süden verübten Gräueltaten haben all diese Erscheinungen auf die Spitze getrieben, so als ob die Gräueltaten den Verlust jeglicher Zurückhaltung rechtfertigen würden.

Der emotionale Aufruhr ist natürlich verständlich, nicht aber der Totalitarismus, der in seinem Gefolge entstanden ist. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, wird die Gefahr für die Demokratie tausendmal größer sein als die des Staatsstreichs, der das ganze System hier zum Einsturz gebracht hat.

Die ersten, die den Verstand verloren, waren wie üblich die Linken. Sie sind „klüger geworden“. Diejenigen, die sich vor dem Krieg entschlossen hatten, für die Demokratie zu kämpfen, sabotieren sie nun mit ihren eigenen Händen. Diejenigen, die sich vor dem Krieg als Liberale, als Menschen des Friedens und der Menschenrechte betrachteten, nehmen nun eine aktualisierte Weltanschauung an: Sie stehen den Gräueltaten im Gazastreifen gleichgültig gegenüber; eine Mehrheit will sogar, dass sie noch verstärkt werden.

Und warum? Weil sie Gräueltaten an uns verübt haben. Für wie lange? Bis zum Ende. Zu welchem Preis? Um jeden Preis. Diese Linke denkt jetzt über Gaza genauso wie die Rechte: Zuschlagen und zuschlagen, das ist die einzige Option.

Diejenigen, die vor dem Krieg unterschätzt haben, wie wichtig es ist, sich mit der Apartheid und dem Schicksal des palästinensischen Volkes zu befassen, denken jetzt, zum Teufel mit allen. Sie können hängen. Sollen sie doch ersticken. Lasst sie sterben. Sollen sie doch vertrieben werden. Diejenigen, die sich vor dem Krieg für aufgeklärt hielten, unterstützen jetzt den Konsens.

Die Hamas hat auch die israelische Linke auf den Kopf gestellt. Von nun an ist es Israel erlaubt, dem Gazastreifen alles anzutun; die Linke wird sogar ihren Segen dazu geben. Von nun an ist es verboten, auch nur mit den Bewohnern des Gazastreifens mitzufühlen.

Der Menschenrechtsaktivist und ehemalige Peace-Now-Direktor Yariv Oppenheimer beobachtete, wie Amira Hass über das Schicksal der Bewohner des Gazastreifens Tränen vergoss und beeilte sich zu schreiben: „Ich gebe zu, dass ich gefühllos geworden bin.“

Selbst angesichts der Leichen von 2.360 Kindern, die nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums am Dienstag gefunden wurden, ist das Herz der Linken versiegelt. Wie zu Beginn eines jeden Krieges ist die Linke dafür. Die Linke „wird klug“ und kehrt danach irgendwie zu sich selbst zurück. Das scheint dieses Mal unwahrscheinlich.

Außerhalb der Linken ist die Situation noch schlimmer. Der Faschismus ist die einzig richtige Position geworden. Die lokalen Fernsehsender haben sich dem Kanal 14 angeschlossen; wenn es um Gaza geht, gibt es keinen Unterschied. Reporter und Moderatoren bezeichnen die Hamas in einer abstoßenden Zurschaustellung von Holocaust-Verharmlosung und -Leugnung als Nazis, und die Menge jubelt. Die Hamas hat abscheuliche Dinge getan, aber sie sind keine Nazis.

Jede andere Meinung ist nun zur Verfolgung verurteilt. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, sprach wahrheitsgetreu und mutig über den Kontext der Gräueltaten vom 7. Oktober und beeilte sich zu betonen, dass nichts die schrecklichen Angriffe der Hamas rechtfertigen kann; Israel reagierte mit einem frenetischen Angriff auf Guterres, der von den Medien aufgepeitscht wurde. Jeder diplomatische Korrespondent, der sich noch nie zu etwas geäußert hat, weiß, dass die Äußerungen des Generalsekretärs „empörend“ waren.

