Die Situation in Israel erinnert mich manchmal an den Film „Jakobowsky und der Oberst“. Da ich das Buch von Franz Werfel nicht gelesen habe, muss ich an den Film denken. Der jüdische Komiker Danny Kaye spielte den Juden Samuel L. Jakobowsky. Curd Jürgens den polnischen Oberst Thaddäus Prokoszny.
Die Handlung spielt im Paris des Jahres 1940, kurz vor dem Überfall der Deutschen Wehrmacht. Aber eigentlich ist die Handlung beliebig austauschbar, denn es geht um etwas ganz anderes, um „Sein oder Nichtsein“ um zwei Welten, die sich begegnen und nach einer langen Odyssee sich annähern und sogar verwandeln. Werfel thematisiert das Verhältnis zwischen einem Juden und einem Oberst, die beide – trotz anfänglicher Abneigung gegeneinander – zusammenhalten müssen, um zu überleben.
Das Lebensmotto Jakobowskys zieht sich wie ein „roter Faden“ durch den Film: „Man hat immer zwei Möglichkeiten im Leben!“ Als Gegensatz dazu ist der fanatische Oberst zu Beginn des Films davon überzeugt, dass es für einen Mann von Ehre immer nur eine Möglichkeit gibt. Die Gegenüberstellung beider Aussagen findet in der Schlüsselszene im Café statt, als Jakobowsky sich nicht sicher ist, was er tun soll und aus Angst vor dem vielleicht nahenden Tod durch die Deutschen, sich selbst umbringen möchte. Da rettet ihn der Oberst, der plötzlich erkennt, dass es immer noch eine andere Möglichkeit gibt.
Wie komme ich auf diesen Vergleich? Meine Schwester, die in Israel lebt und eine tiefgläubige Zionistin ist, meint zu allem, was in Israel passiert, zu Kriegsverbrechen und zur Einführung radikal undemokratischer Gesetze, das Israel keine andere Wahl habe. Der Slogan „Ein Brera“ – Es gibt keine Wahl – ist zu einem geflügelten Wort in Israel geworden. Dass es immer noch keinen Frieden mit den Palästinensern gibt, fällt unter „Ein Brera“, und dass israelische Soldaten ohne gerichtliche Entscheidungen „verdächtigte“ Palästinenser gezielt liquidiert, was man getrost so nennen sollte, was es ist, nämlich gezielter Mord, fällt ebenfalls unter den Slogan: Es gibt keine Wahl.
Nun lehrt uns der Jude Franz Werfel, dass man immer eine Wahl hat und nur nationalistische (antisemitische) und chauvinistische Militärs, wie der polnische Oberst der Meinung sind, dass Pflicht und Ehre erfordern, dass man nicht überlegen muss und soll und dass man immer den geraden Weg gehen soll, auch wenn dieser in den Untergang führt, und zwar in den eigenen und in den der anderen. Der Oberst, ein Mann von Ehre, hätte den Krieg nicht überlebt, wenn nicht der Jude ihm geholfen hätte und immer dann, wenn der Soldat meinte, dass es nur einen Weg gibt, erinnerte sich der Jude daran, was seine jiddische Mutter ihn gelehrt hat: Es gibt immer zwei Möglichkeiten.
Diese Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, zwischen Gut und Böse, zwischen Krieg und Frieden und zwischen Überleben und Sterben ist eine uralte jüdische Weisheit, die schon im Talmud vorgeführt wird. Es ist die Weisheit des Königs Salomon, der weise zwischen zwei Frauen entschieden hat, von denen jede erklärte, die Mutter eines Neugeborenen zu sein. Werfel beendet seine Geschichte damit, dass der Oberst am Ende auch der Meinung ist, dass es immer zwei Möglichkeiten gibt, während für den Juden Jakobowsky plötzlich nur noch eine Möglichkeit existiert.
Offensichtlich waren das prophetische Ahnungen, die Werfel dazu brachten, seine tragische Komödie so zu beenden. Denn die Juden sind heute die nationalistischen und chauvinistischen Soldaten, sozusagen die Polen von heute (oder auch die Deutschen). Sie sind unflexibel wie ein polnischer Oberst, der nur an seine Ehre denkt und dabei in der Lage wäre, Kriegsverbrechen zu begehen, was im Zweiten Weltkrieg oft genug geschah, und die Palästinenser, die lange von ihrer Ehre sprachen, so überzeugend und naiv, dass die Israelis sich darüber amüsierten, sie sind heute flexibel und sehen die verschiedenen Möglichkeiten, die zum Frieden führen.
Der Oberst hat vom Juden gelernt, immer auch noch einen zweiten Ausweg zu suchen und zu finden. Die Juden, zumindest diejenigen unter ihnen, die Israelis geworden sind, haben vergessen, dass es mehrere Möglichkeiten gibt und wollen nur das Eine: Die Palästinenser aus ihrem „Heiligen Land“ vertreiben. Sie wollen nicht mit ihnen in einem Land leben. Aber es leben nun mal mehr als sechs Millionen Palästinenser in Eretz Israel. Will Israel eine Shoah durchführen, eine neue Nakba für die Palästinenser und alle sechs Millionen vertreiben und wenn es sein muss, ermorden?
Es gibt leider zahlreiche Israelis, die es so sehen und meinen, es gibt keine andere Wahl. Sie sprechen nicht von Vertreibung der Palästinenser in die Wüste (wie es einst die Türken mit den Armenier getan haben), sondern benutzen das Wort „Transfer“, wie einst die Deutschen auch nicht von der Ermordung der Juden sprachen, sondern nur von der „Endlösung“.
Sie haben – ganz nebenbei – Ihre Antwort auf die fundamentalste Urfrage der Geschichte der Deutschen beantwortet: „wie konnte ‚es’ nur geschehen.“
Die „Judenfrage“ in der modernen Form, die sich zu dem christlich motivierten jahrhundertealten Judenhass gesellte, bestand bereits seit den Emanzipationsedikten im frühen 19. Jahrhundert. An die Beiträge von Karl Marx aus dem Jahr 1843 oder die lesenswertere Sammlung von Dr. Julius Mohr zur „Lösung der Judenfrage“, aus dem Jahr 1907 sei erinnert.
Vermutlich haben mit dem Begriff der „Endlösung der Judenfrage“ nur die wenigsten Deutschen die Möglichkeit einer massenhaften Ermordung verbunden, die dann während des Krieges geschah. Insofern war mir Ihre Sicht wichtig – nicht zur Entlastung von … denn, sich genauer anzuschauen was war und was ist, ist mir wichtiger als zu urteilen, mich auf die Seite der Guten zu stellen.
Sie schildern das, was ich in Avnerys Beiträgen immer wieder lese, der Bericht von einem jüdischen Volk, dass sich von Antisemiten umzingelt fühlt und in einem beständigen Überlebenskampf steht, dass nahezu jedem seiner Nachbarn misstraut.
Wie heilfroh bin ich, dass sich Deutsche gegenseitig überbieten, welche guten Beziehungen sie zu Frankreich und Großbritannien haben, selbst wenn die Geschichte deutscherseits geschönt dargestellt wird, um den uralten Hass endlich zu begraben – auch wenn dieser nie ganz verlöschen wird.
Der gegenseitige Glaube, dass die anderen nur da sind, das eigene Volk zu vernichten, ist eine Bürde, die man wenigstens den Kindern ersparen sollte.