Langsam fühle ich meinem Vater nach, wie er in den 30er Jahren in Berlin jeden Tag erleben musste, dass bisherige Freunde sich bis zur Unkenntlichkeit veränderten; oder zeigten sie vielmehr ihr wahres Gesicht als Nazis? Wer heutzutage immer noch Putin versteht, dürfte 1933 auch Hitler verstanden haben. Wer der Meinung ist, dass die Nato Russland bedroht habe, hätte auch 1939 geglaubt, dass Polen Deutschland angreifen werde. Wer heute dagegen ist, dass man der Ukraine Waffen liefert, hätte sich auch empört, dass während des ganzen Zweiten Weltkrieges die USA an die UdSSR Waffen lieferte. Wer heute blind angesichts der Kriegsverbrechen Russlands ist, der wäre auch blind gewesen gegenüber den Kriegsverbrechen der Nazis. Wer Putins Krieg als „Spezialoperation“ betrachtet, der hätte die Ermordung der Juden auch nur als „Endlösung“ bezeichnet. Wer jetzt immer noch nicht wahrhnehmen will, dass Putin in der Ukraine einen Genozid veranstaltet, der nimmt auch an, dass Selenskyj ein Nazi und die Ukrainer Mitglieder der Waffen-SS seien. Oskar Lafontaine und seine Frau Sahra Wagenknecht sind beide schlimme Komplizen von Putins Kriegsverbrechen. Sie „verstehen Putin“, und sie sprechen seine Sprache besser als mancher andere. Gregor Gysi zieht es vor, Ukrainer sterben zu lassen, als ihnen Waffen zu liefern, weil „überall Deutschland an Kriegen verdiene, was genau das sei, was ich, Gysi, nicht möchte.“ In dieser Logik fordert Gysi in einer Rede vor dem Bundestag, dass die „Nato doch erklären sollte, dass sie jetzt keine einzige Waffe mehr an die Ukraine liefere, wenn die russische Führung einem Waffenstillstand zustimme.“ Zurecht macht da Frau Marie-Agnes Strack-Zimmermann einen Zwischenruf: „Wie naiv sind Sie eigentlich?“ Und Gysi bekommt Beifall von Abgeordneten der AfD.
Ich erlebe in diesen Tagen ähnliches wie mein Vater damals. Freunde und Bekannte, für die ich früher meine Hand ins Feuer gelegt hätte, dass sie liberal seien und auf der Seite der Menschenrechte stünden, erweisen sich plötzlich als „Putinversteher“. Sie veröffentlichen Aussagen wie diese: „Die ukrainische Seite hat keinerlei Hemmungen, Kriegsgefangene massiv zu foltern und auch zu töten. Etwa ein Drittel der russischen Kriegsgefangenen, die die unmittelbare Gefangennahme überlebten, werden in ukrainischen Gefängnissen von den Sadisten des ukrainischen Geheimdienstes SBU zu Tode gefoltert… Auch wird ihnen ausreichend Nahrung und Wasser verweigert…“
Ich weiß nicht, woher sie solche Tatsachen erfahren haben wollen. Sie können solche Behauptungen nur direkt vom russischen Propagandaministerium erhalten. Ich frage mich und staune, wie die vielen liberalen Linken mutiert sind, die plötzlich so viel Verständnis für einen brutalen und grausamen Krieg haben. Liegt es an der Person des Kriegsherrn, Putin , der in Wirklichkeit keinen Krieg führt, sondern zynischen und rücksichtslosen Terror gegen Zivilisten „spezialoperiert“. Der Terror gegen Kinder und alte Menschen, gegen Frauen und Mütter, Säuglinge und Kranke ist tatsächlich eine „Spezialoperation“ und kein klassischer Krieg. Ein klassischer Krieg ist für Putin längst verloren. Indem er im Stil der „Nazis“ die Ukraine als Staat vernichtet und die Ukraine als Gebiet vor einem Zugriff der „faschistischen Imperialisten aus dem Westen“ retten will, macht er „Lebensraumpolitik“ nach Art der Nazis. Wir leben in einem historischen Zeitabschnitt, in der keiner von uns abseitsstehen darf. Entweder stellen wir uns dem gegenwärtigen russischen Regime entgegen, oder wir werden zum Kollaborateur desselben. Wir dürfen nicht tolerieren, dass die Macht der Gewalt über das Recht regiert. Wir müssen die imperialistische Politik des Kremls thematisieren und bekämpfen, denn diese richtet sich letztlich auch gegen uns. Wir dürfen nicht mehr die russische Propaganda nachplappern und zu Putins Sprachrohren werden. Es gibt eine Vorgeschichte zu diesem Krieg – sicher. Aber der Westen trägt keine Mitverantwortung an diesem Krieg. Die Wahl „der Schritt zur Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) war allein Putins Entscheidung. Es handelt sich auch nicht um eine harmlose „Spezialoperation“ sondern um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Viele sehen das anders, aber der „Freitag“ (z.B.) hat für Beiträge von Autoren mit einer putinistischen Haltung keinen Platz mehr. Ulrich Heyden, dem diese Zeilen galten, der immer noch in Moskau sitzt und die Rolle von Putins Pudel spielt, antwortete darauf: „Nach meinem Eindruck lachen die Russen über diese Verurteilung von deutscher Seite.