Michael Wolffsohns unsinniger Beitrag zur Antisemitismusdiskussion

Man braucht sich nur die deutsche Bundeswehr anzusehen; dieser Haufen ist nach Ansicht des Verteidigungsministers Pistorius nicht kriegstüchtig; er war schon zu Zeiten von „Kriegsminister“ Franz Josef Strauß nur „bedingt einsatzbereit“ ((Der Spiegel). Da passt es, dass dieser Haufen einen Intellektuellen wie Michael Wolffsohn als Historiker an seinem militärisch-historischen Institut anstellte und ihn bis zur Pensionierung alimentierte. In einem Interview (folgt auszugsweise) sagt er

Die Behauptung, solche Kritik sei in Deutschland nicht möglich, ist ….. kontrafaktisch.“

Der Herr Wissenschaftler meint, die Behauptung widerspreche den Tatsachen; das ist aber nicht „kontrafaktisch“ Er bastelt ein neues Wort und benutzt es gleich falsch. Kontrafaktisch kann von seinen lateinischen Bestandteilen her nur bedeutet, dass jemand gegen konkrete Tatsachen vorgeht. Eine irrige Meinung ist nicht „kontrafaktisch“, sondern falsch, irrig oder eventuell sogar erlogen. Wenn dieser Mensch bereits sprachlich nicht exakt arbeitet, dann kann eigentlich auch seine Analyse als solche nur unbrauchbar sein. Gucken wir also genauer hiin:

Michael Wolffsohn sagte im Dlf: Zu der These [von 60 Intellektuellen in Deutschland], dass Kritik an israelischer Politik unterdrückt werde, könne nur kommen, wer in Wolkenkuckucksheim lebe. Mit der Wirklichkeit in Deutschland habe das nichts zu tun. In den Medien seien 90 Prozent der Beiträge israelkritisch. Die Behauptung, solche Kritik sei in Deutschland nicht möglich, ….. solle sich in den Köpfen einnisten, sei aber kontrafaktisch. Wer die Inhalte von BDS genauer ansehe, der erkenne, dass die Organisation das Ende Israels herbeisehne und durch Politik herbeiführen wolle, nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch wirtschaftlichen und politischen Boykott: „Unter anderem wird gefordert, die Rückkehr alle Flüchtlinge (..). Heute ist die („deren Zahl“ müsste es heißen) Zahl auf fünf Millionen anzusetzen. Das wäre für Israel Selbstmord.“…..Mit dem Vorwurf des Antisemitismus werde die Debatte um die israelische Besatzungspolitik erstickt, heißt es in einem offenen Brief. …..„Israel ist die Lebensversicherung der Juden“. Die elementare Kritik an Israel sei antisemitisch, meint Wolffsohn, „weil Israel für die Juden, wo immer sie leben, die Lebensversicherung ist. Das ist die Überlebensgarantie und in der 3000-jährigen Geschichte der Juden hätte man eine solche Garantie sehr oft gebraucht.“ Aus Frankreich beispielsweise seien in den letzten Jahren 100.000 Juden nach Israel ausgewandert, weil auch dort der Antisemitismus zunehme. Selbst in einer der ältesten Demokratien der Welt sei also die Situation so unerträglich, dass sie nach Israel ausgewandert sind, Stichwort Lebensversicherung. Michael Wolffsohn: „Und wer Juden diese Lebensversicherung nehmen will, ist gegen Juden gerichtet. Und was gegen Juden gerichtet ist, nennt man Antisemitismus.“

Was offenbaren diese Worte? dass in einem Land wie Deutschland, zu dessen Politik die Unterstützung Israels „Staatsräson“ ist, und in dem tatsächlich jeder Ansatz einer Parteinahme für „die Palästinenser“ in die Nähe von Antisemitismus (oder mit ihm gleichgesetzt) gerückt wird, noch 90% der medialen Beiträge israelkritisch sein sollen. Entweder dehnt Wolffsohn den Begriff „israelkritisch“ ins Unendliche aus, oder wir haben in Deutschland eine staatliche Israelpolitik, die von der Volksmehrheit nicht mehr getragen wird. Ist es nun „antisemitisch“ wenn man in Wolffsohns Ansicht einen Angriff auf unsere Meinungsfreiheit sieht?

Nach den Straftatbeständen der §§ 81 ff StGB wird nur bestraft, wer Veränderung an den politischen Verhältnissen in Deutschland mit Gewalt vornehmen will. Entsprechend dürften dann nur Demonstrationen von Palästinensern verboten werden, die zur Gewalt gegen Israel aufriefen. Wolffsohn sieht aber schon in allgemeinpolitischen und wirtschaftlichen Maßnahmen ein Verhalten, das von den Behörden in Deutschland unterdrückt werden soll. Ist Wolffsohn ein Verfassungsfeind?

Und noch schlimmer ist eine Offenbarung Wolffsohns, dass

„die Lebensversicherung der Juden [„Israel“] von fünf Millionen [Arabern] bezahlt wird. …. „für Israel wäre es Selbstmord“, für diese „Zahlung“ einen angemessenen Ausgleich zu finden? Wolffsohn hat offenbar keine Alternativen „auf der Platte“.

Mit seinem Antisemitismusgerede schädigt Wolffsohn die jüdische Sache; 3.000 Jahre jüdische Geschichte? Mythologie! Die „jüdische Geschichte“ beginnt mit Esra (Zur Zeit des Perserkönigs Kyros und um die Zeit der Perserkriege der Hellenen) . Sie beginnt bezeichnenderweise mit der Vertreibung von Juden, die mit Frauen fremder Völker lebten. Haben die Juden dafür eine Lebensversicherung gebraucht? Ja, natürlich: hätten sie. Sie brauchten eine Versicherung auch, als sie ihre Kriege und Aufstände gegen Seleukiden und Römer durchzogen. Damals verspielten sie gerade Israel. Und 1492? Lebensversicherung Israel? Kein jüdisches Interesse daran trotz Einladung der Osmanen. Es war Frankreich, wo sich in Bordeaux eine jüdische Gemeinde bildete. Wenn wirklich „in den letzten Jahren“ (wie viele Jahre es sein sollen, sagte Wolffsohn nicht; aber unterstellen wir 10 Jahre) 100.000 jüdische Franzosen nach Israel ausgewandert seien, kann dies durchaus auch seinen Grund in der französischen Finanzpolitik haben. Es gibt viele Gründe, Frankreich zu verlassen. Nur weil 10.000 „Juden“ jährlich aus Frankreich nach Israel gehen, auf „unerträgliche antisemitische Verhältnisse in Frankreich“ zu schließen, ist für einen Militärwissenschaftler ein taktisches wie operatives Armutszeugnis. Solche Propagandisten sind sogar für die eigene Truppe unbrauchbar. Frankreich hat uralte jüdische Gemeinden, Eric Zemmour war Präsidentschaftskandidat mit jüdischer Herkunft, Adolphe Cremieux war 1870 französischer (jüdischer) Justizminister, der allen Juden Algeriens auf Antrag die französische Staatsbürgerschaft verlieh, Leon Blum war Premierminister vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, und George Mandel („Jeroboam“) war Minister der 3. Republik. Präsident Nikolaus Sarközi wurde von der Jüdischen Allgemeinen als Enkel eines Rabbiners bejubelt. Aber es ist vielleicht so, wie im „Fall Henry Kissinger“. Auch ihm wird nachgesagt „kein Teil des jüdischen Volkes sein zu wollen“ (Jüdische Allgemeine), weil er nicht bedingungslos hinter der israelischen Politik steht. Das tut dafür Ursula v. d. Leyen. Genau diese Spezies von drittklassigen Gestalten schaden der jüdischen Sache, gerade weil sie sich für Israel in einer zu plumpen Weise erklären. Auch Michael Wolffsohn argumentiert in erschreckend banaler Art und Weise.

von Lobenstein.

Warum Israel sich nicht ändern wird

Die Tage von Netanjahus konservativer Regierung sind nach dem 7. Oktober gezählt. Doch der Gaza-Krieg wird den Rechtsruck in Israel weiter verstärken.

Als die Hamas am 7. Oktober die israelischen Sperranlagen an der Grenze zum Gazastreifen durchbrach und ihr Massaker begann, kam beinahe sofort das Gefühl auf, Israel werde nie wieder dasselbe Land sein. Innerhalb weniger Stunden mussten die Israelis der Realität ins Auge sehen und erkennen, dass viele Grundannahmen der israelischen Palästina-Politik wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzten. 16 Jahre staatlicher Blockadepolitik gegenüber dem Gazastreifen hatten es nicht vermocht, den Israelis Sicherheit zu bringen.

Das Kalkül der Regierung, sie könne die Hamas zu einem pragmatischen Kurs anstiften, indem sie zuließ, dass Katar die Hamas finanziert, oder indem sie Menschen aus Gaza Arbeitserlaubnisse erteilte, ist nicht aufgegangen. Stattdessen ließ Israel sich durch dieses Kalkül zur Selbstgefälligkeit hinreißen. Dass die Bedrohung durch die Hamas sich mit Hilfe von High-Tech-Überwachung, unterirdischen Sperranlagen und des Raketenschutzschirms Iron Dome neutralisieren ließe, erwies sich als tödlicher Irrglaube.

Die Angriffe der Hamas haben auf grundsätzliche und grauenhafte Weise mit der Vorstellung aufgeräumt, die Palästinafrage lasse sich politisch unendlich vertagen, ohne dass Israel dafür einen Preis zu bezahlen hätte. Von dieser Vorstellung war die politische Führung in Israel so selbstverständlich ausgegangen, dass Kommentatoren sich eigene Vokabeln wie „Konfliktmanagement“ oder „Shrinking the conflict“ dafür ausdachten. Dementsprechend finden seit Jahren keine Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern über ein endgültiges Friedensabkommen mehr statt, obwohl Israel sich zeitgleich um die Normalisierung seiner Beziehungen zu immer mehr arabischen Staaten bemüht. Mehr als 20 Jahre lang hatten die rechten Parteien, die Israels politische Landschaft dominieren, den Wählerinnen und Wählern versprochen, diese Politik beschere dem Land mehr Sicherheit als jede andere – und die Mehrheit der Wählerschaft glaubte an dieses Versprechen. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober brachte den Status quo nun zum Einsturz.

Unter einem wesentlichen Aspekt bleibt in Israel dennoch alles beim Alten. Zwar kreiden die Israelis ihrer politischen Führung das katastrophale Sicherheitsversagen im Zusammenhang mit den Hamas-Angriffen an, aber dass sich an ihrer politischen Grundausrichtung etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Es ist gut möglich, dass Premierminister Benjamin Netanjahu nach Kriegsende nichts anderes als der Rücktritt übrigbleiben wird – vielleicht sogar schon eher, denn einen klar definierten Endpunkt hat der Krieg nicht.

In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert.

Israels Geschichte hat jedoch gerade in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gezeigt, dass das Land nach Phasen von Krieg oder extremer Gewalt wie der jetzigen politisch noch stärker nach rechts rückt. Wenn dieses Muster auch jetzt wieder greift, kann es gut sein, dass die Israelis eine neue Regierung wählen und trotzdem an genau jenen irrigen Annahmen festhalten, die für das Abdriften nach rechts maßgeblich waren und die jetzige Krise mitprägen.

Dass viele Israelis das desaströse Sicherheitsversagen ihres Landes Netanjahu persönlich anlasten, weil er an der Spitze steht, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass sie ihren Protest mitten in einem Krieg artikulieren, der schwieriger zu führen ist als die meisten anderen Kriege, die Israel in den vergangenen Jahrzehnten ausgefochten hat. In den Wochen seit dem Angriff wurde bereits bei mehreren Demonstrationen Netanjahus Rücktritt gefordert. Dieser Forderung schloss Oppositionsführer Jair Lapid sich ebenso an wie einige Familien, deren Angehörige von der Hamas ermordet oder entführt wurden. Zahlreichen Umfragen zufolge hätte Netanjahu mit einer krachenden Niederlage zu rechnen, wenn jetzt gewählt würde.

