von Arn Strohmeyer
Der für den 8. Mai geplante Al-Quds-Marsch darf nicht stattfinden. Das haben die Berliner Behörden mitgeteilt. Al-Quds ist der arabische Name für Jerusalem, und der eigentlich jährlich stattfindende Protestmarsch verschiedener aus dem Nahen Osten stammender Gruppen und deutscher Sympathisanten richtet sich gegen die israelische Besetzung Ost-Jerusalems mit der Al-Aqsa-Moschee als einem der größten islamischen Heiligtümer, aber auch ganz allgemein gegen den Raub palästinensischen Landes durch die Zionisten und die Unterdrückung eines ganzen Volkes. Für die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) und die Behörden ist der Protest gegen Israels permanenten Bruch von Völkerrecht und Menschenrechten eine „israelfeindliche“ und „antisemitische“ Veranstaltung. Nach der Berechtigung einer solchen Protestdemonstration wird natürlich nicht gefragt, da ist das vermeintliche Schreckgespenst der Hisbollah ein willkommener Vorwand, die angeblich hinter dem Al-Quds-Marsch stehen soll.
Nun mag es ja sein, dass sich unter die Demonstranten dieses Marsches Gruppen oder Individuen mischen können, die wirklich antisemitische Hassparolen gegen Israel verbreiten – Judenhass so verstanden, dass die typischen antisemitischen Stereotypen gegen diesen Staat vorgebracht werden. Was sich durch behördliche Auflagen aber leicht verhindern ließe, wenn man dies nur wollte. Aber genau dies will man eben nicht. Es geht um viel mehr: ein Verbot des palästinensischen Geschichtsnarrativs. Es darf in diesem Land nur eine Geschichtserzählung über Palästina gelten und das ist die zionistische.
Man kennt den Vorgang aus Israel, wie die Zerstörung und Auslöschung von Geschichte funktionierten und noch funktionieren. Der israelische Historiker Ilan Pappe hat es in seinem Buch Die ethnische Säuberung Palästinas ausführlich beschrieben, das die Verbrechen der Nakba behandelt. Alles, was an die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende lange Geschichte der indigenen Palästinenser in diesem Land erinnert, wurde beseitigt. Ganze Dörfer, Kulturdenkmäler und religiöse Stätten wurden gesprengt oder abgerissen. Auf den zerstörten Siedlungen wurden sehr oft Natur- oder Freizeitparks errichtet – mit aus Europa importierten Bäumen, weil man eine Flora schaffen wollte, die nichts mehr mit dem Orient zu tun haben sollte. Die Anwesenheit des palästinensischen Volkes soll es eben gar nicht gegeben haben. Selbst die israelischen Archive, die das Wissen über die Geschehnisse in Palästina bewahren, sind wieder geschlossen worden, nachdem sie wenigstens eine Zeit lang den Historikern offen gestanden hatten.
Die historische Wahrheit kann eine gefährliche Wirkung entfalten, dessen ist man sich in Israel sehr bewusst. Sie könnte das ganze mühselig konstruierte „moralische“ Fundament des zionistischen Unternehmens hinwegfegen, und deswegen wird den Historikern der Zugang in die Archive verwehrt. Aber in der kurzen Phase der Öffnung konnten die sogenannten „neuen“ Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe, Tom Segev und Avi Shlaim den freigegebenen Dokumenten die wichtigsten Fakten über die Nakba 1948 und ihren Fortgang bis heute entnehmen, so dass die Mythen der zionistischen Geschichtsschreibung größtenteils schon gründlich aufgearbeitet und entmythologisiert werden konnten. Palästinensische Historiker haben mit eigenen Beiträgen zudem wichtige aufklärerische Beiträge geleistet.
Aber was interessiert das deutsche Innenminister/innen und Senatoren? Für die gilt als „Staatsräson“ nur das zionistische Geschichtsnarrativ und damit basta! Geboren ist eine solche Haltung wie die gesamte deutsche Politik gegenüber Israel aus dem andauernden Schuldgefühl, das die NS-Vergangenheit mit ihren furchtbaren Verbrechen verursacht hat. Deshalb sucht man nach seelischer Entlastung und meint, Sühne mit einem totalen Philosemitismus und einer Überidentifizierung mit Israel und seiner Politik erreichen zu können. Zu den Verbrechen dieses siedlerkolonialistischen Staates schweigt man, stattdessen werden ständig die gemeinsamen „Werte“, die man mit diesem Staat teilt, hervorgehoben. Dazu gehört auch die Leugnung der wirklichen Geschichte Palästinas, und deswegen dürfen die Demonstranten am Al-Quds-Tag auch nicht an sie erinnern.
Was die Hisbollah und ihren „Antisemitismus“ betrifft, die als Grund für das Verbot vorgeschoben wird, sei ein Zitat des israelischen Historikers und Philosophen Moshe Zuckermann angeführt. Er schreibt: „Wer noch immer nicht den Unterschied zwischen Judentum, Zionismus und Israel, mithin zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik begriffen hat, wird zwangsläufig miteinander vermengen, was auseinandergehalten gehört. Israel führt einen erbitterten Kampf gegen Hamas und Hisbollah; dieser hat seinen historischen Ursprung sowie seine aktuelle Begründung in der nahöstlichen Geopolitik und im israelisch-palästinensischen Konflikt, nicht im Antisemitismus als solchem, schon gar nicht in einem dem abendländischen vergleichbaren Antisemitismus.“ Über diese Sätze eines Israeli sollten deutsche Politiker/innen ruhig einmal nachdenken.