“ Inzwischen ist ihnen aber das Lachen vergangen. Ich habe nichts dagegen, wenn diese naiven und wohl von Russland gelenkten „Putin Versteher“ die USA kritisieren. Ich habe es selbst oft getan und tue es immer noch. Aber ich kritisiere die amerikanische Politik, z.B. ihre Nahost-Politik in Bezug auf Palästina und Israel, aber nicht die Amerikaner bzw. das amerikanische System schlechthin.
Eine Bilanz von Putins nunmehr zwanzigjähriger Herrschaft offenbart einige interessante Umstände. Das Bruttosozialprodukt der Weltmacht Russland liegt auf dem Niveau Spaniens. Die Einnahmen aus den riesigen Öl- und Gasressourcen des Landes sind vor allem in die Rüstung geflossen – davon ein Anteil, die gemeinsten Mafiabosse vor Neid erbleichen ließe – ist in die Taschen der Oligarchen geflossen, die ihre Privilegien mit Kadavergehorsam gegenüber dem Mann im Kreml bezahlen. Wenn sie Putins Plänen, wie etwa im Fall der «Spezialoperation» in der Ukraine, im Wege stehen, passieren ihnen plötzlich unerklärliche Dinge: sie rutschen auf einer Treppe aus und brechen sich das Genick; sie verlieren beim Rauchen am Fenster das Gleichgewicht und fallen in die Tiefe; sie stürzen aus ihrer Jacht ins Meer, und können immer nur noch tot geborgen werden. Das ist schon seit Jahren die Art Putins, seine Gegner zu beseitigen. Trotzdem schreiben linke Verschwörungstheoretiker von einem „totalen Krieg gegen Moskau“, der von „ukrainischen Nazis“, geführt werde. Sie drücken es sogar poetisch aus: „Niemand kann den Fetisch des Untergangs eindrucksvoller zelebrieren als die politischen Nachkommen derer, die einst an der Seite von Himmlers ´Rassenkriegern` die Schwarze Sonne anbeteten.“ Die Ukrainer standen aber nicht „an der Seite Himmlers“. Sie kämpfen wie die Russen und starben auch wie sie.
Deutsche beschuldigen die Angegriffenen, die Angreifer zu sein. Deutsche, deren Eltern ihre Freiheit denjenigen verdankten, die für sie gestorben waren. Und jetzt beleidigen und diskreditieren sie diese Toten als „Rassekrieger an der Seite Himmlers“ gestanden zu haben. Die Kiewer Regierung, die heute ihr Land verteidigt, soll nach dieser Interpretation schuld sein an der Eskalation des Krieges. Demnach müsste auch Stalin daran schuld gewesen sein, dass Hitler Russland angegriffen hatte. Man kann nur noch staunen, dass es Menschen gibt, die solche Gedanken spinnen können, und solche, die an diesen Unsinn glauben. Ich kann verstehen warum Deutsche, deren Väter von amerikanischen Soldaten getötet wurden, die Amerikaner ablehnen. Ich kann aber nicht verstehen, wie Deutsche, deren Eltern von Russen unterdrückt und ausgebeutet wurden, für Russland mehr Empathie empfinden als für Amerika. Dabei geht es in diesem Konflikt nicht um Russland oder Amerika, und auch nicht um Russen oder Amerikaner, sondern im Grundsatz um einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine zivile Bevölkerung, der die komplette Infrastruktur ihres Landes zerstört wird. Damit wird nur die Bevölkerung sinnlos terrorisiert. Die Bevölkerung leidet und wird noch Jahrzehnte lang leiden müssen. Der Wiederaufbau der Ukraine wird Billionen Euro kosten, aber auch die Wiederherstellung Russland wird nicht billig sein und sich über Jahrzehnte hinziehen. Es tut weh zuzusehen, wie Ressourcen vernichtet werden, wo wir doch auf der Welt so viel andere Probleme haben, die dringend gelöst und in Angriff genommen werden müssen.
