Rede zu den Auseinandersetzungen in Palästina

von Jürgen Jung

Wenn man die Berichterstattung unserer Medien und die Reden unserer Politiker verfolgt, gewinnt  man den Eindruck, dass der erneute Kriegsausbruch eindeutig und allein von der „radikal-islamischen Hamas“ ausgegangen ist, die nichts anderes zu tun habe, als Raketen auf Israel zu schießen, das sich natürlich verteidigen muss.

Es hat da allerdings einen Vorlauf gegeben, auf den kaum hingewiesen wird, nämlich eine ganze Reihe von Provokationen seitens der Israelis. Nach den täglichen Ramadan-Gebeten hat Israel Absperrungen in Ost-Jerusalem, etwa am Damaskus-Tor, errichtet, wo sich die Palästinenser am Abend versammeln. Dazu ist die Polizei auch noch auf den Tempelberg vorgedrungen und hat sogar Schockgranaten in die Al Aksa-Moschee geworfen, die drittheiligste Stätte in der islamischen Welt.

Die von Amnesty International diesbezüglich gesammelten Beweise zeigen ein erschreckendes Muster des Vorgehens israelischer Streitkräfte, die in den letzten Tagen gewaltsam gegen weitgehend friedliche palästinensische Demonstranten vorgegangen sind.

Darüber hinaus hat  Amnesty die isrelischen Behörden aufgefordert, die Zwangsräumungen im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, die sehr viel Unmut unter den Palästinensern und die gegenwärtigen Unruhen ausgelöst haben, sofort einzustellen und die anhaltende Vertreibung von Palästinensern aus Ost-Jerusalem zu beenden.

Amnesty wörtlich: „Diese Zwangsräumungen ….verletzen eklatant das Völkerrecht und kommen Kriegsverbrechen gleich.“ 

Begründet werden die Zwangsräumungen von Israel damit, dass die Häuser vor 1948 Juden gehört hätten. Selbst wenn dies stimmt, was ist mit den Häusern, den Dörfern der etwa 750 000 Palästinenser, die damals anlässlich der Staatsgründung vertrieben wurden? Ihnen wird die vom Völkerrecht ausdrücklich zugestandene Rückkehr und die Inbesitznahme ihrer Häuser und Wohnungen strikt und prinzipiell verweigert.

Auf einen entsprechenden Hinweis des Nahostexperten Michael Lüders (in einer Phönix-Runde vor ein paar Tagen) antwortete der Moderator, dass es diese Flüchtlinge ja nicht gegeben hätte, wenn die arabischen Staaten Israel damals nicht angegriffen hätten. Dass vor diesem Angriff (vom 15. Mai 1948) bereits etwa 200 000 Palästinenser vertrieben und ca. 200 ihrer Dörfer zerstört waren, das wird hierzulande so gut wie nie thematisiert.

Der Moderator behauptete auch, dass Israel 1967 wiederum von den arabischen Staaten attackiert worden sei. Dass dies eine schlichte Geschichtsfälschung ist, die längst widerlegt ist, dass es sich ganz im Gegenteil um einen eindeutigen Präventivschlag Israels gehandelt hat, der zur Vertreibung von weiteren 300 000 Palästinensern führte – was übrigens alles von israelischen Historikern empirisch nachgewiesen wurde –, auch davon hatte der Phönix-Moderator offensichtlich keine Ahnung.

Wir sehen hier ein immer wiederkehrendes Muster der Übernahme des zionistischen Narrativs, der zionistischen Ideologie, durch unsere Medien und auch durch unsere Politiker, die sich konsequent weigern, die Realität im Nahen Osten zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn man sie darauf aufmerksam macht, ist man – ein Antisemit!