Sogar laut einer Umfrage, die am 22. und 23. November unmittelbar nach Bekanntgabe der Einigung auf eine Geiselbefreiung durchgeführt hatte, würde die Regierungskoalition 23 ihrer 64 Sitze einbüßen (insgesamt gibt es in der Knesset 120 Sitze), obwohl durchaus zu erwarten gewesen wäre, dass die erwirkte Geiselbefreiung die Position der Regierung deutlich stärkt. Auch der Rückhalt für Netanjahus eigene Partei schwindet dramatisch: Wenn jetzt Wahlen stattfänden, würde die Likud-Partei fast die Hälfte ihrer 32 Knesset-Sitze verlieren. Der frappierendste Aspekt ist wohl, dass mehr als drei Viertel aller Israelis der Meinung sind, Netanjahu solle nach dem Krieg oder auch schon während des Krieges zurücktreten.

Diese Zahlen stehen in krassem Kontrast zu der Erfahrung, dass die meisten Staats- und Regierungschefs von einer riesigen Welle der Unterstützung getragen werden, wenn ihr Land angegriffen wird oder Krieg führt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 scharten die Amerikanerinnen und Amerikaner sich schlagartig hinter US-PräsidentGeorge W. Bush. Während des Golfkriegs 1990/91 und während des 2003 begonnenen Irakkriegs verzeichneten die Zustimmungswerte der US-Führung zweistellige Zuwachsraten. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erlebte 2022, nachdem Russland in sein Land einmarschiert war, einen überwältigenden Popularitätsschub.

Netanjahus im Dezember 2022 geschmiedete Rechtsaußen-Koalition wurde schon lange vor dem Angriff der Hamas breit und heftig kritisiert. Fast das ganze Jahr über gingen Israelis massenhaft auf die Straße und protestierten gegen die höchst umstrittenen Pläne der Regierung für eine Justizreform. Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels; der 7. Oktober hätte die 40. Protestwoche eingeläutet. Schon im April hielten nur noch 37 Prozent der Israelis zu ihrem Premierminister; nach dem Angriff der Hamas ist diese Zahl auf 26 Prozent abgestürzt. Mitte November favorisierten doppelt so viele Israelis – 52 Prozent – Netanjahus wichtigsten politischen Widersacher Benny Gantz, der früher Generalstabschef war und dem von Netanjahu als Notstandsregierung gebildeten Kriegskabinett angehört.

Aufgrund der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe steht Netanjahu zusätzlich unter Druck. Angesichts der gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren, der unter seiner Regie erfolgten Sicherheitspannen und des laufenden Krieges wird es für ihn schwierig oder ganz unmöglich werden, sich im Amt zu halten. Doch die grundsätzlichere Frage bleibt: Würde sich durch sein Ausscheiden an Israels politischer Grundausrichtung etwas fundamental ändern?

Trotz der breiten Empörung über die Regierung Netanjahu wegen der geplanten Justizreform ordnet die Mehrheit der jüdischen Wählerschaft sich in Umfragen politisch rechts ein. Nur fünf Tage vor dem Angriff der Hamas ergab eine Erhebung der sozialpsychologischen Forschungsstelle aChord, die an die Hebräische Universität angegliedert ist, dass zwei Drittel der jüdischen Israelis sich dem rechten Spektrum zuordnen (entweder „stramm rechts“ oder „gemäßigt rechts“), während zehn Prozent sich als links bezeichneten. Auf jeden jüdischen Israeli, der für eine linke Partei stimmt, kommen also der Tendenz nach beinahe sieben rechte Wähler. Allein schon angesichts dieser Zahlen wäre es erstaunlich, wenn die israelische Bevölkerung unter dem Eindruck des schlimmsten Gewaltausbruchs gegen Israelis seit Gründung ihres Staates nicht noch weiter nach rechts rücken würden.

Obwohl die Bevölkerung mit Netanjahus Regierung enorm unzufrieden ist, wird die Sorge vor politischer Instabilität es ihm wohl ermöglichen, an der Macht zu bleiben, solange der jetzige Krieg andauert. Auch in diesem Krieg kann noch vieles geschehen – und in welche Richtung die Wählergunst sich neigt, hängt möglicherweise auch davon ab, wie viel Zeit bis zur nächsten Wahl vergeht. Doch wenn Netanjahu am Ende aus dem Amt gedrängt wird, ist keineswegs ausgemacht, dass Israel danach ideologisch einen anderen Weg einschlägt.

Es war die längste Protestwelle in der Geschichte Israels.

Laut aktuellen Umfragen wenden die Wählerinnen und Wähler sich scharenweise Gantz’ Mitte-rechts-Partei „Nationale Einheit“ zu. Würde jetzt neu gewählt, käme die Partei von Benny Gantz nach einer am 24. November veröffentlichten Erhebung auf 43 Sitze – 11 Sitze mehr als die Likud-Partei bei den Wahlen 2022 und deutlich mehr als doppelt so viele Sitze, wie die Likud-Partei derzeit zu erwarten hätte. Ob es bei diesen Zahlen bleibt oder ob sie vielleicht sogar auf eine grundsätzlichere Verlagerung hin zur Mitte schließen lassen, weiß zum jetzigen Zeitpunkt niemand.

Da alle Rechtsaußen-Parteien des Landes der höchst unbeliebten Regierungskoalition angehören, bleibt außerdem abzuwarten, ob die Wählerinnen und Wähler, die sich über Netanjahus ursprüngliches Kabinett ärgern, automatisch ihr Kreuz bei der Partei „Nationale Einheit“ machen, die in seinem Kriegskabinett mit am Tisch sitzt. Im Augenblick profitiert Gantz dank seines hohen militärischen Renommees offenbar auch vom „Rally around the flag“-Effekt, der sich in Kriegszeiten einstellt.

Doch wenn die Israelis über Netanjahu verärgert sind und höchstwahrscheinlich nach rechts rücken – warum halten sie sich dann nicht an die Rechtsaußen-Parteien in der Koalition? Bislang zeigen sich in den Umfragen keine Stimmenzuwächse für die ultranationalistische Otzma Jehudit („Jüdische Stärke“) und für religiös-zionistische Parteien. Paradoxerweise könnten gerade Netanjahus extremistisches Programm, sein Angriff auf die demokratischen Institutionen und die katastrophal schlechte Regierungsführung im Vorfeld des Krieges das Wahlvolk davon abhalten, reflexhaft in eine noch stärker theokratische, antidemokratische und unverbesserlich rechte Ecke zu rücken.

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete.

Eine naheliegende Reaktion auf die aktuelle Krise wäre ein Wechsel zu einer von Benny Gantz angeführten neuen Regierung. Gantz würde wahrscheinlich von Netanjahus permanenter populistischer Spaltungspolitik abrücken und im Unterschied zu ihm vermutlich keine Korruptionsskandale auslösen. Erst recht würde er wohl den messianischen Drang seines Vorgängers und seiner Regierung vermeiden, den Siedlungsbau voranzutreiben oder die Annexion formell festzuschreiben. Zugleich genießt Gantz, weil er auf eine lange militärische Laufbahn zurückblickt und weil seiner Partei auch ehemalige Likud-Mitglieder beigetreten sind, eine hohe Legitimität im rechten Lager, die er sich wird bewahren wollen.

Zudem liefert die Rhetorik von Gantz wenige Anhaltspunkte dafür, dass er mit dem Palästinaproblem wesentlich anders umgehen würde, als es die Rechte bisher getan hat. Weder als Kandidat noch als Mitglied des Kriegskabinetts hat Gantz sich offen für eine Zweistaatenlösung oder irgendeine andere politische Lösung der Palästinafrage ausgesprochen. Noch im vergangenen Jahr erteilte er dem Gedanken an „zwei Staaten für zwei Völker“ eine Absage: „Ich bin dagegen.“

Einer der größten Fehler Netanjahus war, dass er die Palästinafrage ausschließlich als Sicherheitsfrage betrachtete, als könnte man die politischen Hintergründe des Konflikts ignorieren. Dadurch entstand überhaupt die Schwachstelle, die es der Hamas erleichterte, dermaßen tödlich zuzuschlagen. Wahrscheinlich sieht Gantz als Mann der Armee die Palästina-Problematik mit ganz ähnlichen Augen – als Sicherheitsbedrohung, die es einzudämmen gilt und bei der es nicht um die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser geht. Wenn sich das bewahrheitet, dürfte der 7. Oktober bei allem Horror, den er bedeutet, dazu führen, dass es weitergeht wie gehabt – und Not und Elend auf beiden Seiten auch in Zukunft ihre Kreise ziehen.

Gekürzte Fassung des Beitrags „Why Israel Won’t Change“. © Foreign Affairs.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Ein paar Worte zum Krieg in Gaza

Während die israelische Regierung der Meinung ist, kriegsrechtskonform zu kämpfen, beantragt die südafrikanische Regierung den Erlass eines Haftbefehls gegen Ministerpräsident Netanjahu beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen. Erlassen wurde ein entsprechender Haftbefehl gegen Präsident Putin, was aber nichts daran ändert, dass dieser seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine fortsetzen kann. Das zeigt, dass das Recht in den Bereich der Propaganda eingegangen ist. Zwar gibt es genug Vorschriften, die ein Kombattant verletzen kann, aber die meisten sind Theorie. Cäsar ließ Vercingetorix köpfen, andere Besiegte wurden grausam verstümmelt wie Crassus, Rabbi Akiba oder Kaiser Mauritius, heute werden sie „abgeurteilt“. So geschah es schon nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, der dem Vater aller Volkskriege. Die französischen Revolutionäre brachten nur die eigenen Verlierer auf die Guillotine.
Als Legitimation hat man die Haager und die Genfer Konventionen und ein Völkerstrafrecht; präzedentiell hat man, wenn man von den amerikanischen Urteilen nach dem „civil war“ absieht, die noch den Charakter hatten, „Rebellen“ zu strafen, ein paar Urteile des Reichsgerichts in Leipzig, das ein einige Kriegsverbrecher des Ersten Weltkriegs verurteilte. Bekannter sind die Urteile des Strafgerichtshof in Nürnberg, der neben den so genannten Hauptkriegsverbrechern auch noch eine Reihe von Nachfolgeprozessen durchführte. Neuere Urteile verkündete der internationale Strafgerichtshof in Den Haag zu Verbrechen in Bosnien und Ruanda. Kriegsverbrecher sind in erster Linie Militärs. Das Leipziger Gericht verurteilte in seinem ersten Verfahren ein paar deutsche Soldaten, die während des Vormarsches durch Belgien 1914 ganz banal als Räuber auf eigene Rechnung gehandelt hatten. Schwieriger wäre eine Urteilsfindung gewesen, wenn die Soldaten ihre Räubereien auf Weisung eines Kommandeurs begangen hätten.
Dies liegt, vereinfacht gesagt, darin begründet, dass, wie Kurt Tucholsky es formulierte, Soldaten schlechthin Mörder seien. Seit der Regierung von Helmut Kohl gilt schon dieser Satz als Straftat, denn er beleidige jeden Soldaten, dessen Aufgabe es ist, nicht zu morden, sondern Feinde zu töten. Damit sind wir bereits im Propagandawesen. Man redet daher auch nicht mehr vom Töten, das zur untersten Ebene des Kriegswesens gehört (Carl v. Clausewitz), sondern wählt ein Vokabular der höheren Ebenen operativer und strategischer Schicht und sprich davon, Feinde auszuschalten, zu neutralisieren, unschädlich zu machen usw.; für das praktische Abmurksen, kalt machen und abwürgen ist der einfache Soldat zuständig, der die Drecksarbeit macht. Aber wie dreckig darf diese sein? Und wie dreckig muss diese werden, dass das Blut bis auf die Befehlshaber der höheren Ebenen hinaufspritzt?
Sahra Wagenknecht kritisierte (26.11.23) die israelische Kriegsführung als „rücksichtslos“; wie immer eine rücksichtsvolle Kriegsführung ausschauen müsste, lässt sie offen; es fragt sich, auf wen eine Kriegsführung überhaupt Rücksicht nehmen könnte. Theoretisch ist auf Zivilisten Rücksicht zu nehmen, aber diese dürfen den Operationen des Militärs nicht im Weg stehen. Jörg Friedrich (in: Das Gesetz des Krieges) weist an vielen Beispielen nach, dass Zivilisten den Militärs immer im Weg stehen. So z. B. auch den eigenen Truppen, die in einer Festung eingeschlossen sind. Der Feind muss diese nicht abziehen lassen, weil solchenfalls sich das Aushungern für die Belagerer in die Länge ziehen könnte. Krieg geht also an einer Zivilbevölkerung prinzipiell nicht vorbei.

