Golda Meir hat einmal gesagt, dass sie den Arabern nie verzeihen wird, dass sie „uns Israelis zwingen sie zu töten“. Das war der Höhepunkt an Heuchelei und Zynismus. Keiner wird oder ist gezwungen zu töten. Die Palästinenser wollen die Israelis lediglich zwingen sie in Würde und Freiheit leben zu lassen. Natürlich haben die Israelis, wie jedes andere Volk auf der Welt, das Recht sich zu verteidigen. Aber die Betonung liegt auf „jedes andere Volk“ und deshalb haben auch die Palästinenser das Recht sich zu verteidigen. Und wenn wir auf den Konflikt in Gaza schauen, dann haben doch die Menschen in Gaza das Recht so leben zu wollen, wie die Menschen 50 Kilometer nördlich, nämlich in Tel Aviv. Auch sie wollen frei sein, unabhängig sein und nicht von den Gnaden bzw. Launen der israelischen Besatzung abhängig sein. Seit nunmehr zwei Generationen leben dort die Menschen wie in einem Freiluftgefängnis. Sie dürfen nicht raus und keiner darf rein, natürlich bis auf seltene Ausnahmen. Journalisten dürfen rein, um über das Elend der dort lebenden bzw. vegetierenden Menschen zu berichten. Die Palästinenser in Gaza und in der Westbank wollen aber kein Mitleid. Sie wollen die Anerkennung ihrer Rechte, die Respektierung dieser Rechte: Als freie Menschen zu leben.
Jetzt werden die Palästinenser sagen, dass sie den Israelis nie verzeihen werden, dass sie die Hamas gezwungen hat ein solches Blutbad durchzuführen. Es kann für eine solche Tat keine Entschuldigung geben, aber man kann verstehen, warum und wieso es dazu gekommen ist, ohne es zu rechtfertigen und schon gar nicht es gut zu finden, zumal es jetzt am meisten den Menschen in Gaza schaden wird.
In Europa und besonders in Deutschland schauen wir auf den Konflikt mit europäischen Augen und christlicher Logik. Die Menschen im Orient, und Israel ist nun mal ein Teil des Orients, ticken aber anders. Dort gilt noch die biblische Formel: Auge um Auge, Zahn um Zahn, wobei die Israelis diese im Grunde humane Aufforderung pervertiert haben, indem sie in ihren Vergeltungsschlägen, die man als pure Rache auslegen darf, zehn Augen für ein Auge verlangten und zehn Zähne für ein Zahn.
Seit Jahren wird der Konflikt von israelischer Seite eingefroren und Netanjahu sagte immer wird, dass er nicht interessiert sei den Konflikt zu lösen. Es reichte ihm den Konflikt zu verwalten. Die Quittung für diese arrogante und leichtsinnige Politik hat er am 7. Oktober 2023 bekommen. Nur wenige Tage zuvor, im September, stand er vor der UN-Generalversammlung und zeigte den anwesenden Führern der Welt eine Karte der Region auf dem Palästina ausradiert war. Das war eine perfide und unnötige Provokation. Und wenn gleichzeitig geprahlt wird, dass man dabei sei mit Saudi-Arabien Frieden und militärische Kooperation zu vereinbaren, dann soll man sich nicht wundern, wenn auf arabischer und auch iranischer Seite das Blut kocht, der gesunde Menschenverstand unter Druck gerät und sie vor Angst, Hass und Enttäuschung explodieren. Aus demselben Grund kämpfen die Ukrainer gegen Russland, weil Putin ihnen ihr Existenzrecht verweigert und sie lieber heute als morgen vernichten und ausradieren möchte. Die Ukrainer werden von der westlichen Welt unterstützt. Gaza aber von niemanden. Die Menschen dort müssen zusehen und ertragen wie andere arabische Staaten, sozusagen ihre Brüder, mit Israel kooperieren. Und jetzt auch noch Saudi-Arabien, der bisher größte Unterstützer der palästinensischen Sache. Das brachte endgültig das Blut zum Überkochen und die Vernunft zum Schweigen. Sie handelten aus blinder Wut und Verzweiflung und sie handelten falsch, aber was wäre richtig? Der Wille der Nationalisten siegt über das Recht der Vernunft. Statt Frieden mit ihren Nachbarn zu schließen, wählen die Palästinenser und die Israelis den Weg des Krieges und beschuldigen sich gegenseitig als Terroristen. So ist es schon seit Jahren und das Szenario wiederholt sich ständig. Die Palästinenser veranstalten einen Terrorakt und die Israelis antworten mit Gewalt. Und wenn die Gewalt nicht reicht, dann eben noch mehr Gewalt. Für Gespräche ist kein Platz. Israel behauptet, dass es sich verteidigt, aber dasselbe behaupten auch die Palästinenser.
