Wenn man Gideon Levy liest, gewinnt man den Eindruck, dass die Zeit in Israel stehengeblieben ist, dass Israel ein ganz anderer Planet ist und die Israelis, die nichts aus ihrer Geschichte lernen bzw. lernen wollen, verurteilt sind, diese Geschichte immer wieder zu wiederholen, solange wohl, bis sie daraus am Ende doch etwas gelernt haben werden. Uri Avnery, der Doyen der israelischen Kritiker, schreibt schon seit über sechzig Jahren gegen das Unrecht der zionistischen Politik an. Gideon Levy, Amira Hass und andere, die eine Generation jünger sind, schreiben und schreien auch schon seit über dreißig Jahren gegen das Unrecht und gegen die Borniertheit der zionistischen Politiker. Sie werden aber in Israel nicht gehört. Die Tatsache, dass sie immer noch schreiben und schreien dürfen, ist kein Beweis dafür, dass die Demokratie in Israel lebt. Die Demokratie in Israel ist tot, mausetot. Aber diese tote Demokratie leistet sich zynisch und selbstgerecht diese kritischen Journalisten, so wie einst Fürsten und Könige sich Hofnarren geleistet haben, die bekanntlich ihren Herren die Wahrheit sagen durften, ohne dafür geköpft zu werden.
Allerdings ist die Lage der kritischen Journalisten in Israel heute prekärer als je zuvor. Gideon Levy, der schon immer bedroht wurde, ist während des israelischen Überfalls auf Gaza von einer aufgebrachten Menge beinahe gelyncht worden, weil er die israelischen Piloten der Luftwaffe, die in Israel als Helden verehrt werden, als Kriegsverbrecher zu bezeichnen wagte und weil er mit seinen Reportagen den Israelis und der ganzen Welt zeigt, dass die Menschen in Gaza der Sandsack sind, auf den die ganze Welt einschlägt.
Darwins Kampf ums Überleben ist genau das, was zwischen Israelis und Israelis und zwischen Palästinensern und Israelis stattfindet. Der Stärkere will den Schwächeren vernichten und am liebsten ausradieren. Das ist ein Naturgesetzt der Evolution und Charles Darwin hat es am Kampf der Weißen gegen die Urbevölkerung in Australien sehr genau studiert. Die Evolution durch natürliche Auslese. Im Nahostkonflikt ist freilich noch nicht entschieden, wer der Stärkere ist und wer am Ende des Ausleseprozesses übrig bleiben wird. Wenn dieser Konflikt rational wäre, dann hätte man ihn schon längst gelöst. Er ist aber kein rationaler, sondern ein äußerst emotionaler Konflikt, in dem religiöse Gefühle, Ehre und Demütigung und das Verlangen vieler Palästinenser nach totaler Gerechtigkeit eine Rolle spielen. Israel hat leider die Logik eines Skorpions, der die Kröte sticht, die ihn über den Fluss trägt.
Wir finden in Israel einen Nationalismus, wie wir ihn in Europa schon seit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mehr kennen. Der Hass gegen seine Nachbarn, wie es früher zwischen Deutschland und Frankreich war, ist aber nicht zu vergleichen mit dem Hass zwischen Israelis und Palästinenser. Die Deutschen haben bei allem Hass und Neid dennoch eine Achtung vor der französischen Kultur gehabt wie umgekehrt. Der tiefe Graben in Israel zwischen linken und rechten Israelis und natürlich zwischen Israelis und Palästinensern ist aber so abgrundtief, dass er unüberbrückbar scheint. Früher dachte man, dass kommende Generationen diesen Hass überbrücken könnten, aber es sieht überhaupt nicht danach aus.
Seit Jahrzehnten drehen sich die Kontrahenten im Kreis und kommen sich keinen Millimeter näher. Nach dem Krieg ist immer vor dem Krieg und nach jeder Runde ist der Hass noch stärker und tiefer. Wenn man heute die Reportagen von Gideon Levy liest, die er vor zehn Jahren und länger geschrieben hat, dann hat man den Eindruck, dass die Zeit stehengeblieben ist. Aus der geplanten „Peace Road“ ist ein Kreisverkehr geworden und selbst das ist vielen Israelis zu viel. Deshalb beschlossen Ministerpräsident Netanjahu und Außenminister Lieberman, mit den Palästinensern überhaupt nicht mehr zu sprechen.