Die Haager Landkriegsordnung von 1909 war schon überholt, als sie formuliert wurde. Gedanklich ging sie von den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts aus. Ein Fürst dieses Jahrhunderts stritt sich mit einem anderen Souverän, wem das Erbe eines ausgestorbenen Fürstengeschlechts aufgrund welcher dynastischen Verbindungen zustehe. Beide wollten die zu erobernde Provinz gleichermaßen unzerstört übernehmen. Das war im 19. Jahrhundert bereits anders geworden; William Tecumseh Sherman, der im amerikanischen Bürgerkrieg das Shenandoah-Tal verwüstet hatte, kritisierte die preußischen Truppen 1870 in dem Sinn, dass sie nicht begriffen hätten, gegen ein feindliches Volk Krieg zu führen. Er meinte, sie hätten mit ihren Kanonen wesentlich rücksichtsloser auf die Dörfer und Städte feuern sollen. Und tatsächlich dürfte es auch so sein. Wenn man von expeditionellen Feldzügen absieht, wie etwa dem Krimkrieg, dann kämpfen ganze Völker gegeneinander; so hat Casimir Hermann Baer seine Enzyklopädie mit „Der Völkerkrieg“ schon 1914 betitelt. Die Völker kämpfen bis zur Erschöpfung gegeneinander; dies hat der Zweite Weltkrieg „gegen Hitler“ besonders deutlich demonstriert. Es wird so lange gekämpft, bis entweder ein Volk aufsteht (wegen Hungers 1918) oder eben nichts mehr zu verteidigen hat (wie 1945).

In Gaza kämpft „Israel“ gegen ein feindliches Volk. Nach Jörg Friedrichs Gesetz des Krieges kann es keine Rücksicht auf Zivilisten geben, solange gekämpft wird. Deswegen kann die israelische Armee auch die Zivilbevölkerung Gazas in Mitleidenschaft ziehen. Sie hätten sich gegen ihre gewalttätigen Mitbürger früher empören müssen, sich über den Feind zu empören wäre verspätet. Wenn also einzelne israelische Soldaten nicht fremde Wohnungen plündern (wie es von 1948 erzählt wird) oder, wenn nicht gezielt auf Personal des Roten Halbmonds geschossen wird, oder wenn Verwundete nicht abgeschlachtet werden, weil man „keine Gefangenen machen“ will, ist so ziemlich alles legitim, was militärisch geeignet ist, den Gegner in die Knie zu zwingen. In Bezug auf die IDF muss man sogar anerkennen, dass sie sich komplizierte Mörser ausgedacht hat, verschanzte Feinde zielgenau zu treffen. Auch die israelischen Luftschläge sind von erstaunlicher Präzision. A priori kämpfen die israelischen Verbände also „korrekt“.

Man darf auch als unwahrscheinlich abhaken, dass sich einzelne IDF-Soldaten als Räuber betätigen. Dies ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die arme Gaza-Bevölkerung kaum etwas besitzt, oder die Luftschläge übrig gelassen hätten, was für einen IDF-Soldaten mehr als Plunder wäre. Die sowjetischen Soldaten dagegen, die 1945 nach Deutschland eindrangen, stahlen wie die Raben „uri uri“ (an jeder Hand eine). Die ukrainische Führung will dagegen einzelne russische Soldaten drankriegen, die vor intakten Überwachungskameras unbewaffnete Zivilisten abseits von Kampfhandlungen erschossen haben. Von solchen Umständen ist in Gaza nichts bekannt. In der Logik kann daher ein Verbrechen des Krieges nur vom Höchstverantwortlichen begangen worden sein, den Krieg überhaupt zu führen.

Ministerpräsident Netanjahu ist kein Jurist; sein Fehler besteht allein in einer fehlerhaften Diktion. Er verkennt – wie viele im Westen – dass man in der Dritten Welt vieles anders versteht.; es wäre dann ein Propagandafehler, der natürlich kein Kriegsverbrechen ist. Wenn nämlich die Geiselnahme vom 7.10.23 ein Akt von Terroristen gewesen ist, dann hätte er die gewünschten Gefangenen aus israelischen Gefängnissen im Austausch freilassen müssen, und hätte seinen Krieg erst dann beginnen können, wenn „Gaza“, bzw. die Hamas die Täter des Massakers an echten Zivilisten nicht ausgeliefert hätten. Wenn er dies verkennt, dann beginnen einige die Terroropfer zu zählen und setzen sie in mathematische Relation zu den Opfern des Gegenschlags. Das Zahlenverhältnis wird dann zu einem Maßstab. Das ist der Fehler, den „Bibi“ entstehen lässt. Er hat also im Widerspruch zu einer kriegsvermeidenden Vorgehensweise sich gleich zum „Schlag gegen die Hamas“ entschieden, offensichtlich ganz im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung. Damit wird aber auch das Massaker vom 7.10.23 zu einer grausam legitimen Kriegshandlung in der Logik von Menschen, die noch ein Wissen um die kolonialen Methoden der europäischen Mächte haben.

Ein Irrsinn besonderer Art besteht darin, dass die Entscheidung zum Krieg nicht von höchster Hamas-Ebene (politische Ebene nach v. Clausewitz) aus getroffen wurde, sondern ganz unten auf taktischer Ebene: ein paar „Terroristen“ (türkisch: Freiheitskämpfer) hatten von dem Festival erfahren und sich entschlossen, dort auch noch Geiseln zu nehmen. Für die klassische Geiselnahme fehlte es bereits am Überraschungsmoment, und so kam es zu Massakern. Ein paar „Freiheitskämpfer“ der untersten Ebene haben also namens eines ganzen Volkes einem anderen den Krieg erklärt.

Hier offenbart sich der Irrsinn des Konflikts: er wird abseits aller staatlichen Ordnung fortgeführt wie ein Bürgerkrieg, nur zwischen zwei feindlichen Völkern. Von Recht oder Rücksicht zu sprechen, wäre also so oder so absurd. Hier gilt eher Martins Luthers Wort zum Bauernkrieg: Steche, haue drauf und würge hin, wer kann.
Vielleicht gelingt es außenstehenden Mächten, diesem humanitären Irrsinn Einhalt zu gebieten.

von Lobenstein

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“
Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.
Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.
Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.
In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.
In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

Unterzeichnerliste:
1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
13. Michael Hardt (Professor, Duke)
14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science University of Chicago)
17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
31. Anselm Franke (Professor, University of the Arts Zurich)
32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
34. Eva von Redecker (Berlin)
35. Maeve McKeown (Assistant Professor of Political Theory, University of Groningen)
36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
40. Oreet Ashery (Artist)
41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
42. Eyal Weizman (Professor)
43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
59. Aurelia Kalisky (Berlin)
60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
66. Zeynep Gambetti (Associate Professor, Istanbul)
67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
71. Thomas Locher (Artist)
72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
75. Giovanna Zapperi (Professor, University of Geneva)
76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science, University of Freiburg)
78. James Cochrane (Emeritus Professor, University of Cape Town)
79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
86. Timothy Waligore (Associate Professor Political Science, Pace University)
87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
90. Peter J. Verovšek (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
93. John Pringle (Independent Researcher)
94. Assel Tutumlu (Associate Professor in Political Science, Near East University)
95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
100. Chady Seubert (Actress)
101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

Menschenwürde für alle: Eine Antwort auf „Grundsätze der Solidarität. Eine Stellungnahme“

Wir, die Unterzeichnenden, sind zutiefst besorgt über die Erklärung „Grundsätze der Solidarität“, die am 13. November 2023 auf der Website der Forschungsstelle Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt veröffentlicht wurde und von Nicole Deitelhoff, Rainer Forst, Klaus Günther und Jürgen Habermas unterzeichnet ist.

Wir schließen uns den Verfassern an und verurteilen die Ermordung und Geiselnahme israelischer Zivilisten durch die Hamas am 7. Oktober 2023 und stimmen voll und ganz mit der Notwendigkeit überein, jüdisches Leben in Deutschland angesichts des zunehmenden Antisemitismus zu schützen. Wir stimmen auch damit überein, dass die Erklärung diese Positionen mit der Achtung der Menschenwürde aller Menschen als zentralem Bestandteil des „demokratischen Ethos der Bundesrepublik Deutschland“ begründet.

Wir sind jedoch tief beunruhigt über die offensichtlichen Grenzen der von den Verfassern zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht angemessen auf die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza ausgedehnt, die mit Tod und Zerstörung konfrontiert ist. Sie wird auch nicht auf die Muslime in Deutschland angewandt oder ausgedehnt, die eine zunehmende Islamophobie erleben. Solidarität bedeutet, dass das Prinzip der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss. Dies erfordert, dass wir das Leiden aller von einem bewaffneten Konflikt Betroffenen anerkennen und angehen.

In der Erklärung heißt es, dass „die Maßstäbe der Beurteilung völlig entgleiten, wenn den Handlungen Israels völkermörderische Absichten unterstellt werden“. Unter Völkermordforschern und Rechtsexperten wird derzeit diskutiert, ob der rechtliche Standard für Völkermord erfüllt ist. Menschenrechtsgruppen haben vor dem Internationalen Strafgerichtshof und einem Bundesgericht in den USA Klage wegen Völkermordes eingereicht. Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Völkermordstudien an der Brown University, hat uns kürzlich daran erinnert: „Wir wissen aus der Geschichte, dass es wichtig ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben.“ Solidarität zu zeigen und die Menschenwürde zu achten bedeutet, dass wir diese Warnung beherzigen und den Raum für Diskussionen und Überlegungen über die Möglichkeit eines Völkermordes nicht schließen dürfen. Nicht alle Unterzeichner sind der Meinung, dass die rechtlichen Voraussetzungen für einen Völkermord erfüllt sind, dennoch sind sich alle einig, dass dies eine Frage legitimer Debatten ist.

In der Erklärung werden drei „Leitprinzipien“ für militärische Maßnahmen genannt: „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, die Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung und die Führung eines Krieges mit der Aussicht auf einen künftigen Frieden“. Wir sind besorgt darüber, dass die Einhaltung des Völkerrechts, das auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie kollektive Bestrafung, Verfolgung und die Zerstörung von ziviler Infrastruktur, einschließlich Schulen, Krankenhäusern und Gebetsstätten, verbietet, nicht erwähnt wird. Da wir uns von den Grundsätzen der internationalen Rechtsnormen, der Solidarität und der Menschenwürde leiten lassen, sind wir gezwungen, alle Konfliktbeteiligten an diesen höheren Standard zu binden.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Gräueltaten uns dazu zwingen, diese Grundsätze aufzugeben.