Der Krieg der palästinensischen Hamas wird zum Krieg aller Palästinenser und der Krieg der rechten israelischen Nationalisten wird zum Krieg aller Israelis und macht sie alle radikaler. Die nicht sahen, was kommen wird nach der Wahl einer rechtsradikalen Regierung in Israel, wollten es nicht sehen. Und wer sich jetzt über die Tragödie der Israelis beschwert, verkennt die Ursachen. Natürlich sind wieder „Unschuldige“ ermordet worden. Aber auch auf palästinensischer Seite werden seit Jahren „Unschuldige“ ermordet und nicht wie es in israelischer Sprache heißt, getötet. Die Israelis haben Netanjahu geglaubt, dass man Millionen von Menschen in einem Freilustgefängnis „verwalten“ kann. Sie wie „menschliche Tiere“ behandeln, ohne vor Gericht gestellt zu werden, töten kann, weil, wie es ein israelischer Richter einmal gesagt hat: „Jüdisches Blut ist wertvoller als arabisches Blut“. Das ein durchgeknallter Richter sowas sagt ist schlimm genug. Viel schlimmer ist aber die Tatsache, dass er es sagen konnte ohne Konsequenzen zu fürchten. Das ist purer Rassismus und die israelische Gesellschaft ist leider durchdrungen von solcher Ideologie.
Schuldig sind alle, auch wir in Europa und Deutschland, die zugesehen haben wie das palästinensische Volk leidet und nichts getan haben. Schuldig sind deutsche Minister, die öffentlich sagen, dass sie über die humanitäre Unterstützung der Palästinenser mit ihren Kollegen in Israel sprechen müssen. Schuldig ist eine naive und unfähige Regierung in Berlin, die seit Jahren davon redet, dass sie eine Zweistaaten-Lösung befürwortet, aber nur einen Staat anerkennt und den anderen ignoriert. Schuldig ist eine Politik, die die Israelis als jüdische Opfer betrachtet und nicht als israelische Täter. Die Juden, zumindest in Frankreich, England und besonders in den USA fangen an sich von Israel wegen seiner faschistischen und völkerrechtswidrigen Politik zu distanzieren. Nur die Nicht-Juden sind noch nicht dazu bereit. Es sieht fast so aus, als ob die christliche Welt ihren jahrhundertelangen Antisemitismus jetzt auf die Palästinenser übertragen haben. Was nützen denn die Reden von Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit für alle Menschen, wenn die Palästinenser immer wieder ausgeklammert werden. Gehören sie nicht auch zu dem menschlichen Spezi? Natürlich gibt es bei den Palästinensern Kräfte, die nicht an Frieden interessiert sind. Aber solche Kräfte gibt es auch in Israel. Diese Kräfte müssen auf beiden Seiten eliminiert werden. Vielleicht sollte man es einmal mit anderen Mitteln gegen die Hamas versuchen? Wenn aber jahraus, jahrein immer nur von der „radikal islamistischen Hamas“ die Rede ist, dann bekommt die Hamas keine Chance ihre Politik zu ändern. Radikal ist auch die israelische Regierungspolitik, zumal mit der jetzigen rechten und rassistischen Regierung.
Man redet jetzt davon, dass man die Hamas bzw. den palästinensischen Terror ein für allemal beseitigen will und muss. Man will sich nicht daran erinnern, dass es nicht immer so war und die Beziehung zwischen Juden und Araber nicht immer von Hass erfüllt war. Es waren auch Araber in Ägypten und Palästina, die geflüchteten Juden, aus dem barbarisch-christlichen Spanien, aufgenommen haben. Es waren auch Palästinenser, die geflüchtete Juden aus dem zaristischen Russland und aus Polen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommen und friedlich behandelt haben. Und es lebten seit Jahrhunderten Juden in Palästina in guter Nachbarschaft mit ihren palästinensischen Nachbarn. Der Hass zwischen beiden Ethnien begann erst mit der Verbreitung des Zionismus, als die Palästinenser begannen zu verstehen, dass die Juden in ihrem Land und auf ihrem Grund und Boden einen eigenen, jüdischen Staat gründen wollen und dass die Konsequenz daraus ihre eigene Vertreibung sein wird. Und tatsächlich ist es so gekommen.
Der Widerstand der Palästinenser hat deshalb nichts mit Antisemitismus zu tun. Tatsache ist, dass Israel heute die Sprache der Nazis benutzt, wenn Israels Generalstabschef Yoav Galant verkündet, dass er Gaza kein Strom, kein Wasser und keine Lebensmittel liefern wird und die Menschen in Gaza als „menschliche Tiere“ bezeichnet. So begann auch die Judenverfolgung in Deutschland und so begann sie überall und immer: Bei der Verfolgung durch die Inquisition in Spanien oder bei den Pogromen in der Ukraine und Russland.