Ich wundere mich nur, warum so viele die Rolle Russlands bzw. Putins dabei nicht sehen wollen, und dass sie stattdessen immer auf die USA blicken und dort das Böse suchen. Natürlich ist der amerikanische Imperialismus widerlich und kritikwürdig. Aber haben wir denn nicht alle auch immer wieder amerikanische Kriegsverbrechen in Vietnam, Irak, Libyen und sonst wo kritisiert? Warum sehen diese naiven Linken neben den Anhängern der AfD nicht den russischen Imperialismus, der nicht weniger brutal und nicht minder gefährlich ist? Warum sehen sie nicht, dass man eine angeblich schlechte Demokratie nicht mit einem autokratischen Staat bekämpfen kann? Warum sehen sie nicht, dass Putin vielfach mörderischer und brutaler ist als der schlimmste amerikanische Präsident? In allen Schriften dieser „Putinversteher“ habe ich nicht ein einziges Mal von Butscha oder Mariupol gelesen. Nicht ein einziges Mal von zerstörten Theatern mit hunderten von zivilen Opfern, von bombardierten Supermärkten und zigtausender Privathäuser. Nicht von der kompletten Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur, davon, dass Menschen hungern, frieren und sinnlos sterben, und auch nichts von der Entführung tausender ukrainischer Kinder nach Russland, wo ihnen ihre Identität gestohlen wird. Stattdessen lese ich immer wieder von der Infamie der Nato, die angeblich Russland existenziell bedroht hat. Das war aber eine krankhafte Einbildung Putins und seiner Getreuen.
Worin besteht das Lebensmodell, das Putin der «Dekadenz» des Westens entgegenstellt? Welche neuen Vorteile, welche neuen Freiheiten, welche neuen Freuden können sich die in Propagandalügen gefangenen Russen von einem Sieg Putins in der Ukraine versprechen? Und welches Schicksal stünde den Georgiern, den Bürgern der Moldau und anderer «abtrünniger» Provinzen bevor, wenn Putin den sie umfassenden Traum vom «Großen Russland» realisieren könnte? Mit welchen Mitteln und mit welchen Arbeitskräften würde er die zertrümmerten Städte der Ukraine wieder aufbauen und einen Schaden gutmachen, der bis dato auf 500 Milliarden Dollar beziffert wird?
In den USA haben wir es mit einer Demokratie zu tun, die, wenn sie auch unvollkommen ist und Fehler macht, immer noch eine Demokratie bleibt, die sich alle vier Jahre erneuern und korrigieren kann. In Russland herrscht Putin schon zwanzig Jahre und wird bis an sein Lebensende herrschen, wenn er nicht gewaltsam beseitigt wird. Und Putin setzt auch eine Politik fort, die unzählige Vorgänger auch schon geführt haben. Er selbst beruft sich auf keinen geringeren als Peter dem Großen, Zar von Russland von Gottes Gnaden. Auch dieser regierte nicht aufgrund von Wahlen, sondern mit Gewalt. In den USA wird der Präsident durch den Kongress kontrolliert und vor nicht allzu langer Zeit musste Präsident Nixon gehen, weil der Kongress ihn gefeuert hatte. In Russland wird Putin von niemanden kontrolliert und er kann tun und lassen, was er will.
Bei uns im Westen, besonders in Deutschland, werden unzählige Petitionen veröffentlicht, die unsere Regierung auffordert Verhandlungen aufzunehmen. Abgesehen davon, dass unsere Regierung keine Verhandlungen aufnehmen kann, stellt sich die Frage mit wem. Wer will sich noch an Putins langen Tisch setzen und von Putin gedemütigt und lächerlich gemacht werden? Und wie naiv muss man denn sein, um auf die Straße zu gehen und „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu skandieren. Frieden kann man nicht ohne Waffen schaffen. Für Frieden muss man kämpfen und wenn es sein muss und nicht anders geht auch mit Leopard 2 Panzern. Verhandeln kann man erst nach einem Krieg, wenn eine Partei gesiegt hat, oder beide Parteien vom Krieg erschöpft sind. So war es nach dem Ersten Weltkrieg und so war es nach dem 30jährigen Krieg.