Ich für meinen Teil war nicht entrüstet. Sie waren wahr. Die Schauspielerin Maisa Abd Elhadi wurde wegen eines Social-Media-Posts, der gegen kein Gesetz verstieß, von der Polizei festgenommen und über Nacht festgehalten, und israelische Fernsehsender entfernen ihre Filme aus ihren Streaming-Archiven. McCarthyismus würde sich schämen.

Die freigekaufte Gefangene Yocheved Lifshitz gab eine bewegende Vorstellung, und die Mainstream-Journalisten beschweren sich, weil sie die Wahrheit gesagt hat. PR-Beraterin und Internet-Persönlichkeit Rani Rahav sieht ein Video von der Zerstörung in Gaza und schreibt: „So gefällt mir das!!!“ (Alle sabbernden Ausrufezeichen sind im Originaltext enthalten).

Der Journalist Zvi Yehezkeli drängt auf die nächtliche Zerstörung des Gazastreifens. Den gesamten Gaza-Streifen. Und sein Kollege Netali Shem Tov von Channel 13 News sieht „zu viele Gebäude in Gaza stehen“. Das ist das destillierte Böse im Angesicht der Gaza-Katastrophe, deren Schrecken den Israelis fast nie gezeigt wird.

Dies ist die dunkle Zeit. Die Zeit des barbarischen Angriffs der Hamas und die Zeit des verlorenen Gewissens und der Vernunft in Israel.

 

Kein Recht auf Rache in Gaza

Dienstag, 24. Oktober 2023, Berliner Zeitung

Unser Autor verurteilt den Terror der Hamas gegen Israel, aber auch das, was er als kollektive Bestrafung der Palästinenser ansieht

FABIAN SCHEIDLER

Etwa 1400 Israelis, die meisten davon Zivilisten, tötete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel und nahm 200 Geiseln. Mehr als 4200 Bewohner des Gazastreifens sind laut UN bisher durch die israelischen Vergeltungsschläge gestorben, viele davon ebenfalls Zivilisten. Ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht, eine Bodenoffensive droht. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind auf der Flucht, doch können sie den winzigen Küstenstreifen nicht verlassen, weil er überall von Zäunen und Mauern umgeben ist. Sichere Zonen gibt es nicht. Israel hat jüngst auch den Süden Gazas bombardiert, nachdem es zuvor die Bewohner des Nordens aufgefordert hatte, dort Zuflucht zu suchen. Den überlebenden Bewohnern droht durch die von Israel verhängte Totalblockade eine humanitäre Katastrophe, weil es an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Elektrizität fehlt. Da Klärwasseranlagen und Müllentsorgung aufgrund fehlender Energie nicht arbeiten, ist außerdem ein hygienischer Notstand zu befürchten. Israel hat jüngst auch den Übergang zwischen Gaza und Ägypten in Rafah bombardiert, die einzige Straße, über die in nächster Zeit Hilfsgüter nach Gaza kommen könnten – wenn Ägypten und Israel sie durchlassen.

USA stoppen Resolution

Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in dieser Lage, er stehe „fest an der Seite Israels“. Er hätte auch sagen können, dass er fest an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt steht, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Glauben und ihrer Hautfarbe. Er hätte in diesem Geiste auch ein Ende der Eskalationsspirale fordern können, wie die von Brasilien eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrates, die allerdings per Veto von den USA gestoppt wurde. All das aber hat er nicht getan, sondern rückhaltlos Partei für eine israelische Regierung ergriffen, die allgemein als die rechteste in der Geschichte Israels bezeichnet wird und die, wie bereits ihre Vorgänger, keinen Hehl daraus macht, dass sie an der Einhaltung völkerrechtlicher Normen kein Interesse hat.

Die seit 16 Jahren andauernde Blockade von Gaza ist eindeutig völkerrechtswidrig. Im Jahr 2017, zehn Jahre nach Beginn der Abriegelung durch Israel, kamen die UN in einer Bewertung der Lage zu folgendem Ergebnis: „Viele dieser Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, da sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen. Darüber hinaus hat die Blockade schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte der Bevölkerung in Gaza, insbesondere auf ihr Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.“ Im Völkerrecht gibt es auch kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch waren, sie bilden keine Legitimationsgrundlage für ein Bombardement von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur einer der am dichtesten besiedelten und ärmsten Regionen der Welt.