Ja, zum Teufel, warum schießt denn die Hamas auch so viele Raketen auf Israel, selbst wenn sie nicht gerade sehr zielgenau sind? Nun ja, die „radikal-islamische Hamas“ ist ja angeblich auch eine Terrororganisation. Dass Israel sie in ihren Anfängen sogar gegen die Fatah gefördert hat – im Sinne von Divide et impera! Teile und herrsche! –, dass es sich bei ihr eigentlich um die bei der letzten Wahl (von 2006) mit überwältigender Mehrheit an die Regierung ganz Palalästinas gewählte Partei handelt, wird zumeist unterschlagen. Und dass sie nichts anderes im Sinn habe, als Israel zu vernichten, entspricht leider auch nicht den Tatsachen, denn sie hat Israel in ihrem Regierungsprogramm immerhin eine religiös konnotierte Hudna, einen langfristigen Waffenstillstand angeboten,  den zu brechen – gerade für die islamische Hamas – ein schwere Sünde wäre. Und es sei hier ausdrücklich betont, dass man keineswegs ein Freund der Hamas sein muss, um auf diese Zusammenhänge hinzuweisen.

Wenn also die Hamas Raketen auf Israel abfeuert, dann tut sie das in erster Linie, um Israel klarzumachen, dass es sich nicht alles straflos erlauben kann, dass es mit gewaltsamem Widerstand zu rechnen hat, was das Völkerrecht übrigens dem Besatzer gegenüber ausdrücklich erlaubt, wenn auch nicht gegen Zivilisten, die wegen der technischen Rückständigkeit, der geringen Treffgenauigkeit der (zum Teil selbstgebastelten) Hamas-Raketen immer wieder in Mitleidenschaft geraten, allerdings in weit geringerem Maße als die Palästinenser durch die hochentwickelten israelischen Waffen. Die Zahlen sprechen für sich: bis jetzt sind seit Ausbruch der gegenwärtigen  Krise annähernd 200 Palästinenser, vorwiegend Zivilisten – unter ihnen viele Frauen und Kinder  – ums Leben gekommen, auf israelischer Seite – etwa 10!

Angesichts der fortdauernden Gewalt in Palästina, nach etlichen kriegerischen Auseinandersetzungen bleibt natürlich die Frage nach einer Lösung dieses grauenhaften Konflikts. Da wird von der Weltgemeinschaft, auch von der Bundesrepublik, immer wieder die Zwei-Staaten-Lösung ins Spiel gebracht, wobei aber übersehen wird, dass die Israelis, vor allem die gegenwärtige rechts-reaktionäre Regierung, durch ihren völkerrechtswidrigen Siedlungsbau einen palästinensischen Staat zunehmend unmöglich machen, abgesehen davon, dass sie sich immer wieder eindeutig gegen einen „Terrorstaat“ an ihrer Seite ausgesprochen haben

Um zu begreifen, worauf das alles hinaus soll, lohnt ein Blick in die Vorgeschichte des Staates Israel. Auf dem Zionistenkongress 1947, also ein Jahr vor der Staatsgründung, äußerte sich David Ben-Gurion, der spätere Minsterpräsident, folgendermaßen: „Unser Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Palästina, sondern ganz Palästina als jüdischer Staat.“

Und erst im vergangenen September hat der junge israelische Philosoph Omri Böhm in einem großen Artikel in der SZ die „ethnische Säuberung Palästinas“ als heute immer noch andauernden Prozess benannt.

Anfang des Jahres hat die bedeutende israelische Nichtregierungsorganisation B‘Tselem Israel in einer Studie immerhin als Apartheidstaat bezeichnet. Im April wurde diese Analyse bestätigt durch eine gründliche, 200 Seiten lange Untersuchung der renommierten Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die zu dem gleichen Schluss kommt.

Vor wenigen Tagen erst hat unser Freund Prof. Moshe Zuckermann, emeritierter Historiker und Soziologe von der Universität Tel Aviv, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern in den besetzten Gebieten als eine seit Jahrzehnten andauernde „Barbarei“ bezeichnet.

Dazu ein paar Fakten:

Seit 1967 hält Israel völkerrechtswidrig das Westjordanland und die Golanhöhen besetzt. Ost-Jerusalem wurde nicht nur besetzt, sondern im Jahre 1980 annektiert.