Und bei alle dem, vergessen diese naiven Friedensstifter, dass die Ukraine den Krieg nicht begonnen hat, und dass sie auch kein russisches Territorium besetzt hält. Die Ukraine kämpft um nicht mehr und nicht weniger als um ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Vor allem unabhängig sein von Russland. Und das sollten wir, ja müssen wir unterstützen.
Natürlich muss man die USA kritisieren, wenn sie Kriegsverbrechen verübt, aber warum artet eine solche Kritik bei Leuten wie Oskar Lafontaine und bei anderen in abgrundtiefen Hass und böser Verleumdung aus? Hat denn die Generation von Lafontaine nicht ihre Freiheit und Unabhängigkeit den idealistischen US-Soldaten zu verdanken, die unsere Freiheit mit ihrem Leben bezahlten? Und nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa schulden diesen Dank. Die Menschen in Osteuropa hatten Pech. Sie wurden von Stalins Russland befreit, besetzt und regiert. Sie hatten kein russisches Äquivalent zum Marshallplan. Sie bekamen keine Carepakete aus den USA. Im Gegenteil, die Russen haben alles geraubt und nach Russland verfrachtet, was von Wert erschein. Über eine Million Amerikaner haben ihr Leben geopfert, um Europa vor dem Gift des Nazismus und vor dem italienischen Faschismus zu befreien. Diesen Toten verdanken wir und unsere Kinder und Kindeskinder die Tatsache, dass wir frei in einer liberalen Demokratie aufwachsen und uns entfalten konnten.
Woher kommt jetzt dieser unkontrollierte Hass auf die Amerikaner und die unverständliche Zuneigung und Empathie für Russland, wo doch Russland die Menschen in Ostdeutschland und in ganz Osteuropa nicht besonders zart und freundlich behandelt hatte. Für die Menschen in Ostdeutschland gab es kaum einen Unterschied zum nationalsozialistischen Regime. Die Russen haben die Menschen kaum anders behandelt, als die Nazis, außer, dass man in den russischen Gulags noch eine, wenn auch geringe Chance hatte, zu überleben. Die Russen haben ihre Häftlinge nicht vergast oder brutal ermordet, sondern eher durch Arbeit ausgebeutet. Stalin hatte keine Tötungsfabriken, keine Gaskammern und Verbrennungsöfen. Im Gulag starben die Menschen zwar auch wie die Eintagsfliegen, aber nicht durch Gas, sondern bei der Arbeit. Trotzdem war Russland nicht Nazideutschland. Bei den Nazis reichte, es Jude zu sein. Bei Stalin musste man schon einen Grund für Verhaftung und Deportation nach Sibirien bieten, auch wenn dieser noch so absurd war. Darin hat sich wohl in Russland unter Putin nicht viel geändert. Als mein Vater im Gulag einen Mithäftling fragte, warum er in den Gulag kam, erhielt er zur Antwort: „Weil ich zwei Hemden hatte.“ Das zeigt, wie absurd alles war. Die Verurteilung von Nawalny heute war nicht viel anders. Nawalny wurde verurteilt, weil er zwei Hosen hatte.
Russland und die USA sind zwei Supermächte, die zusammen mit China heute den Lauf der Welt bestimmen. In ihren imperialistischen Bestrebungen unterscheiden sie sich nicht voneinander. Sie folgen ihren eigenen Ambitionen, unterstützen brutale, autokratische Regime je nach ihrem Interesse und haben keine Skrupel dabei. Sie reden von Freiheit und meinen immer nur ihren eigenen Vorteil. Die Freiheit der anderen interessiert sie wenig. Das goldene Kalb dieser Supermächte sind Kapital und Einkommen. Und wir können sehen, wie Geld die Welt regiert. Die Chinesen haben daraus eine Religion gemacht. Die Russen haben den Reichtum ihres Landes unter einer kleinen Clique von Oligarchen verteilt, die Putin beherrschte, und die ihn zum allerreichsten Mann der Welt machte, dafür, dass er sie das Land ausbeuten lässt. Und in den USA, wo der Kapitalismus zuhause ist, ist jeder Milliardär seines Glückes Schmied. Das Volk ist überall mehr oder weniger arm und lässt sich, wie wir jetzt in Russland sehen, von den Regierungen bzw. Diktatoren in den Krieg schicken, während die Milliardäre in den USA, die Milliardäre in China und die Oligarchen in Russland noch mehr Geld verdienen, wenn man überhaupt von „verdienen“ reden kann.