Wenn sich nun der Kanzler ohne jede kritische Distanz hinter Israels Regierung stellt, dann lässt er das Völkerrecht hinter sich und macht sich zum Komplizen einer illegalen Vergeltungsaktion, die schon jetzt verheerendere Auswirkungen hat als die Verbrechen der Hamas. Zwar hat Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen eingeräumt, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung nur „in dem Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorgibt“ gelte. Doch forderte sie weder eine Beendigung der Bombardierungen Gazas noch eine Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade.

Es stellt sich auch die Frage, welche Lehren die hiesige Politik denn aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Wenn es eine Lektion aus der Geschichte zu beherzigen gilt, dann doch wohl diese: dass Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Herkunft, Hautfarbe und Glaubensrichtung vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu schützen sind. Das gilt für israelische Bürger ebenso wie für die Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Doch von einem Recht auf Schutz, Verteidigung und Solidarität, das den Bürgern Israels vollkommen zu Recht zugestanden wird, ist in Bezug auf die Palästinenser keine Rede. Nationalität und Hautfarbe entscheiden einmal mehr in Deutschland darüber, wem welche Rechte zuerkannt werden.

„Operation gegossenes Blei“

Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sei. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Sicherheit nicht auf Kosten anderer hergestellt werden soll. Die Politik von Besatzung, Blockade und Bombardierungen, die Israel seit Jahrzehnten praktiziert, hat die Sicherheit der palästinensischen Bürger erheblich untergraben. Sie hat außerdem Israel selbst unsicherer gemacht. Wenn man wie in Gaza mehr als zwei Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt und sie immer wieder durch Bombenangriffe traumatisiert, wie etwa in der „Operation gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 mit 1400 palästinensischen Toten (Israel hatte 13 Opfer zu beklagen), dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann einige Tausend von ihnen zu massiver Gewalt greifen werden. Wem Israels Sicherheit und die der Palästinenser am Herzen liegt, sollte daran mitwirken, die Spirale der Gewalt zu stoppen und ihre Wurzeln zu beseitigen. Und das bedeutet, die Politik von Besatzung und Blockade zu beenden und den Palästinensern die volle Selbstbestimmung über ihre gesamten Territorien zurückzugeben, so wie es das Völkerrecht vorsieht. Auch wenn dies im Moment schwieriger denn je erscheint, so ist es doch der einzige Weg zum Frieden für Israel und Palästina.

Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.

 

Kein Recht auf Rache in Gaza

Dienstag, 24. Oktober 2023, Berliner Zeitung

Unser Autor verurteilt den Terror der Hamas gegen Israel, aber auch das, was er als kollektive Bestrafung der Palästinenser ansieht

FABIAN SCHEIDLER

Etwa 1400 Israelis, die meisten davon Zivilisten, tötete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel und nahm 200 Geiseln. Mehr als 4200 Bewohner des Gazastreifens sind laut UN bisher durch die israelischen Vergeltungsschläge gestorben, viele davon ebenfalls Zivilisten. Ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht, eine Bodenoffensive droht. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind auf der Flucht, doch können sie den winzigen Küstenstreifen nicht verlassen, weil er überall von Zäunen und Mauern umgeben ist. Sichere Zonen gibt es nicht. Israel hat jüngst auch den Süden Gazas bombardiert, nachdem es zuvor die Bewohner des Nordens aufgefordert hatte, dort Zuflucht zu suchen. Den überlebenden Bewohnern droht durch die von Israel verhängte Totalblockade eine humanitäre Katastrophe, weil es an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Elektrizität fehlt. Da Klärwasseranlagen und Müllentsorgung aufgrund fehlender Energie nicht arbeiten, ist außerdem ein hygienischer Notstand zu befürchten. Israel hat jüngst auch den Übergang zwischen Gaza und Ägypten in Rafah bombardiert, die einzige Straße, über die in nächster Zeit Hilfsgüter nach Gaza kommen könnten – wenn Ägypten und Israel sie durchlassen.