 

Unterzeichnerliste:

  1. Adam Tooze (Professor of History, Columbia University)
  2. Samuel Moyn (Professor, Yale University)
  3. Amia Srinivasan (Professor of Social and Political Theory, University of Oxford)
  4. Nancy Fraser (Professor of Political and Social Science, New School for Social Research)
  5. Jay Bernstein (Professor of Philosophy, New School for Social Research)
  6. Alice Crary (Professor of Philosophy, New School for Social Reserach)
  7. Juliane Rebentisch (Universität Offenbach/University of Princeton)
  8. Chandra Talpade Mohanti (Distinguished Professor, Syracuse University)
  9. Diedrich Diederichsen (Professor for Theory of Contemporary Art, Academy of Fine Arts, Vienna)
  10. Beate Roessler (Professor of Philosophy, University of Amsterdam)
  11. Dirk Moses (Spitzer Professor of International Relations, City College of New York)
  12. Quinn Slobodian (Professor of History, Wellesley College)
  13. Michael Hardt (Professor, Duke)
  14. Franco Bifo Berardi (Philosopher, Napoli)
  15. Frederick Neuhouser (Professor of Philosophy, Columbia University)
  16. Linda Zerilli (Charles E. Merriam Distinguished Service Professor of Political Science         University of Chicago)
  17. Paul Preciado (Philosopher, Paris)
  18. Dr Scilla Elworthy (Founder, The Business Plan for Peace)
  19. Rosalind Morris (Professor of Anthropology, Columbia University)
  20. Albena Azmanova (Professor, University of Kent)
  21. W. J. T. Mitchell (Professor, University of Chicago)
  22. Daniel Loick (Associate Professor of Political and Social Philosophy, Universität Amsterdam)
  23. Steven Klein (Senior Lecturer in Political Theory, King’s College London)
  24. Robin Celikates (Professor of Philosophy, Freie Universität Berlin
  25. Esra Özyürek (Professor, University of Cambridge)
  26. Jeanne Morefield (Associate Professor of Political Theory, University of Oxford)
  27. Katrin Flikschuh (Professor, London School of Economics and Political Science)
  28. Melissa Williams (Professor of Political Science, University of Toronto)
  29. Fumi Okiji (Assistant Professor, UC Berkeley)
  30. Bruno Leipold (Fellow, The New Institute)
  31. Anselm Franke  (Professor, University of the Arts Zurich)
  32. Tobias Müller (Fellow, The New Institute)
  33. Akwugo Emejulu (Professor, University of Warwick)
  34. Eva von Redecker (Berlin)
  35. Maeve McKeown            (Assistant Professor of Political Theory,  University of Groningen)
  36. William Clare Roberts (Associate Professor of Political Science , McGill University)
  37. Henrike Kohpeiß (Postdoc, Free University, Berlin)
  38. Matthias Lievens (Assistant Professor, Institute of Philosophy, KU Leuven)
  39. John Smith (Professor Emeritus of Fine Art, University of East London)
  40. Oreet Ashery (Artist)
  41. Mason Leaver-Yap (Postgraduate Studies, Glasgow School of Art)
  42. Eyal Weizman (Professor)
  43. Angela Dimitrakaki (Art historian and novelist)
  44. Yaiza Hernández Velázquez (Lecturer, Goldsmiths, University of London)
  45. Marina Vishmidt (Professor of Art Theory, University of Applied Arts, Vienna)
  46. Cecile Malaspina (Directrice de programme, College international de philosophie, France)
  47. Gabriëlle Schleijpen (Artistic director | head of program DAI Roaming Academy)
  48. Larne Abse Gogarty (Head of History and Theory of Art, Slade School of Fine Art, UCL)
  49. Peter Osborne (Professor of Modern European Philosophy, Kingston University London)
  50. Mirjam Müller (Jun.- Professor of Feminist Philosophy, Humboldt University of Berlin
  51. Charles Esche (Professor, University of the Arts, London)
  52. Nikhil Pal Singh (Professor of Social and Cultural Analysis and History, Chair of the Department of Social and Cultural Analysis, New York University)
  53. Marion Detjen (Bard College Berlin)
  54. Sultan Doughan (Lecturer, Goldsmiths)
  55. Claire Bishop (Professor, CUNY Graduate Center)
  56. David Lloyd (Distinguished Professor of English , University of California, Riverside)
  57. Alice von Bieberstein (Humboldt Universität zu Berlin)
  58. Paul Apostolidis (Professor, LSE)
  59. Aurelia Kalisky (Berlin)
  60. Maurizio Lazzarato (Philosopher, Paris)
  61. Alberto Toscano (Professor of Critical Theory, Goldsmiths, University of London / Simon Fraser University)
  62. Ana Teixeira Pinto (Professor HBK/Dutch Art Institute)
  63. William Callison (Postdoc, Uppsala University)
  64. Nadim Khoury (Associate Professor, Inland Norway University of Applied Science)
  65. Natasha Lennard (Associate Director Critical Journalism, The New School, New York)
  66. Zeynep Gambetti             (Associate Professor, Istanbul)
  67. Volkan Çidam (Assist. Prof, Boğaziçi University, İstanbul)
  68. Jacob Blumenfeld (Fellow, Centre for Social Critique, HU Berlin)
  69. Anya Topolski (Associate Professor in Political Philosophy, Radboud University)
  70. Antke Engel (Institute for Queer Theory, Berlin)
  71. Thomas Locher (Artist)
  72. Denise Ferreira da Silva (Professor, University of British Columbia)
  73. Paula Chakravarttu (James Weldon Johnson Associate Professor of Media Studies, New York University)
  74. Alexi Kukuljevic (Assistant Professor, University of Applied Arts Vienna)
  75. Giovanna Zapperi            (Professor, University of Geneva)
  76. Manuela Bojadžijev (Professor, Humboldt-University)
  77. Frieder Vogelmann (Professor for Epistemology and Theory of Science,  University of Freiburg)
  78. James Cochrane               (Emeritus Professor, University of Cape Town)
  79. Enzo Rossi (Associate Professor of Political Science, University of Amsterdam)
  80. Siddharth Soni (Research Fellow, University of Cambridge)
  81. Franz Knappik (Professor of Philosophy, University of Bergen)
  82. Daniel James (Postdoc, Technische Universität Dresden)
  83. Eyja Brynjarsdottir (Professor of Philosophy, University of Iceland)
  84. Hanna Meißner (Professor, Technische Universität Berlin)
  85. Su Ming Khoo (Associate Professor, University of Galway)
  86. Timothy Waligore            (Associate Professor Political Science, Pace University)
  87. David Welch (Professor of Political Science, University of Waterloo)
  88. Alison M Jaggar (Emerita Professor of Distinction, University of Colorado Boulder)
  89. Giovanni Mascaretti (Postdoc, University of Bergamo)
  90. Peter J. Verovšek             (Assistant Professor, History and Theory of European Integration, University of Groningen)
  91. Erin R. Pineda (Phyllis C. Rappaport ’68 New Century Term Assistant Professor of Government, Smith College)
  92. Amy Reed-Sandoval (Associate Professor, University of Nevada, Las Vegas)
  93. John Pringle       (Independent Researcher)
  94. Assel Tutumlu  (Associate Professor in Political Science, Near East University)
  95. Alasia Nuti (Senior Lecturer in Political Theory, University of York)
  96. Tirdad Zolghadr (Guest professor, University of the Arts Berlin)
  97. Mathelinda Nabugodi (Lecturer, University College London)
  98. Doriane Zerka (Assistant Professor, University of Cambridge)
  99. Sina Kramer (Associate Professor of Women’s and Gender Studies, Loyola Marymount University)
  100. Chady Seubert (Actress)
  101. Diana Abbani (Researcher, Forum Transregionale Studien)
  102. Eddie Bruce-Jones (Professor of Law, SOAS, University of London)

https://www.bostonreview.net/articles/more-than-genocide/

 

 

Der siebte Oktober 2023 – Terror und Herausforderung

Richard Glöckner, Gastautor

Der Terrorangriff von Kampftruppen der langjährigen Widerstandsgruppe Hamas am 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet zwischen dem Staat Israel und dem von Israel kontrollierten Gazastreifen war zweifellos ein äußerst gewalttätiger und in den Einzelausführungen barbarischer Terrorakt. Zwischen 1200 – 1400 unbeteiligte israelische Bürger und Gäste Israels wurden grausam ermordet. Besonders abstoßend war, dass man einzelne barbarische Vorgänge auch noch dokumentiert hat. Dass unendliche Trauer und auch Wut die spontane Reaktion und Antwort der Betroffenen sind, ist durchaus nachvollziehbar.
Angesichts dieser verheerenden verbrecherischen Tatsachen drängt sich die Frage auf, wie war so etwas möglich? Wer denkt sich solche Brutalitäten und Grausamkeiten aus und setzt sie auch noch in die Tat um? Dass hier wiederum maßlose Formulierungen in der Schuldzuweisung und krasse Rufe nach einer umfassenden Vergeltung auftauchen, ist menschlich verständlich. Auffallend ist allerdings, dass im Stimmengewirr nirgends der eigentlich übliche Ruf nach gerechter und angemessener Bestrafung der Schuldigen auftaucht.
Er fehlt auch bei denen, die für Rechtssicherheit und gesellschaftliche Ordnung verantwortlich sind und die von daher mäßigend auf die Emotionen einwirken müssten. In einem Rechtsstaat muss es um Gerechtigkeit und nicht um Rache und Vergeltung gehen. Das scheint im Staat Israel offenbar derzeit nicht anzukommen.
Im Gegenteil: Mehr als fragwürdig ist die Reaktion führender Militärs, Politiker und bekannter Personen des öffentlichen Lebens.[1] So sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“ Doron Ben David, ein berühmter Schauspieler meinte: „Gaza muss ausgelöscht werden!!!, Ausgelöscht!!! Mit allem, ohne auch nur ein Staubkorn von dem Ort zu hinterlassen, aus dem solche humanoiden Tiere kommen.“ Auch schon früher haben führende Israelis die Palästinenser etwa als »Kakerlaken auf zwei Beinen« bezeichnet. So kann auch Danny Ayalon, ehemaliger stellvertretender Außenminister sagen, „dass Israel die Zivilbevölkerung in Gaza aus Rache aushungert.“ Das Knessetmitglied Merav Ben-Ari sagte: „Die Kinder in Gaza haben sich das selbst eingebrockt.“ Kinder! Schuldig!? Offene Bestrafung? Wo sind wir? Ein israelischer Reservist fordert: „Löscht ihre Familien, ihre Mütter und ihre Kinder aus. Diese Tiere dürfen nicht mehr leben.“
Im allgemeinen Stimmengewirr geht es durchweg um »auslöschen«, »bis auf die Grundmauern zerstören«, »in Trümmer verwandeln«. „Ihr wollt die Hölle, wir werden euch die Hölle geben.“ Ministerpräsident Netanjahu bemüht sogar die Bibel und sieht in den Palästinensern das antike Volk der Amalekiter, für das es schon damals nur eine Zukunft gab: »auslöschen« (Buch Deuteronomium 25,19). „Vernichtung“ war schon bei der ersten Landnahme ca. 1200 vor Christus das Einzige, was die dort lebenden Völker zu erwarten hatten (vgl. Deuteronomium 7,2).
Einem Gegner oder Feind oder auch schlimmsten Verbrechern die Menschenwürde abzusprechen, sprengt den Rahmen einer zivilen Gesellschaft.
Dass Mitglieder in führenden politischen und gesellschaftlichen Schichten sich so äußern und eine pogromartige Stimmung schaffen, dürfte in einem von den „westlichen Werten“ geleiteten Staat, der sich selbst als „einzige Demokratie“ im Vorderen Orient bezeichnet, schwer einzuordnen sein. Diese Äußerungen werden aber von den westlichen Politikern und Medien nicht zur Kenntnis genommen. Lapidar erklärt der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, er sei sicher, dass Israel das Völkerrecht achte und einhalte. Woher mag er diese Sicherheit haben?
Im derzeitigen Stimmengewirr um die Frage, was aus Gaza werden soll, tauchen in der Presse Vermutungen auf, die sich auf Reden von führenden Politikern stützen und unter dem Stichwort Gaza-Nakba kursieren. Konkret schreibt Ariel Kallner, Mitglied des israelischen Parlaments und Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für die Beziehungen zwischen Israel und der EU: „Nakba! Nakba größer als die 48, die Alternative ist klar. Nakba in Gaza und Nakba gegen jeden, der mitmacht! Ihre Nakba wie die damals 48, die Alternative ist klar“.

Welche Vorstellungen und Wünsche werden damit laut? Die Charakterisierung der Nakba von 1948 kurz vor und nach der Gründung des Staates Israel lässt sich historisch zuverlässig recherchiert mit einigen Passagen aus den Büchern von Ilan Pappe, Die ethnische Säuberung Palästinas, Frankfurt am Main 2007, S. 130f und
Petra Wild, Apartheid und ethnische Säuberung in Palästina, Wien 2013, S. 17 belegen.