Bei den russischen Oligarchen kann man sicherlich nicht von „verdienen“ reden. Sie verdienen ihr Geld durch Ausbeutung von Bodenschätzen, die eigentlich dem Volk gehören und Putin verdient mit daran. Insofern ist Krieg nicht ein „endloser Kampf zwischen Gut und Böse“, wie Wolfgang Streeck schreibt, sondern eine endlose Ausbeutung der Erde durch skrupellose Schurken (oder bösartige Narzissten, wie es Otto Kernberg ausdrückt). Es zeigt die menschliche Schwäche, immer dann Stärke zu zeigen und andere Länder zu erobern, wenn man selbst schwach ist. So beginnt die Geschichte mit der Eroberung Kanaans durch die Israeliten und wird vielleicht enden mit dem Versuch der Eroberung der Ukraine durch Putin. Es ging bei allen Eroberern, Josua, Alexander, Cäsar, Karl der Große, Wallenstein, Friedrich der Große, Napoleon, Hitler und jetzt Putin, darum, mehr Land von anderen zu besitzen und mehr Bodenschätze anderer Leute auszubeuten. Um Gut oder Böse ging es nie. Gut war immer der Sieger. Der Besiegte war immer der Böse.
Die Zeitenwende, von der jetzt so viel die Rede ist, besteht darin, dass Putin, „der korrupte Führer eines korrupten Landes“, ein Völker mordender Wahnsinniger wurde. Und Streeck meint, dass er es ohne Anlass geworden ist, dass es eine „pathologische Wende“ war. Ich bin aber überzeugt, dass Streeck sich hier irrt. Putin hatte einen Grund, aber dass dieser mitnichten die Nato war. Es liegen uns keine Beweise vor, dass die Nato geplant hatte Russland anzugreifen. Putin hatte keine Angst vor der Nato, sondern vor der Ukraine. Er hat auch keine Angst davor, dass die Ukraine Russland militärisch angreift, sondern vielmehr davor, dass der Virus der Demokratie, der in der Ukraine zu einer Epidemie wurde, zu einer Pandemie wird, und dass Russland wie von einem Tsunami überschwemmt wird. Putin hatte Angst davor, dass die Demokratie seine eigene Bevölkerung anfällt und dass sie ihn überrollt. Das ist die einfache und überzeugende Wahrheit. Es mag dies glauben wer will und ablehnen wer will.
Putin hat dabei die Ukraine unterschätzt, und die Kampfkraft seiner korrupten Armee überschätzt. Er glaubte, die Ukraine in drei, vier Tagen überrennen, und seine Lakaien in Kiew einzusetzen zu können, bevor die übrige Welt kapiert, was da vor sich geht. Das hat aber nicht funktioniert. Danach hat er den zweiten Fehler gemacht, den Krieg, den er begonnen hat, nicht sofort zu beenden. Wenn er das getan hätte, dann hätte er noch sein Gesicht wahren können. Aber Putin ist nicht der Mann, der eine dumme und totgeborene Operation sieglos beendet. Er lässt weiter seine Soldaten in den Tod marschieren. Hunderttausende russische Soldaten sind gefallen oder verwundet worden. Wofür? Für Putins Ruhm? Am Ende wird es doch Putins Schande sein.