Die Bevölkerung in den besetzten Gebieten erleidet seit dieser Zeit Gewalt, Vertreibung, Enteignung, sowie erhebliche Einschränkungen ihrer Menschenrechte als Resultat dieser Besetzung, in den meisten Fällen unter Verletzung des Völkerrechts.

Im Westjordanland, einschließlich des annektierten Ost-Jerusalems, sind Hauszerstörungen an der Tagesordnung. Sie schließen auch die Zerstörung des sonstigen Besitzes, der Wohn- und Lebensstrukturen ein und bedeuten Vertreibung.

Das „Israelische Komitee gegen Häuserzerstörung“, ICAHD, schätzt,  dass ca. 27 000 Häuser in den besetzten Gebieten seit 1967 zerstört worden sind. Diese Schätzung beruht auf Angaben des israelischen Innenministeriums, UN- Organisationen, der Gemeindeverwaltung Jerusalems, Menschenrechtsgruppen und Beobachtern vor Ort.

Angesichts all dessen kann es nicht Wunder nehmen, dass die notwendig daraus resultierende Israel-Kritik und der Antizionismus ständig zunehmen. Nun setzen unsere falschen Israelfreunde den Antizionismus kurzerhand mit Antisemitismus gleich. Das würde allerdings heißen, das sehr, sehr viele Juden weltweit alle Antisemiten wären – wie lächerlich!

Schon im Jahre 2007 meinte z. B. der auch im Mainstream hochgeschätzte jüdische Prof. Alfred Grosser – zu feierlichen Anlässen wurde er wiederholt eingeladen, vor dem Bundestag zu reden –, dass es gerade die Politik Israels sei, die den Antisemitismus fördere.

Und bereits 2002 hatte Uri Avnery, der 2018 verstorbene, große alte Mann der israelischen Friedensbewegung, über die Politik der damaligen Regierung geschrieben, dass sie wie „ein riesiges Labor“ sei, „in dem der Virus Antisemitismus gezüchtet und in die ganze Welt exportiert wird…..Viele anständige Leute, die keinerlei Hass gegen Juden empfinden, aber die Drangsalierung der Palästinenser verabscheuen, werden jetzt als Antisemiten bezeichnet……Die eigentliche Folge ist, dass Israel nicht nur die Juden nicht vor Antisemitismus schützt, sondern im Gegenteil: Israel fabriziert und exportiert Antisemitismus, der Juden rund um die Welt gefährdet.“

Dem ist im Grunde nichts hinzuzufügen, und darüber sollten unsere Medien und Politiker einmal nachdenken.

Ein Gedanke zu „Rede zu den Auseinandersetzungen in Palästina

  1. Man darf das nicht zusammensetzen, was deutsche und was israelische Politiker sagen. Erstere quatschen nur, was Amerikaner und jüdische Verbände hören wollen, die anderen treiben psychologische Kriegsführung. Man muß das separat analysieren. Man kann die israelische psychologische Kriegsführung widerlegen, steigt aber damit in diesen Psychokrieg mit ein. Lohnt sich das? Soll man das? Sollen doch die israelischen Conquistadores sich als ewig gejagte Holocaustflüchtlinge darstellen: das ist ihre Taktik und auch ihr seelisches Problem. Sollen sie ihren postkolonialen Kirchenstaat für eine Demokratie halten, was geht uns das an?
    Es lohnt sich aber, dem Gequatsche deutscher Politiker zu opponieren. Man muß nur klarstellen, daß man dies separat von der Auseinandersetzung in Nah-Ost tut. Wir leben in Deutschland unter der Regie einer geistig minderwertigen politischen Führung. Man erkennt nicht, daß bei uns in Ger(m)anien trotz aller westlicher Parteinahme auch die moslemischen Mitbürger hier in Frieden sollen leben können; das verlangt. daß man ihre Sympathie für die Betroffenen in Palästina akzeptiert, ernst nimmt und nicht als „Antisemitismus“ verteufelt.

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