Israel will Rache, aber Rache ist das Gegenteil von Gerechtigkeit. Die Politik und die Medien in Europa haben Verständnis für Israel, weil sie auf den Konflikt ausschließlich aus der Perspektive der Israelis schauen. Und sie alle sind blind und taub, wenn sie solche Äußerungen über die Palästinenser vernehmen, die den Äußerungen der Nazis über die Juden gleichen. Es ist auch nicht zu verkennen, dass mit ihrer bedingungslosen Unterstützung Israels, die christliche Welt das „wiedergutmachen“ will, was sie mehr als tausend Jahre mit dem Antisemitismus falsch gemacht hat und natürlich mit dem grausamen deutschen Holocaust, der mehr als sechs Millionen Juden ermordete.
Wenn man die Hamas bzw. den sogenannten palästinensischen Terror, der in Wahrheit nicht Terror, sondern Widerstand ist, ein für allemal beseitigen will, dann nicht, wenn mit Gewalt geantwortet wird, denn Gewalt führt immer zu mehr Gewalt und mehr Gewalt führt zu noch mehr Gewalt und das Rad dreht sich ohne Ende. Nur ehrliche und faire Verhandlungen auf Augenhöhe werden zu einem nachhaltigen Frieden führen. Die Palästinenser wollen auch nur so frei leben wie wir. Und deshalb müssen wir Europäer nicht nur mit Israel solidarisch sein, sondern auch mit den Palästinensern, die heute die Juden der Juden sind. Wir müssen nicht nur Druck auf Palästina ausüben, wenn unsere Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit laut verkündet, dass sie mit Israel beraten will, wie die Unterstützung Israels aussehen darf. Es fragt auch niemand Putin wie man die Ukraine unterstützen soll. Wie lange will die Welt noch zuschauen? Sollen zwei Millionen Menschen in Gaza verhungern und verdursten, wie es Netanjahu plant? Wird die Welt das zulassen? Wird Deutschland dann immer noch hinter Israel stehen? Die Lippenbekenntnisse der Politiker sind unerträglich und zynisch. Wie heuchlerisch sind sie alle? Israel fordert die Menschen Gaza zu verlassen. Aber wohin? Hat denn niemand Mitleid mit den Kindern in Gaza? Zählen nur die israelischen, die jüdischen Kinder? Natürlich soll man Empathie und Mitleid mit Israel haben und ganz besonders mit den mehr als hundert Geiseln. Aber ist es nicht an vorderster Stelle die Aufgabe der israelischen Regierung sich, um ihre Bürger zu sorgen und zu kümmern? Wenn für die israelische Regierung Rache wichtiger ist als die Rettung seiner Bürger, dann ist es an die Bürger Israels darauf zu reagieren und sich an ihrer Regierung zu rächen und sie in die Wüste zu schicken, obwohl es keine Garantie gibt, dass eine neue Regierung realistischer sein wird. Mit dieser Regierung ist Israel jedenfalls auf dem Weg in eine Theokratie zu werden, wie der Iran. Theokratien sind auch nur Diktaturen. Im Vatikan hat der Papst das Sagen und im Iran sind es die Ayatolen. In Israel wären es dann die orthodoxen Rabbiner, die schon heute ihren Gläubigen sagen welche Partei sie wählen soll.
Israel ist keine Demokratie und schon gar nicht eine europäische Demokratie. Es ist absurd und Unsinn, wenn unsere Politiker sagen, dass uns mit Israel gleiche Werte verbinden. Schlimm wäre es, wenn unsere Werte von Demokratie und Menschenrechte, denen der Israelis gleichen würden. Dann würden alle Israelis, die in den letzten Jahren nach Deutschland geflohen sind als erste Deutschland wieder verlassen, denn sie kennen die israelische Demokratie, wo ein geschiedener Mann keine geschiedene Frau heiraten darf, weil er angeblich aus dem biblischen Stamm der Kohanim, der Priester stammt. Schon seit der Gründung des Staates Israel bestimmen die religiösen Parteien über Sein und Nichtsein des Staates. Ihre Gläubigen dienen nicht in der Armee und leben parasitär auf Kosten der säkularen Wähler. Und sie bestimmen inzwischen über das israelische Schulsystem. In ihren Schulen werden keine naturwissenschaftlichen Fächer gelehrt und auch keine Sprachen, Musik oder Sport. Israel ist dem Mullah Regime im Iran bald ähnlicher als den demokratischen Staaten in Europa. Und wenn bald der letzte säkulare Wähler Israel verlassen wird, wird man auch in Israel mit Rabbiner verhandeln müssen, die die Politik bestimmen.
Vielleicht ist der letzte Angriff der Hamas, so brutal und scheußlich er auch war, ein Weckruf für die liberale, säkulare Gesellschaft in Israel: Wacht endlich auf.
Abraham Melzer, 12.10.2023