Viele unserer naiven Linken und inzwischen auch der Rechten glauben, dass es für die Ukraine ein Traum bleiben wird, Russland zu besiegen. Wolfgang Streeck geniert sich nicht einmal vom „Endsieg über Russland“ zu schreiben. An einem „Endsieg“ haben die Nazis wegen der vielen Niederlagen glauben müssen. Die Ukrainer träumen nicht von Endsieg, sondern nur von der Vertreibung der russischen Invasoren aus ihrem Land. Nicht mehr und nicht weniger. Und man sollte das auch den Ukrainern überlassen, freilich nicht ohne ihnen zu helfen mit Panzer und Munition. Die Debatte bei uns, besonders in Deutschland, über Kriegsziele und Konfliktlösung ist oft peinlich und überflüssig. Es gibt keine gerechten Kriege. Auch der Krieg der Ukrainer, so sehr er gerecht ist, ist ein notwendiges Übel, denn es geht um Freiheit und Unabhängigkeit, und insofern würden die Ukrainer auch kämpfen, wenn deutsche Linke und Rechte sagen würden, dass der Krieg der Ukrainer ungerecht sei. Die Ukrainer kämpfen nicht um Gerechtigkeit, sondern um ihre Unabhängigkeit und ihre Freiheit. Die Ukrainer müssen sich verteidigen und wir müssen sie unterstützen. Waffen sind dazu da andere zu überfallen aber auch Freiheit und Demokratie zu verteidigen.
Besonders in der Kritik linker Idioten stehen die Grünen, die speziell durch ihre Außenministerin Annalena Baerbock sich stark für die Ukraine einsetzen. Die Linke unterstützt Putin. Warum eigentlich? Sie werfen Baerbock vor, dass sie das von Trump aufgekündigte Atomwaffen-Abkommen zwischen dem Iran und dem Westen nicht erneuen will. Zurecht. Wie kann man nach den Erfahrungen mit Putin sehenden Auges zulassen, dass die reaktionären, mittelalterlichen Mullahs in Teheran Atombomben bauen? Diese greisen Führer, die die Frauen im Lande unterdrücken, sind alles andere als zuverlässig und vertrauenswürdig. Und deshalb ist es auch billig und dumm, den Grünen vorzuwerfen, dass nicht ihre Kinder auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Gut, dass Streeck uns daran erinnert, dass die Ukrainer auf den Schlachtfeldern getötet und verstümmelt werden. Deshalb müssen wir noch mehr Panzer und noch mehr Munition liefern. Denn es ist billige russische Propaganda, zu behaupten, dass „die ukrainische Regierung und die USA gegen einen Waffenstillstand sind“. Natürlich sind die USA und besonders die Regierung in Kiew, auf die es letzten Endes ankommt, einverstanden, aber erst wenn Putin seine Armee aus dem souveränen Gebiet der Ukraine zurückgezogen hat. Vorher wäre ein Waffenstillstand ein strategischer und politischer Fehler. Streeck meint, dass der Krieg beendet werden sollte, bevor die Wünsche der ukrainischen Regierung in Erfüllung gegangen sind.
Es mag sein, dass manche Deutsche, wenn sie sich vor eine ähnliche Wahl wie die Ukrainer gestellt sähen, einen Unterwerfungsfrieden dem Andauern des Krieges vorzögen. In den fünfziger Jahren und während der Nachrüstungsdebatte wurde bei den Linken in Deutschland das Motto «Lieber rot als tot» populär. Aber unter dem Eindruck von Putins provoziertem Terrorkrieg hat die pauschale pazifistische Lehre von «Nie wieder Krieg» ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit eingebüßt. Inzwischen erkennt eine Mehrheit der Deutschen das Recht der Ukrainer an, Widerstand zu leisten und für die Freiheit zu kämpfen. Schließlich ist bei diesem Kampf auch unsere Freiheit mitgemeint.
Bei vielen der linken Verschwörungstheoretiker ist das Bild von der Welt und besonders vom Ukraine-Konflikt auf den Kopf gestellt. Für sie ist nicht der Mörder, sondern der Ermordete Schuld. Nicht der Faschist Putin ist der Aggressor, sondern der Jude Selenskyj. Das ist für alle anderen schwer zu begreifen, aber die vor Selbstgerechtigkeit und russischer Propaganda aufgeblasenen „Putinversteher“ nehmen darauf keine Rücksicht und erwarten, dass wir ihnen folgen. Linke deutsche Intellektuelle schwafeln über „Lehren aus deutscher Kriegserfahrung“. So heißt es sogar in der Jüdischen Allgemeinen. Die Talkshows in Deutschland berichten pausenlos darüber. Und die Jüdische Allgemeine sagt dazu: „Die Erfahrung aus der deutschen Geschichte heißt, dass der übermächtig scheinende Täter auch mithilfe derer, die scheinbar nur zum Sterben verdammt sind, besiegt werden kann.“ Sich als Opfer ermächtigen zu dürfen, dem Angriffskrieg entgegenzutreten, ist die Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Ukrainer kämpfen um Menschenwürde und Freiheit, und es ist deshalb unsere Aufgabe sie darbei zu unterstützen.