Petra Wild schreibt:
„Die ethnische Säuberung im großen Stil begann im März 1948, nachdem der innerste zionistische Führungsstab die Umsetzung des zu diesem Zweck bereits vorbereiteten »Plan Dalet« [alle den Juden zugesprochenen Regionen „araberfrei“ machen] beschlossen hatte…. Teilweise wurden die Menschen direkt vertrieben, teilweise durch Gräueltaten zur Flucht gezwungen. Massaker an der Zivilbevölkerung spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Furcht und Schrecken. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand begingen zionistische Truppen mindestens 70 Massaker und Gräueltaten, von denen die bekanntesten in Deir Yassin bei Jerusalem/al-Quds, Tantura bei Haifa und Duwayma bei Hebron/al-Khalil stattfanden.“

Ilan Pappe schreibt zur Situation in Deir Yassin im April 1948.:
„Das »freundliche Hirtendorf« hatte mit der Hagana in Jerusalem einen Nichtangriffspakt geschlossen, war aber dazu verurteilt, ausradiert zu werden, weil es innerhalb der Gebiete lag, die in Plan Dalet für die Säuberung vorgesehen waren… Als die jüdischen Soldaten in das Dorf eindrangen, nahmen sie die Häuser mit Maschinenpistolen unter Dauerfeuer und töteten viele Einwohner. Anschließend trieben sie die übrigen Einwohner an einem Ort zusammen, ermordeten sie, schändeten ihre Leichen und vergewaltigten eine Reihe von Frauen, bevor sie sie töteten. Der damals zwölfjährige Fahim Zaydan erinnerte sich, wie seine Familie vor seinen Augen ermordet wurde: »Sie holten uns nacheinander heraus, erschossen einen alten Mann, und als eine seiner Töchter schrie, erschossen sie sie ebenfalls. Dann riefen sie meinen Bruder Muhammad und erschossen ihn vor unseren Augen, und als meine Mutter sich schreiend über ihn beugte – sie hatte noch meine kleine Schwester Hudra im Arm, die sie gerade stillte –, erschossen sie sie auch.«… Unter den Opfern des Blutbades in Deir Yassin befanden sich 30 Babys…“
Petra Wild:
„In Deir Yassin wurden im April 1948 zwischen 100 und 150 der 750 Dorfbewohner – Männer, Frauen und Kinder – getötet. 25 der überlebenden Männer wurden daraufhin in blutdurchtränkter Kleidung im Triumphzug durch Jerusalem geführt, um dann in einer ruhigen Ecke der Stadt erschossen zu werden.
In Tantura wurden im Mai 1948 vor allem Männer auf den Straßen, in den Häusern und in kleinen Gruppen auf dem Friedhof des Dorfes erschossen. Einige hatten zuvor noch ihre Gräber ausheben müssen.
Die Gräueltaten in Dawayma im Oktober 1948 wurden von einem Soldaten, der direkt nach dessen Besetzung in das Dorf beordert wurde, wie folgt geschildert: Sie töteten etwa 80-100 Araber, Frauen und Kinder. Die Kinder wurden getötet, indem ihre Schädel mit Knüppeln zertrümmert wurden. Es gab kein einziges Haus ohne Tote… In dem Dorf verbliebene Männer und Frauen wurden ohne Essen und Trinken in Häuser gesteckt. Dann kamen die Pioniere, um die Häuser zu sprengen. Ein Offizier befahl einem Pionier, zwei alte Frauen in das Haus zu bringen, das zu sprengen er sich anschickte. Der Pionier weigerte sich… Also befahl der Offizier seinen eigenen Soldaten, die alten Frauen hineinzubringen und die Gräueltat wurde ausgeführt. Ein anderer Soldat brüstete sich damit, dass er eine arabische Frau vergewaltigt und dann erschossen hatte.“

Die hier skizzierten Beispiele ließen sich um viele ähnliche, wie auch die in Filmen dokumentierte, mörderische Vertreibung der Palästinenser aus Haifa erweitern. Sie verdeutlichen eines: Es hat nicht nur eine Massenflucht von etwa 700.000 Palästinensern gegeben. Die war ausgelöst und wurde vorangetrieben durch zahllose Massaker, deren unmittelbarer Zweck die Vernichtung von Palästinensern war; gleichzeitig sollten sie in der Bevölkerung chaotische Ängste auslösen und die Menschen zur Flucht treiben.
Man kann nun sagen: Das ist mittlerweile rund 80 Jahre her und damit Vergangenheit. Diese Vergangenheit ist aber in der heutigen palästinensischen Gesellschaft emotionale Gegenwart. Nimmt man die Gruppe der gewalttätigen Terroristen vom 7. Oktober, so haben möglicherweise die Ältesten von ihnen das Jahr 1948 als Kinder erlebt. Vielleicht waren sie persönlich Zeuge und sind in ihrer Erinnerung und ihrem Erleben immer noch dabei. Es geht um ihre eigene Lebensgeschichte. Vielleicht haben sie selbst erlebt, wie vor ihren Augen Mutter oder Vater erschossen wurden, wie man die Mutter vergewaltigte, bevor man sie ermordete; wie man eine Tante oder Großmutter in ein Haus zerrte, das man dann in die Luft sprengte.
Wie man Babys den Kopf mit Holzknüppeln zertrümmerte, ist zwar nicht gefilmt worden, ist aber mit Sicherheit geschehen und nicht vergessen worden. Kinder und die folgende Generation, die es nicht selber gesehen haben, erlebten es durch Erzählen und Schilderungen in ihren Familien. So oder so wuchsen sie in einer traumatisierten und traumatisierenden Umwelt auf. Die Folge war eine Atmosphäre von Verzweiflung, Wut und Hass. Die erhielt auch in den Jahren nach 1948 immer neue Nahrung durch permanente Entrechtung, Demütigungen, Schikanen und Beraubungen im alltäglichen Leben. Man lese nur einmal bei „Braeking the Silence“ und „Checkpoint Watch“ nach, wie sich der Alltag der Palästinenser nach 1967 abspielte. Und all das, „während die Welt schlief“[2] und für die Palästinenser im kollektiven Bewusstsein der Welt immer noch schläft. Am Rande werden auch heute Hinweise auf den Landraub bei der Staatsgründung, die Massaker von 1948 und den räuberischen Siedlungsbau in der Westbank manchmal zwar gestreift, ohne in ihrer traumatisierenden Wirkung ernst genommen zu werden.
Die Öffentlichkeit ist heute zu Recht fassungslos und empört über die Art, wie das Massaker am 7. Oktober durchgeführt wurde und macht sich Gedanken über die Abgründe von Niedertracht, Bosheit und Brutalität. Wenn man es aber nüchtern analytisch betrachtet, dann haben die Täter der Hamas gemäß ihrem politischen und sozialen Umfeld reagiert und umgesetzt, was sie selbst bei der Nakba und in der folgenden Unterdrückungsgeschichte erlebt haben und was sich ihrem Leben emotional eingebrannt hat. Ihr Tun weist sie nicht als »humanoide Tiere« aus, sondern zeigt, wozu zutiefst verletzte Menschen fähig sind. Sie waren am 7. Oktober nicht aus dem Nichts des absolut Bösen plötzlich da, sondern handelten getrieben von einer von Hass und Wut entstellten Lebensgeschichte. Erlittene Gewalt haben sie ungefiltert in einen Ausbruch von Wut, Hass, Grausamkeit und Verzweiflung umgesetzt. Sie demonstrieren in erschreckender Unmittelbarkeit die Umwandlung von Opfern in Täter. Kann man diese Überlegungen wirklich nur als ein psychologisierendes Mutmaßen oder eine realitätsferne Spinnerei abtun, oder liegen sie bei normalem menschlichem Empfinden nicht einfach auf der Hand?

Es fordert schon Mut gegenüber dem eigenen Erschrecken, die Zusammenhänge so zu interpretieren. Aber die einseitige und ausschließliche Konzentration auf das Leid der Opfer vom 7. Oktober weigert sich, die Problematik in ihrer wirklichen Abgründigkeit wahrzunehmen. Die Ermordeten und die schockierten und trauernden Hinterbliebenen sind Teil einer sie umklammernden Geschichte, die sich nicht in Luft auflösen lässt. Wenn man den Hinweis auf diese Verbindungen als moralisch unangemessen und empörend zurückweist, sollte man nicht vergessen, dass Israelis das Attentat ständig mit dem Holocaust in Verbindung bringen, die Attentäter als geistige Nachfolger der Nazis bezeichnen. Aber die Geschichte Israels und die der Palästinenser ist wesentlich enger miteinander verwoben als palästinensische Beziehungen zum NS-Reich. Die Geschichte Israels hat die Palästinenser wesentlich intensiver geprägt als der behauptete, ideologisch und emotional entlastende Brückenschlag zu Nazideutschland. Die heute oft gezeigten trauernden Familien in Israel verdienen Anteilnahme und Respekt vor ihrer berechtigten Forderung nach Wiedergutmachung. Man darf sie aber nicht einfach trennen von den von der Nakba Betroffenen – von den mittlerweile ein Leben lang trauernden palästinensischen Müttern und Kindern, die über Jahrzehnte nicht wahrgenommen wurden und noch heute leicht aus dem Blickfeld geraten. Die Söhne dieser Mütter wissen um eine äußerst leidvolle Vergangenheit und haben zudem ein Leben ohne jede Perspektive vor sich. Die heutigen Bilder und Stellungnahmen in offiziellen radikalen Verurteilungen und in den Medien fangen nur einen Teil der Wirklichkeit ein und blenden den Blick auf das ganze Geschehen aus. Aber dieser ausgeblendete Teil der Geschichte hat maßgeblich dazu beigetragen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Täter der Hamas haben schreckliche Verbrechen begangen, aber nicht aus Mordlust oder getrieben von tierischen Instinkten. Es ist der aus einer Mischung von Wut, Hass und Verzweiflung geborene Versuch, die hoffnungslose Lage der Palästinenser – besonders im Freiluftgefängnis Gaza – zu ändern; sie wenigstens ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu bringen. Die Hamas versteht sich als die einzige Stimme und Kraft, die noch aktiv für die Belange von Gaza und der Palästinenser etwas erreichen kann. Ob dies angesichts ihrer rapide sinkenden Popularität bei der Bevölkerung in Gaza noch gilt, ist fraglich. Zudem kämpfen sie mit äußerst fragwürdigen Methoden für eine Befreiung und die Freiheit Palästinas. Jüdische Brigaden haben 1948 grässliche Verbrechen begangen, um den Staat Israel zu etablieren. Betrachtet man allein ihre Taten, so kann man hier Verbrecher gegen Verbrecher stellen – von ihrer Intention her heldenhafte Patrioten gegen Freiheitskämpfer – nicht einfach gegen Terroristen. Beide Kategorien sollte man gelten lassen.

Wie kann es weitergehen? Wenn heute führende Stimmen in Israel als Antwort auf die Ermordungen eine neue Gaza-Nakba ins Spiel bringen, so macht das fassungslos. Soll die Zukunft der Palästinenser in der Wiederholung eines Schandkapitels jüdischer Geschichte im Umfeld der Gründung des Staates Israel liegen? Anstatt die verständlichen Emotionen der vom Attentat Betroffenen noch anzuheizen, sollte der Staat Israel darüber nachdenken und zugeben, inwiefern er selbst für die Katastrophe verantwortlich ist und ernsthaft nach Möglichkeiten suchen, die politisch und sozial explosive Situation zu entschärfen. Ministerpräsident Netanjahus Worte: „Die Besatzung wollen wir nicht abschaffen, wir wollen sie verwalten.“ zeigte am 7. Oktober ein fürchterliches Zwischenergebnis!
Dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Guterres ist zuzustimmen, wenn er sagte, die Katastrophe sei nicht in einem »luftleeren Raum« geschehen. Damit wollte er die Verbrechen und das Leid der Betroffenen weder relativieren noch verharmlosen. Er wollte darauf aufmerksam machen, dass weitere ähnliche Katastrophen nur vermieden werden können, wenn man ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgeht und daraus lernt, dass Gewalt nur neue Gewalt provozieren wird. Auf keinen Fall gibt es die uneingeschränkt Guten auf der eigenen Seite und die unsagbar und deshalb unerreichbar Bösen auf der anderen Seite. Nur wenn Israel bereit ist, mit diesem erlittenen furchtbaren Unrecht im Hinblick auf die eigenen Schwächen maßvoll umzugehen und einen für alle Seiten gerechten Neuanfang sucht, kann es in Palästina Frieden geben.