USA stoppen Resolution

Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in dieser Lage, er stehe „fest an der Seite Israels“. Er hätte auch sagen können, dass er fest an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt steht, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Glauben und ihrer Hautfarbe. Er hätte in diesem Geiste auch ein Ende der Eskalationsspirale fordern können, wie die von Brasilien eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrates, die allerdings per Veto von den USA gestoppt wurde. All das aber hat er nicht getan, sondern rückhaltlos Partei für eine israelische Regierung ergriffen, die allgemein als die rechteste in der Geschichte Israels bezeichnet wird und die, wie bereits ihre Vorgänger, keinen Hehl daraus macht, dass sie an der Einhaltung völkerrechtlicher Normen kein Interesse hat.

Die seit 16 Jahren andauernde Blockade von Gaza ist eindeutig völkerrechtswidrig. Im Jahr 2017, zehn Jahre nach Beginn der Abriegelung durch Israel, kamen die UN in einer Bewertung der Lage zu folgendem Ergebnis: „Viele dieser Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, da sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen. Darüber hinaus hat die Blockade schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte der Bevölkerung in Gaza, insbesondere auf ihr Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.“ Im Völkerrecht gibt es auch kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch waren, sie bilden keine Legitimationsgrundlage für ein Bombardement von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur einer der am dichtesten besiedelten und ärmsten Regionen der Welt.

Wenn sich nun der Kanzler ohne jede kritische Distanz hinter Israels Regierung stellt, dann lässt er das Völkerrecht hinter sich und macht sich zum Komplizen einer illegalen Vergeltungsaktion, die schon jetzt verheerendere Auswirkungen hat als die Verbrechen der Hamas. Zwar hat Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen eingeräumt, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung nur „in dem Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorgibt“ gelte. Doch forderte sie weder eine Beendigung der Bombardierungen Gazas noch eine Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade.

Es stellt sich auch die Frage, welche Lehren die hiesige Politik denn aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Wenn es eine Lektion aus der Geschichte zu beherzigen gilt, dann doch wohl diese: dass Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Herkunft, Hautfarbe und Glaubensrichtung vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu schützen sind. Das gilt für israelische Bürger ebenso wie für die Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Doch von einem Recht auf Schutz, Verteidigung und Solidarität, das den Bürgern Israels vollkommen zu Recht zugestanden wird, ist in Bezug auf die Palästinenser keine Rede. Nationalität und Hautfarbe entscheiden einmal mehr in Deutschland darüber, wem welche Rechte zuerkannt werden.

„Operation gegossenes Blei“

Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sei. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Sicherheit nicht auf Kosten anderer hergestellt werden soll. Die Politik von Besatzung, Blockade und Bombardierungen, die Israel seit Jahrzehnten praktiziert, hat die Sicherheit der palästinensischen Bürger erheblich untergraben. Sie hat außerdem Israel selbst unsicherer gemacht. Wenn man wie in Gaza mehr als zwei Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt und sie immer wieder durch Bombenangriffe traumatisiert, wie etwa in der „Operation gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 mit 1400 palästinensischen Toten (Israel hatte 13 Opfer zu beklagen), dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann einige Tausend von ihnen zu massiver Gewalt greifen werden. Wem Israels Sicherheit und die der Palästinenser am Herzen liegt, sollte daran mitwirken, die Spirale der Gewalt zu stoppen und ihre Wurzeln zu beseitigen. Und das bedeutet, die Politik von Besatzung und Blockade zu beenden und den Palästinensern die volle Selbstbestimmung über ihre gesamten Territorien zurückzugeben, so wie es das Völkerrecht vorsieht. Auch wenn dies im Moment schwieriger denn je erscheint, so ist es doch der einzige Weg zum Frieden für Israel und Palästina.

Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.