Geschichte ereignet sich immer zweimal, konstatierte Karl Marx. Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Wir erleben heute das zweite Mal, die Wiederholung des deutschen Überfalls auf Russland, das „Unternehmen Barbarossa“ in entgegengesetzter Richtung. Nicht vom Westen nach Osten, sondern von Osten nach Westen. Und die Angreifer sind die ehemaligen Opfer, die jetzt zu Tätern geworden sind. Die Farce besteht darin, dass sie dieselben Fehler machen wie ehemals die Nazis. Sie haben ihre Gegner unterschätzt, und ihre eigene Stärke maßlos überschätzt. Aus einer „Spezialoperation“ ist ein regelrechter Krieg geworden, der bald zwei Jahre andauert und hunderttausende Tote forderte und die totale Zerstörung vieler Städte und Dörfer.
Nur für die Ukraine hat sich nichts geändert. So wie damals die Uklrainer die Freiheit der Sowjetunion gegen die Nazi-Aggression verteidigt haben, so verteidigen sie heute die Freiheit des Westens, zumindest der Westeuropäer, vor der russischen Aggression. Der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hat seine westlichen Kollegen davor gewarnt, dass Verhandlungen mit Moskau keinen Frieden bringen werden. In einem Artikel für The Guardian erklärt er, dass Wladimir Putin entschlossen ist, die Ukraine vollständig zu zerstören und ihre Bürger in die Russische Föderation zu „assimilieren“. Russland fordert nämlich die Anerkennung der besetzten Gebiete der Ukraine als sein eigenes Territorium im Austausch für das Ende des Krieges.
Er zieht Parallelen zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs, und er vergleicht die Forderungen nach territorialen Zugeständnissen der Ukraine mit den Forderungen der Nazis von 1938, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das nationalsozialistische Deutschland abtreten sollte.
Moskau habe nie Interesse an einer friedlichen Kooperation mit dem Westen gehabt, solche auch nicht angedeutet, und hat alle Angebote der Zusammenarbeit zurückgewiesen. Dem Westen und besonders Deutschland kann man vorwerfen, dass sie viel zu spät das wahre Gesicht des Kremls erkannt haben. Spätestens nach der Annexion der Krim 2014 hätte man die Absichten Putins erkennen müssen. Bei Hitler war es auch zuerst der Anschluss seiner Heimat Österreich an das Reich, und später des Sudetenlandes. Spätestens dann konnte man die erschreckenden Parallelen der Politik Putins zu jener Hitlers feststellen.
In Deutschland wehrt sich aber eine einflussreiche Gruppe von linken Intellektuellen, Journalisten, prominente Autoren und sogenannte „Putinversteher“ gegen einen solchen Vergleich und überhaupt gegen den Vorwurf Putin hätte den Krieg gewollt und begonnen. Deren Argument ist, dass die USA und die Nato den Krieg provoziert hat und hauptsächlich daran schuld sei. Timothy Snyder, einer der einflussreichsten Russland-Kenner, fragte: „Warum fällt es Deutschland so schwer, von einem faschistischen Russland zu sprechen?“ Warum liest man in der deutschen Presse permanent, dass man Putin nicht reizen sollte und darf. Etwa weil er über Nuklearwaffen verfügt? Über diese Waffen hatte Russland auch verfügt, als es aus Afghanistan flüchten musste.