Es werden mehr israelische Soldaten sterben, wenn es nicht sofort zum Waffenstillstand kommt

Von Abraham Melzer, 19.11.2023

Franz Fanon hat in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“ solche Gewalt wie am 7. Oktober 2023 vorausgesehen. Zu den Unterdrückten und kolonisierten, die er in seinem Buch beschreibt, gehören auch die Palästinenser. Weil Greta Thunberg Empathie für diese Elenden und Unterdrückten hat, wirft der Spiegel ihr vor, sie würde jüdisches Leid missachten. Missachtet denn jemand, der jüdisches Leid sieht zwangsläufig palästinensisches Leid? Nein. Ist Grete deshalb eine Antisemitin, wie es der Spiegel suggeriert? Nein. Unsere Moral und unsere Erziehung zu Gerechtigkeit fordern von uns das Leid derjenigen zu sehen und die Stimme derjenigen zu hören, die unterdrückt werden und für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.
Ich habe in ihrem langen Artikel nirgends gelesen, dass Greta Thunberg mit der Hamas sympathisiert oder auch nur mit einem Satz die bestialischen Taten der Hamas entschuldigte oder rechtfertigte. Für sie und viele aus der Umweltbewegung war die Brutalität des Hamas-Angriffs vom 7.Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einer ständigen unvorstellbaren Gewalt ausgesetzt, ebenso wie einer schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler. Diese Tatsachen werden in der Debatte um den Nahost-Konflikt ständig ausgeblendet, so, als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Es interessiert offensichtlich auch niemanden, dass im Gazastreifen etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge sind.
Wenn Greta Thunberg die Lage der Palästinenser anspricht, und nicht Antisemitismus predigt, zeigt sie nicht zwangsläufig, dass ihr Blick auf Israel kalt und distanziert ist. Sie kann Mitleid empfinden mit Palästinenser und gleichzeitig auch mit den jüdischen Opfern des Überfalls. Es ist ja nicht verboten mit beiden Seiten des Konflikts Mitleid zu haben. Und ihr vorzuwerfen, dass sie die „Klima-Bühne“ für eigene Zwecke benutzt bzw. missbraucht ist zynisch und verwerflich. Denn dann müsste man auch Joseph Schuster und Benjamin Netanjahu vorwerfen, dass sie den Holocaust für eigene Propaganda benutzen.
In Deutschland reagieren viele reflexartig, wenn es um Israel geht. Sie unterstützen „bedingungslos“ Israel und die Juden, aus Angst, dass jede Kritik an Israel, ein Zeichen von Antisemitismus sein könnte. Wenn man die palästinensische Seite unterstützt oder nur Verständnis für sie hat, ist man ein Antisemit. Und wenn man es so tut wie ich, dann wird man von einer Charlotte Knobloch beleidigt und diffamiert man sei ein „Berüchtigter Antisemit“, obwohl ich Jude und Israeli bin, der sogar in der israelischen Armee gedient hat.
Man wirf Greta und anderen kritischen Zeitgenossen, sie würde Israel vernichten wollen, wenn sie „Free Palestine from the River to the Sea“ skandieren. Dabei steht in der Gründungscharta von Benjamin Netanjahus Likud und früher auch in Menachem Begins Herut-Partei: „Israel – zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan-Fluss.“ Ist das nicht dasselbe? Nicht ganz. Während die Israelis ein ethnisch rein jüdisches Land wollen, meinen die Palästinenser Freiheit und Unabhängigkeit für alle.
Für viele, besonders in Deutschland, beginnt die Gewalt am 7. Oktober. Aber die Gewalt zwischen Juden und Palästinenser hat eine lange Geschichte. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in wenigen Wochen gemessen. Es handelt sich nicht um eine einzige, wenn auch bestialische, Terrortat, sondern um eine lange Liste von Zerstörung, Rache, Trauma. Seit der Nakbah 1948. Hunderte palästinensische Dörfer sind von der Landkarte getilgt worden und auf deren Ruinen sind israelische Kibbuzim und Städte gebaut worden. Und während das moderne Israel entstanden ist, wurden die im Land übriggebliebenen unterdrückt und unter Militärverwaltung unterstellt.
Dann wurde auch die Westbank erobert und seit Jahrzehnten leiden die Palästinenser unter militärischer Besatzung und militärischer Gerichtsbarkeit. Die Kriege von 1967 und 1973 haben nochmals die Geografie des Gebietes zugunsten Israels geformt und die Palästinenser zu Fremden in ihrem eigenen Land gemacht, zu Staatenlosen. Im Gazastreifen, der oft als das größte „Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt das Gebiet zu verlassen oder zu betreten.
Alle diese Tatsachen wurden in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und der Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob der Angriff vom 7. Oktober, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum stattgefunden hat.
Seit Gründung des Staates Israel sind die Palästinenser Bürger zweiter Klasse – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden und nicht als die fünfte Kolonne. Nach israelischem Recht haben die Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Jüdische Einwanderer haben dieses Recht vom ersten Tag ihrer Ankunft im Land. Palästinenser genießen nicht das Recht auf Freizügigkeit und dürfen nicht überall wohnen. Sie besitzen besondere Ausweise und dürfen nicht Verwandte und Freunde in anderen Ländern ohne weiteres besuchen. Und vom „Rückkehrrecht“, dass jüdischen Einwanderer zustehen, auch wenn ihre Familien niemals in Israel oder Palästina gelebt haben, es sei denn vor mehr als zweitausend Jahren, können die 1948 vertriebenen Palästinenser nicht einmal träumen.
Die Gewalttat vom 7. Oktober war grausam und schrecklich. Aber, wie schon gesagt, sie fand nicht in einem Vakuum statt. Die totale Kontrolle des täglichen Lebens, die gewaltsamen nächtlichen Razzien, die Verhaftung von Jugendlichen und der Bau illegaler israelischer Siedlungen bilden den Hintergrund für diesen Ausbruch, den ich keineswegs toleriere. Leider ignoriert die israelische Gesellschaft aber auch der gesamte Westen diese historisch belegbaren Tatsachen.
Im Laufe der ganzen Zeit seit Gründung des Staates Israel haben die verschiedenen israelischen Regierungen sehr deutlich gemacht, dass sie an Frieden nicht interessiert sind, dass ein separater, souveräner, palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt und dass sie überhaupt kein Interesse haben, dass es eines Tages dort liegen soll. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich derart normalisiert, dass Benjamin Netanjahu zuletzt gemeint hat, dass es reicht „den Konflikt zu verwalten“. Die internationale Gemeinschaft hat es geduldet und war nicht willens oder in der Lage die israelische Regierung bzw. Regierungen zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben aber diesen Zustand durchbrochen. Die Unmöglichkeit den Konflikt zu „verwalten“, wurde allen sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit zwei Völker zu regieren und eines davon zu privilegieren mit vollen Bürgerrechten und den anderen zu benachteiligen durch den Entzug solcher Rechte.
Was nun? Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Es liegen dunkle Zeiten vor uns. Wenn man den „Frieden“ vor dieser radikalen Tat beschwört, dann galt dieser Frieden, wenn überhaupt, nur für die Israelis, die frei waren überall hin zu reisen und wo sie nur begehrten zu wohnen, abgesehen von allen anderen Freiheiten, die sie genossen, zuletzt die Demonstrationen gegen Netanjahu. Für die Palästinenser gab es seit 1948 keinen Frieden. Diejenigen, die im späteren Israel geblieben sind, lebten bis 1956 unter Militärverwaltung. Sie durften ohne Erlaubnis seitens des Militärs ihre Dörfer nicht verlassen und wurde beschossen, wenn sie demonstriert haben.
Schon Anfang der 50er Jahre sagte die jüdische Philosophin Hannah Arendt, dass es in Palästina bzw. Israel zu Jahrzehnten langer Gewalt kommen würde, weil Ben-Gurion auf eine jüdische Souveränität beharrte. Und der israelische Religionsphilosoph Leibovitz sagte 1967, unmittelbar nach dem Sieg im Sechstage Krieg, dass Israel am siebten Tag den Krieg verloren hat, weil es sich entschlossen hatte die eroberten Gebiete zu behalten.
Wenn man heute, nachdem man diesen und andere Fehler gemacht hat und es wäre zynisch und falsch auf die Palästinenser zu zeigen, die damit nicht einverstanden waren, fragt, wie man aus diesem Teufelskreis herauskommt, dann gibt es nur eine Antwort: Das Ende der Besatzung und einen gerechten Weg zur Anerkennung des palästinensischen Rechts auf einen eigenen Staat. Aber Israel und jüdische Zionisten wie Josef Schuster und andere müssen endlich auch aufhören den Vorwurf des Antisemitismus zu instrumentalisieren, um eine Zensur bei dem Diskurs über den Nahost-Konflikt zu erzwingen. Der Konflikt hat mit Antisemitismus nicht das Geringste zu tun. Es ist ein Konflikt um Land, Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden. Die Palästinenser hassen nicht die Juden, sondern ihre Unterdrücker. Und wenn diese Eskimos wären, dann würden sie die Eskimos hassen. Aber es sind nicht die Eskimos, die Gaza platt machen und tausende von Kindern und Erwachsene töten.
Das Morden in Gaza muss aufhören. Es reicht. Fast alle Menschen verurteilen das, was die israelische Armee als Krieg gegen die Hamas nennt. Es ist aber eine Strafaktion, die von hasserfüllten, fanatischen israelischen Politikern inszeniert wurde und wird. Manche nennen es „Völkermord“, denn es entspricht der Definition der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Dort heiß es: …Handlungen in der Absicht eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.“ Massentötungen von Zivilisten sind ein Mittel, mit dem Völkermord begangen wird.
Ich bin aber auch der Meinung, dass die Hamas benannt und für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden muss, auch wenn ich der Meinung bin, dass ein unterdrücktes Volk sich wehren darf gegen seine Unterdrücker, und das ist nicht immer „Terrorismus“. Wir dürfen nicht vergessen, dass zB die Engländer, als sie das Mandat des Völkerbunds für Palästina hatten, Politiker wie Begin und Organisationen wie den „Irgun“ oder „Lechi“ auch als Terroristen bezeichnet haben. Und die Mau-Mau Gruppe, die für die Unabhängigkeit Kenjas gekämpft hat und grausame Massaker verübte, wurde selbstverständlich auch als Terroristen benannt. Aber kaum war der Krieg 1963 beendet und Jomo Kenyata, der „berüchtigte Terrorist“ zum Ministerpräsidenten gewählt, wurde er in London von der Königin mit allen Ehren empfangen.
Das Ende der Besatzung wird sicherlich dazu beitragen der Gewalt ein Ende zu setzen, auch wenn ich Kenya und England nicht vergleichen möchte mit Israel und die Hamas. Der Frieden aber muss von der Bevölkerung kommen. Von der israelischen Bevölkerung zuerst. Gideon Levy, der legendäre Journalist und Kritiker der israelischen Politik, sagte dem Spiegel auf die Frage nach der Zukunft Israels: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieg (mit der Hamas) zu etwas Gutem führt. Ich habe immer gedacht, dass es erst extrem schlecht werden muss, bevor es gut wird. Dass Israel einen Weckruf braucht, um endlich eine echte Lösung zu finden.“ Auch ich war dieser Meinung. Aber es scheint, als ob der 7. Oktober noch nicht ein „extrem“ schlechter Tag war. Es muss wohl noch schlechter kommen, damit die rechten, messianischen und gewaltverherrlichenden Kräfte in Israel und vor allem in der Regierung Israels, kapieren, dass Gewalt nicht die Lösung ist. Und wenn sie es nicht kapieren wollen oder können, dann muss man sie entweder ins Gefängnis stecken oder aus dem Land vertreiben.
Antisemitismus ist Rassismus und davon gibt es in Israel mehr als genug. Dahinter verbirgt sich eine Haltung vieler Israelis, die schon seit Jahren andauert. Diesen Hass gegenüber den Palästinensern gab es schon immer, seit der Staatsgründung. Ich habe es schon im Kindergarten erlebt und gelernt. Aber nun kam dieser barbarische Angriff und gab all dem Hass, dem Rassismus und der Gewalt, die schon immer da waren, noch mehr Munition. Der Krieg in Gaza hat mit Israels Sicherheit nichts zu tun. Es ist pure Rache, die mit Verachtung und Hass getränkt ist. Gideon Levy sagt: „Man kann heute eine Waffe nehmen, die vom Polizeiminister Ben Gvir sogar umsonst verteilt wird, ins Westjordanland gehen, einen Hirten töten, und niemand wird das groß untersuchen“ geschweige denn bestrafen. Es werden aber immer mehr israelische Soldaten sterben, und die Lage wird noch aggressiver werden, wenn es nicht sofort zum Waffenstillstand kommt.
„Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden“ proklamierte schon vor mehr als 2500 Jahren der Prophet Jeremias. Es gibt wohl keine Flecken auf dieser Erde, der mit mehr Blut getränkt ist als der Nahe-Osten. Liest man die Bibel dann liest man von unzähligen Kriegen, Eroberungen, Gewalt und Hass. Hat Moses nicht seinen Kriegern befohlen das Volk der Amalekiter von der Erde zu vertilgen? Die Israelis begrüßen sich täglich mit „Shalom“ und die Araber mit „Salam“ und es gibt keinen Frieden zwischen ihnen. Die Weltgeschichte erzählt mehr von Kriegen als vom Frieden. Und Frieden gehört in das Reich der Märchen.