Noch vor ein oder zwei Jahren sagte Israels Außenminister Avigdor Lieberman, dass er bereit wäre, mit Abas noch neunundneunzig Jahre zu verhandeln, wenn sicher wäre, dass nichts dabei herauskommt und der Status quo erhalten bleibt. Netanjahu ist aber selbst dazu nicht mehr bereit. Er fordert oder erwartet eine bedingungslose Kapitulation der Palästinenser, und fördert deren Auswanderung, wenn es sein muss durch ethnische Säuberungen.
Was bleibt denn den Palästinensern übrig, als hin und wieder einige Kassam Raketen auf Israel abzuschießen, auch wenn diese kaum Schaden anrichten, nur um die Israelis und die Welt darauf aufmerksam machen, dass es sie noch gibt. Die Israelis waren bereit, die Kassam Raketen zu erdulden. Sie waren aber nicht bereit, dass Hamas und Fatah sich einigen und eine Einheitsregierung bilden. Sie hatten zwar keine Angst vor dieser Einheit, aber sie hatten Angst vor der Zustimmung der Welt zu einer solchen Einheit. Die größte Gefahr, die Israel sieht, ist eine Welle der Sympathie für die Palästinenser. Israel sieht darin den Anfang vom Ende Israels, einen neuen Holocaust. Deshalb musste der neue Überfall auf Gaza stattfinden, um der Welt wieder einmal zu zeigen, dass die Hamas eine „Bande von verrohten islamischen Mördern“ sei.
In Israel ist nach dem Krieg immer auch vor dem Krieg. Leute wie Gideon Levy, die darauf aufmerksam machen und Israel warnen, sind für viele Israelis Verräter, obwohl sie den Israelis nur den Spiegel vorhalten, aus dem leider eine hässliche Fratze auf sie zurück blickt und sie an die bittere Realität erinnert. Israelis wollen aber nicht ermahnt werden und jeder, der ihre absurde Moral in Frage stellt, ist ihr Feind.
So musste auch einst der Prophet Jesaja vor dem Zorn der Könige aus dem Hause Davids fliehen. Überliefert sind uns seine Worte: Frieden, Frieden und es gibt keinen Frieden. Er meinte genau dieselbe Heuchelei, die wir seit sechzig Jahren in Israel erleben. Alle israelischen Ministerpräsidenten, von David Ben Gurion, über Golda Meir, Menachem Begin, Shimon Peres, Ehud Barak und Benjamin Netanjahu sprachen und sprechen gebetsmühlenartig von Frieden und meinen immer wieder Krieg. Das Zauberwort zu seiner Rechtfertigung ist seit mehr als sechzig Jahren immer dasselbe Argument: Wir haben keine Wahl. Der Mensch hat aber immer eine andere Wahl – er muss sie nur wollen.
So wie man aber einen Geisteskranken nicht überreden kann, wieder normal zu werden, so kann man die messianischen Zionisten nicht überzeugen, dass sie auf den falschen politischen Weg sind. Nur Druck von außen und der unaufhörliche Widerstand der Palästinenser werden à la Longe etwas bewirken, und natürlich die Zeit, die gegen Israel arbeitet. Aber leider trifft der berühmte Spruch von Israels ehemaligen UN-Botschafter und Außenminister Aba Eban heute mehr auf die Israelis selbst:Sie nutzen jede Gelegenheit, um eine Gelegenheit zu verpassen.“
Israel wünscht aber keinen Frieden. Das ist Gideon Levys Einsicht nach so vielen Jahren der Berichterstattung aus den palästinensischen Gebieten. Für ihn steht es fest, dass Israel der Täter ist und die Palästinenser das Opfer. Henryk M. Broder meinte dazu: Es macht Spaß Täter zu sein. Die Frage, die Gideon Levy immer wieder stellt, lautet aber: Wie lange noch?
Gideon Levys Buch „Schrei geliebtes Land“ ist wieder lieferbar. Es ist in der SEMITedition im Zambon Verlag, Frankfurt/Main, erschienen und in jeder Buchhandlung erhältlich oder durch Bestellung beim Verlag oder bei der SEMIT-Redaktion.
Danke Herr Melzer.
Ich bewundere Ihre klare, rationale und immer in der Wahrheit beheimatete und daher glaubhafte Sprache.
Beste Grüsse – W.Behr