Bei vielen Linken ist es aber weniger die Sympathie für Russland als Erbe der Sowjetunion, als vielmehr die Antipathie, um nicht zu sagen der Hass gegenüber Amerika als den Staat, der am Vietnam-Krieg schuldig ist. Es ist wohl das Vietnam-Trauma, dass noch bei vielen linken Intellektuellen wie ein Virus steckt und das Denken und Fühlen vergiftet. Wir gingen damals alle auf die Straßen. Wir haben aber nicht gegen die USA oder die Amerikaner protestiert, sondern gegen den völkerrechtswidrigen Krieg, gegen das Abwerfen von Napalmbomben und die totale Zerstörung der Infrastruktur, so wie die Russen es heute in der Ukraine machen. Nur sehe ich leider keine linken Demonstranten, die dagegen protestieren. Ich sehe linke, naive und gehirngewaschene Demonstranten, die dumme und peinliche Parolen für Russland und gegen die Ukraine skandieren und Angst haben Putin zu reizen, weil er Nuklearwaffen hat. Und die berühmt-berüchtigte Publizistin Gabriele Krone-Schmalz lobt Russland, weil es dort im Gegensatz zu den USA keine Todesstrafe gäbe. Das ist wahrlich richtig, aber sie vergisst bei dieser Gelegenheit zu erwähnen, dass Putin keine Todesstrafe benötigt, weil er seine Gegner auch ohne Todesstrafe tötet: Durch Vergiftung, Gasanschläge oder ganz einfache Ermordung (wie im Berliner Tiergarten).
Und Publizisten wie Michael Lüders beschäftigen sich mit der Frage, ob Moral über alles steht, und fragen ihre Leser, warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Er plädiert für den puren Machiavellismus und fordert unsere Regierung auf, Putin nachzugeben, ihn nicht unnötig zu reizen und Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Er nennt die gegenwärtige Politik Heuchelei und lobt Orban, der nur die Interessen seines engen Landes im Auge hat. Ich frage mich freilich, wo wir alle heute stünden, und ob ein Michael Lüders seine gesellschaftskritischen Bücher schreiben könnte, wenn 1941 die Amerikaner beschlossen hätten: Amerika first. Wie sähe die Welt heute aus, wenn Roosevelt sich geweigert hätte, Europa zu helfen, wenn er die Briten und vor allem auch Russland nicht mit Waffen, Munition und Kleidung bis zu Nahrungsmittel unterstützt hätte. Und so wie man damals nicht zulassen konnte, dass Hitler den Krieg gewinnt, so dürfen wir heute nicht zulassen, dass Putin die Ukraine besiegt. Und es reicht nicht die russische Armee aus der Ukraine zu vertreiben. Die russische Armee muss bedingungslos kapitulieren, so wie seinerzeit die Wehrmacht. Putin muss vor einem Kriegsverbrecher-Tribunal gestellt werden und alle, die ihn unterstützt haben wie Lukaschenko ebenso.
Ich bin immer noch der Meinung, dass Moral über alles steht, auch über der Politik. Eine unmoralische Politik ist niemals nachhaltig und ist früher oder später zum Schweitern verurteilt. So erging es Hitler, Stalin, Ceausescu und anderen totalitären Regimen. Ich halte mich da an Winston Churchill, der gesagt hat: Demokratie ist schlecht, aber wir haben nichts Besseres. Es ist halt noch schlechter, wenn Imperien von Einzelpersonen regiert werden. Wir sehen es heute mehr als deutlich an Russland. Putin kann sich grämen und ärgern und er mag vor Wut schäumen, aber die amerikanische Demokratie, so viele Fehler sie auch hat, ist halt für die Menschen in Amerika besser. Sie leben freier, dürfen sagen, was sie wollen und lesen was sie begehren, und das ist schon die halbe Miete. Und es mögen manche Besserwisser das als „Arroganz des Westens“ bezeichnen, aber die Betrachtung Russland durch eine rosa-rote Brille, wie es zum Beispiel Gabriele Krone-Schmalz tut, ist naiv und dümmlich. „Wo bleibt die Dankbarkeit gegenüber Moskau für die deutsche Vereinigung?“, fragt sie. Es bedarf da keine Dankbarkeit. Die Beziehungen zwischen Staaten bestehen nicht aus Liebe und Freundschaft, sondern aus knallharten Interessen. Moskau hat uns damals keinen Gefallen getan, sondern im eigenen Interesse gehandelt. Es war 1989 nicht mehr in der Lage sein Imperium zu halten; deswegen entließ es Deutschland gegen viel Geld aus der gefährlichen Umarmung. Andere Staaten entließ es auch, allerdings für etwas weniger Geld.
Es ist gut und richtig, wenn sich Menschen an die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und anderswo erinnern, aber dann sollten sie sich auch der russischen Kriegsverbrechen erinnern, die andere nicht vergessen haben und nicht vergessen können.
Abraham Melzer, 23.09.2023