DIESER KRIEG BEGANN NICHT VOR EINEM MONAT

von Dalia Hatuqa

Dalia Hatuqa ist eine unabhängige Journalistin, die sich auf Palästina und Israel spezialisiert hat. Diesen Artikel hat sie in Ramalllah, Westjordanland, geschrieben.

Seit einem Monat ist das normale Leben in Ramallah – einer Stadt im Westjordanland, die normalerweise für ihre junge Bevölkerung und ihr pulsierendes Nachtleben bekannt ist – zum Stillstand gekommen.
Seit den tödlichen Angriffen der Hamas am 7. Oktober haben die israelischen Streitkräfte zahlreiche Razzien im Westjordanland durchgeführt und Menschen aus allen Gesellschaftsschichten verhaftet: Studenten, Aktivisten, Journalisten und sogar Personen, die im Internet zur Unterstützung des Gazastreifens posten. Luft- und Drohnenangriffe haben Häuser und Straßen zerstört, zahlreiche Flüchtlingslager ins Visier genommen und die Al-Ansar-Moschee fast dem Erdboden gleichgemacht. Letzten Monat zerstörten die israelischen Streitkräfte die Gedenkstätte für die Al Jazeera-Journalistin Shireen Abu Akleh an der Stelle, an der sie vor mehr als einem Jahr bei einer Reportage getötet wurde.

In der Zwischenzeit hat ein Siedlungsrat Hunderte von Sturmgewehren an zivile Gruppen in Siedlungen im nördlichen Westjordanland verteilt. Dies ist Teil einer größeren Anstrengung des Ministers für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir, der selbst ein Siedler ist, zivile Gruppen nach den Anschlägen vom 7. Oktober zu bewaffnen. Bislang hat das Ministerium 10.000 Sturmgewehre für solche Teams im ganzen Land gekauft. Dies ist Teil der eskalierenden Gewalt, die seit dem 7. Oktober mehr als 130 Palästinenser im Westjordanland getötet hat.
Für die Palästinenser ist diese Art von systematischer Gewalt nichts Neues.
Für viele innerhalb und außerhalb dieses Krieges war die Brutalität der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober unvorstellbar, ebenso wie das Ausmaß und die Grausamkeit der israelischen Vergeltungsmaßnahmen. Aber die Palästinenser sind seit Generationen einem ständigen Strom unvorstellbarer Gewalt ausgesetzt – ebenso wie der schleichenden Annexion ihres Landes durch Israel und israelische Siedler.

Wenn die Menschen diesen jüngsten Konflikt verstehen und einen Weg in die Zukunft für alle sehen wollen, müssen wir ehrlicher, nuancierter und umfassender über die jüngsten Jahrzehnte der Geschichte in Gaza, Israel und dem Westjordanland sprechen, insbesondere über die Auswirkungen von Besatzung und Gewalt auf die Palästinenser. Diese Geschichte wird in Jahrzehnten, nicht in Wochen gemessen; es handelt sich nicht um einen einzigen Krieg, sondern um ein Kontinuum von Zerstörung, Rache und Trauma.
Seit der Nakba von 1948 – bei der ganze palästinensische Dörfer von der Landkarte getilgt und der moderne Staat Israel gegründet wurde – haben die Palästinenser eine Unterdrückung erduldet, die ihr tägliches Leben bestimmt hat. Seit Jahrzehnten leiden wir unter der militärischen Besatzung Israels sowie unter einer Reihe von tödlichen Invasionen und Kriegen. Die Kriege von 1967 und 1973 haben dazu beigetragen, die moderne Geografie und Geopolitik des Gebiets zu formen, in dem Millionen von weitgehend staatenlosen Palästinensern zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland aufgeteilt sind. Im Gazastreifen, der oft als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet wird, ist es den Palästinensern untersagt, das Gebiet zu betreten oder zu verlassen, es sei denn, dies geschieht unter äußerst seltenen Umständen.

Diese Geschichte wurde in der Diskussion um den Krieg zwischen Israel und Hamas weitgehend ausgeblendet, so als ob die Angriffe vom 7. Oktober völlig willkürlich gewesen wären. Die Wahrheit ist, dass die Palästinenser selbst in Zeiten relativen Friedens in Israel Bürger zweiter Klasse sind – wenn sie überhaupt als Bürger angesehen werden. Nach israelischem Recht haben Palästinenser nicht das Recht auf nationale Selbstbestimmung, das jüdischen Bürgern des Staates vorbehalten ist. Eine Vielzahl von Gesetzen schränkt das Recht der Palästinenser auf Freizügigkeit ein und regelt alles, von der Frage, wo sie wohnen dürfen, über die Frage, welche persönlichen Ausweise sie führen dürfen, bis hin zu der Frage, ob sie Familienangehörige in anderen Ländern besuchen dürfen oder nicht.
Das „Rückkehrrecht“ – das Recht der Palästinenser und ihrer Nachkommen, in die Dörfer zurückzukehren, aus denen sie während des Krieges von 1948 ethnisch gesäubert wurden – ist für viele Palästinenser von zentraler Bedeutung, da so viele von ihnen rechtlich gesehen immer noch Flüchtlinge sind. Im Gazastreifen zum Beispiel sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung Flüchtlinge. Dieser Status ist keine abstrakte Größe, sondern bestimmt alles, vom Wohnort bis hin zu den Schulen und Ärzten, die sie besuchen.
Viele Bewohner des Gazastreifens haben Eltern und Großeltern, die nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt aufgewachsen sind, an dem sie jetzt leben, in Gebieten, die sie natürlich nicht mehr betreten dürfen. Sie erinnern sich noch gut an ihre Kindheit oder Jugend, als sie durch Zitrushaine in Yaffa oder Olivenfelder in Qumya spazierten – letzteres wurde, wie viele Dörfer, deren Bewohner während des Krieges von 1948 nach Gaza vertrieben wurden, später in einen Kibbuz umgewandelt.

In den letzten 75 Jahren gab es Zeiten, in denen die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern zunahm. Diesen Zeiten gingen jedoch in der Regel Zeiten verstärkter Konflikte voraus, wie die erste und zweite Intifada oder Volksaufstände. Die Intifadas, in denen die Palästinenser im Westjordanland in großem Stil Widerstand leisteten, mal zivil, mal gewaltsam, werden von den westlichen Medien oft als willkürliche oder wahllose Ausbrüche mörderischer Grausamkeit dargestellt – wie im Fall der Anschläge vom 7. Oktober. Diese Gewalttaten fanden jedoch nicht in einem Vakuum statt. Die schwierigen Bedingungen in den palästinensischen Gemeinden – einschließlich der immer strengeren Kontrolle des täglichen Lebens durch gewaltsame nächtliche Razzien, Verhaftungen, militärische Kontrollpunkte und den Bau illegaler israelischer Siedlungen – bildeten den Hintergrund für diese Ausbrüche. Leider scheinen diese Gewalttaten aus historischer Sicht das Einzige zu sein, was die Palästinenser politisch bewegt hat.
Der Tod und die Zerstörung, die wir Palästinenser kollektiv miterlebt und ertragen haben, haben unser Generationstrauma verlängert. Schon vor diesem Konflikt waren PTBS und Depressionen in den palästinensischen Haushalten weit verbreitet. Als junge Bevölkerung sind die Kinder die Hauptleidtragenden der israelischen Militärherrschaft: Viele werden nachts aus ihren Betten oder aus den Armen ihrer Mütter gerissen, geschlagen und inhaftiert, nachdem sie willkürlich vor Militärgerichte gestellt wurden. Andere werden erschossen und gelähmt, wenn nicht gar getötet.

In Gaza haben diese Opfer praktisch keine rechtliche Möglichkeit, sich an den israelischen Staat zu wenden. Während der 16-jährigen Belagerung des Gazastreifens haben die israelischen Behörden den Zugang zu Elektrizität, Lebensmitteln und Wasser kontrolliert und zu einem bestimmten Zeitpunkt die Anzahl der Kalorien festgelegt, die die Bewohner des Gazastreifens zu sich nehmen durften, bevor sie in die Unterernährung rutschten. Sie haben auch zugelassen, dass der Gazastreifen und die besetzten Gebiete als Testgelände für Israels gepriesene Sicherheitstechnologiefirmen dienen. Viele Menschen aus dem Gazastreifen haben die gefährliche Reise über das Mittelmeer gewagt, nur um auf dem Weg dorthin zu sterben.
Da der Gazastreifen seit 16 Jahren abgeriegelt ist und das Westjordanland durch die Gewalt der Siedler und der Armee weitgehend unter Kontrolle gehalten wird, konnte Israel seine Besetzung auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten. Die periodischen Gewaltausbrüche – wie gelegentliche Angriffe kleiner Gruppen oder Einzelkämpfer und Raketenbeschuss – untermauern die Rechtfertigung des Staates für die langfristige Kontrolle der Palästinenser und des palästinensischen Landes.

Im Laufe der Jahre haben Premierminister Benjamin Netanjahu und seine Berater sehr deutlich gemacht, dass ein separater, souveräner palästinensischer Staat nicht auf dem Verhandlungstisch liegt. Ebenso wenig wie die Möglichkeit, den Palästinensern die Rechte einzuräumen, die Israelis genießen. Der Status quo der endlosen Besatzung – und die regelmäßigen Zyklen der Gewalt – haben sich also normalisiert, und die internationale Gemeinschaft scheint nicht willens oder in der Lage zu sein, die israelische Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
Die Anschläge vom 7. Oktober haben diesen Zustand durchbrochen. Die Unhaltbarkeit der Besatzung wurde für alle sichtbar, ebenso wie die Unmöglichkeit, zwei Völker zu regieren, ohne eines von ihnen gegenüber dem anderen zu privilegieren.

Es liegen dunkle Zeiten vor uns – so viel wissen wir. Da wir Kriege, Invasionen und Bombardierungen miterlebt haben, haben wir uns auf das Schlimmste eingestellt. Im Westjordanland ist die Moral auf den ruhigen Straßen niedrig. Arabische Satellitennachrichtensender, die rund um die Uhr senden, untermalen das tägliche Leben mit einer dröhnenden, allgegenwärtigen Geräuschkulisse. Sie zeigen einen ständigen Strom schrecklicher Bilder und Videos: alle schockierend, aber nicht beispiellos.
Ein Gefühl der Hilflosigkeit durchdringt die Städte und Dörfer des Westjordanlandes, während wir zusehen, wie immer mehr palästinensische Mitbürger – nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen inzwischen mehr als 11.100 – ihr Leben verlieren. Israelische Beamte haben vorgeschlagen, die Bevölkerung des Gazastreifens in die ägyptische Sinai-Wüste zu drängen, was sie doppelt und dreifach zu Flüchtlingen machen und das israelische Siedlerprojekt vielleicht in eine neue, noch expansivere Phase führen würde. Im Westjordanland schauen wir uns um und fragen uns: Könnte das auch hier passieren? Passiert es bereits?

Jede Art von gemeinsamer Zukunft ist höchstwahrscheinlich noch weiter entfernt als noch vor einem Monat. Aber das wussten die Palästinenser bereits. Galt der Tag vor den Angriffen der Hamas als „Frieden“? Für die Israelis vielleicht schon, für die Palästinenser aber nicht.

(Geöffneter) Brief an Markus Lanz und Dr. Himmler Von Abi Melzer

Sehr geehrter Herr Markus Lanz,
sehr geehrter Herr Dr. Norbert Himmler

ich bin immer ein Fan von Markus Lanz´ Talkshows gewesen. Ich fand auch Genugtuung, dass Sie für die Sendung vom 15.11.2023 eine Person wie Frau Khala Maryam Hübsch eingeladen haben, die ich seit Jahren kenne. Ich war mit ihrem Vater befreundet., und ich schätze sie für ihre Klugheit und Besonnenheit. Auch die Teilnahme von Yazan Abo Rhamie war ein Gewinn, auch wenn er zu wichtigen politischen Fragen keine gleichgewichtigen Argumente zu Frau Hübsch vortragen konnte.
In Ihrer ersten Sendung nach dem 7.10. saß Melony Sucharewicz an Ihrem Table. Sie versuchte, ohne auf irgendeinen Widerspruch zu stoßen, die deutsche Öffentlichkeit auf erwartete Kriegsverbrechen im entstehenden Gaza-Krieg einzuschwören. Sie forderte zur Einschränkung der Meinungsfreiheit auf. Demonstrationen gegen „Zionismus“ sollen nicht mehr gestattet werden. Wahrheitswidrig behauptete sie, die Hamas habe angedroht, auf Bombardierung von Häusern mit der Tötung von entführten israelischen Zivilisten zu antworten. Die Hamas hatte solches für den Fall angekündigte, wenn Häuser ohne Vorwarnung bombardiert werden würden.
In der Folge gab es eine Sendung mit Michael Wolffsohn, der unwidersprochen sagen konnte, die Palästinenser hätten „auf dem Silbertablett präsentierte Friedenslösungen immer wieder abgelehnt“ usw. Sie, Herr Lanz und Herr Himmler, saßen da wie ein Schuljunge im Frontalunterricht. In Wirklichkeit hat Israel jede Chance vorrübergehen lassen, die zu einem Frieden hätte führen können.
Verglichen mit den beiden Sendungen war die gestrige ein Fortschritt, obwohl Frau Hübsch leider nicht hart genug gegen Ihre feindselige Art der Moderation opponierte. Ich greife als Beispiel die Diskussion zum Begriff „Apartheid“ auf: Natürlich besteht im traditionellen Staatsgebiet Israels keine Apartheid. Trotzdem lässt es sich nicht verschleiern, dass die palästinensischen Staatsangehörigen auf allen Gebieten benachteiligt sind. Frau Hübsch sprach aber von den sog. „Besetzten Gebieten“, in denen für die indigene Bevölkerung Militärrecht gilt, aber israelisches Recht für die Juden der Siedlungen wie im israelischen Kernland. Sie meinte auch, dass es in diesen besetzten Gebieten getrennte Straßen für Juden und Palästinenser gäbe und vieles mehr. Diesen Zustand bezeichnen viele Organisationen und Experten als Apartheid. Ihre Aufregung, Herr Lanz, war nutzlos und unnötig.
In letzter Zeit empfinde ich die Art und Weise, wie Sie ihre Gäste befragen, wie Sie sie regelrecht attackieren, beleidigen und diskreditieren, als sehr befremdet und zuweilen als unerträglich.
Gerade die Sendung vom 15.11.2023 fand ich als ausgesprochen skandalös. Wir als Zuhörer wollen schließlich die Meinungen der Gäste erfahren, auch wenn diese zwischen langweilig und empörend oszillieren. Wir möchten aber nicht lange und aggressive Einschübe von Herrn Lanz anhören und zusehen müssen, wie er seine Gäste kränkt und herabsetzt. Die Art und Weise, wie er gestern z. B. Frau Khala Maryam Hübsch angegriffen hat, war kaum auszuhalten. Dabei war sie die Einzige, die zur Sache vernünftige Ansichten hatte, zusammen mit dem jungen Palästinenser Yazan Abo Rahmie.
Sie dürfen doch nicht Frau Hübsch derart aggressiv und besserwisserisch fragen, ob sie schon mal in Gaza gewesen sei. Das hätte doch über ihre Qualität und zur Richtigkeit Ihrer Meinung nichts ausgesagt. Niemand braucht in Gaza gewesen zu sein, um zu wissen, was dort derzeit abläuft. Die Medien berichten hierzu überaus anschaulich. Unsere Massenmedien halten uns minütlich und beinahe jede Sekunde auf dem Laufenden. Es ist auch nicht von elementarer Bedeutung, ob „nur“ 9000, 10000 oder 11000 Menschen von der israelischen Armee getötet wurden. Warum bestanden Sie so hartnäckig darauf, dass man den Zahlen der Hamas nicht vertrauen könne, so dass man zuweilen den Eindruck bekam, Sie stünden im Sold der israelischen „Hasbara“. Dabei hatten uns die früheren Gaza-Kriege, die auch nur Kriege in Anführungszeichen, in Wirklichkeit jedoch brutale Strafaktionen Israels waren, schon gezeigt, dass die Zahlen der Hamas stets mehr oder weniger mit den Zahlen der UNO oder anderer Organisationen übereingestimmt haben. Sie haben den Eindruck erweckt, dass Frau Hübsch leichtgläubig die Zahlen der Hamas wiedergäbe. Hat es denn überhaupt eine Bedeutung ob 5000 Kinder getötet wurden oder „nur“ 3000? Und als Höhepunkt der Arroganz und Beleidigung haben Sie noch behauptet, dass Sie in Gaza waren. Damit wollten Sie den Eindruck erwecken, dass Sie es besser wüssten. Da möchte ich von Ihnen erfahren: Wie lange? Wie viele Tage oder besser wie viele Stunden? Und, weil Sie mal als Reporter durch Gaza gefahren sind, wollen Sie glauben, dass Sie besser wissen, was in Gaza los ist?
Ich war vor 40 Jahren auch in Gaza, als man noch unbefangen und furchtlos durch Gaza fahren konnte. Dennoch würde ich nicht behaupten, Gaza zu kennen. Sie sollten Ihre persönlichen Eindrücke bescheidener ausschlachten und nicht den Eindruck erwecken, dass man Gaza mit seiner Struktur und seinen Flüchtlingslagern nach einem Tagestrip kennen würde.
Frau Hübsch hat absolut zu Recht die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verlangt. Das müsste jedem halbwegs vernünftigen Menschen einleuchten. Ganz besonders müssten sich die Freunde Israels dieser Forderung anschließen. Ich halte es deshalb für unaufrichtig und zynisch, wenn unsere Politiker behaupten, dass sie Freunde Israels seien und gleichzeitig die Israelis ermuntern, den Krieg mit der Tötung von Kindern fortzuführen. Fühlen sich die Deutschen dann weniger schuldig, wenn sie Juden verführt haben, in der Panik eines Krieges Frauen und Kinder getötet zu haben?
Die Freunde Israels stimmen einer gefährlichen militärischen Doktrin zu, die unverzeihliche Fakten schafft, die einem irgendwann gewollten Frieden im Wege stehen werden. Frieden schließen nicht Freunde. Frieden müssen Feinde machen. Aber das sinnlose Töten von Zivilisten kann doch nur immer neue Feinde und immer neue „Terroristen“ hervorbringen. Das zeigen uns die Kriege seit 1948 wieder und wieder sehr anschaulich. Die Kinder von heute, die zusehen müssen, wie ihre Familien „ermordet“ werden, müssen geradezu die „Freiheitskämpfer“ von morgen sein wollen. Sie werden von Generation zu Generation radikaler, brutaler und unversöhnlicher. Unverständlich? Wenn man Menschen keine Hoffnung lässt, wenn sie als Kinder schon wissen, wie ihr elendes Leben ablaufen wird, dann soll und darf man sich nicht wundern, wenn aus ihnen „Freiheitskämpfer“ werden. Mögen sie von Israel und von den meisten westlichen Staaten als Terroristen bezeichnet werden, es ändert nichts. Sie sind genauso wenig Terroristen wie es die Kämpfer des Vietcongs waren, die ebenfalls für ihre Freiheit kämpften.
Leider wird in unserer Gesellschaft zu ungenau, leichtsinnig und falsch mit den Begriffen „Terrorist“ oder „Antisemit“ umgegangen. Für mich war der Überfall vom 11. September 2001 ein Terrorakt. Es wurden Menschen ermordet, die mit dem, was die Terroristen bekämpfen wollten, nichts zu tun hatten. So war es auch mit vielen anderen Anschlägen, die unschuldige Zivilisten getroffen haben. Im Nahost-Konflikt handelt es sich immer eine Stufe weniger um Terror, weil die Gewalt zum Dauerzustand geworden ist. Von Antisemitismus lässt sich im Nah-Ost-Konflikt auch nicht sprechen. Es ist kein religiöser Konflikt, in dem fanatisierte Gläubige sich gegenseitig ermorden. Es ist zum einen ein Konflikt um Land, zum anderen ein Kampf um Recht und Gerechtigkeit. Wenn die Methoden der Hamas den Israelis und der ganzen Welt missfallen, was absolut gesehen verständlich und berechtigt ist, dann sollte man aber auch berücksichtigen, dass eine brutale Gewalt der israelischen Armee die Brutalität der anderen Seite mitsteigern lässt. Eine schutzlose Bevölkerung mit 1000 Kg Bomben zu attackieren und ungezielt zu töten muss immer neue Kampfmethoden provozieren. Und das geschieht nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon seit ewigen Zeiten, mindestens aber seit dem Vertreibungskrieg von 1948. Es muss auch langsam Schluss sein mit dem manipulierenden Geschwätz über Antisemitismus. Die Palästinenser sind keine Antisemiten. Sie kämpfen nicht gegen „Juden“, sondern gegen eine Gesellschaft, die sie vertrieben, und die ihnen bitteres Unrecht zugefügt hat. Diese Menschen würden um ihr Recht und um ihre Menschwürde genauso kämpfen, wenn die Israelis keine Juden wären. Sie haben auch schon gegen die Türken gekämpft, gegen die Briten und in früheren Zeiten gegen die Kreuzritter. Wenn man noch tiefer in die Geschichte zurückbohren möchte, dann haben sie schon gegen die Griechen, Römer und andere Eroberer gekämpft. Sie kämpfen also nur in unserer Zeit gegen Juden, die für sie aber ihre israelischen Feinde sind. Der Konflikt kommt doch nicht aus dem Nichts. Der Konflikt findet nicht, wie es UN-Generalsekretär Guterres gesagt hat, in einem luftleeren Raum.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich wünschte die Talkshows beim ZDF würden alle Seiten zu Wort kommen lassen. Statt einer türkisch-deutschen CDU-Politikerin, die Israel mit einer Leidenschaft verteidigt, dass es mir als Israeli und Jude schon peinlich wurde, könnte man vielleicht einen echten Israeli einladen, der sein Land verteidigt. Und man könnte vielleicht auch deutsche Juden einladen, die nicht „Juden in Deutschland“ sind, sondern eine kritische pro-israelische Meinung vertreten im Gegensatz zu den Wolffsohns, Broders, Knoblochs und Schusters. Ein solcher Jude hätte es nicht nötig, ein anti-antisemitisches Glaubensbekenntnis abzugeben. Oder haben Sie protestiert, als Charlotte Knobloch mich einen „berüchtigten Antisemiten“ nannte, nur weil ich eine andere Meinung zum Nahost-Konflikt habe.
Vielleicht werden Sie, wenn Sie beim ZDF genügend Mut aufbringen, einen Israeli einladen, der für das „andere“ Israel eintritt, welches seiner rechts-radikal orthodoxen Koalitionsregierung unter Benjamin Netanjahu weniger vertraut. Es wäre für die Zuschauer interessant zu erfahren, dass es auch un-orthodoxe Israelis gibt, und wie sie denken.
Eine Alternative wäre es aber diese Sendung abzuschaffen oder einen anderen Moderator einzusetzen, der seine Gäste auch zu Wort kommen lässt. Ein Mensch mit derart deutlichen narzisstischen Zügen wie Markus Lanz ist die falsche Besetzung.

Abraham Melzer
Jüdischer Verleger und Publizist