Den klassischen Antisemitismus haben die Deutschen angeblich weitgehend eingehegt. Nun soll er als Import zurückkommen. So oder ähnlich meinen es in letzter Zeit immer mehr Publizisten, Politiker und Funktionäre. Auch Josef Joffe von der ZEIT hat jetzt seinen Senf dazu gegeben. Eigentlich ist es müßig, sich mit derartigen „Fachleuten“ auseinanderzusetzen, die den Antisemitismus in drei Typen unterscheiden zu müssen glauben: den historischen, den sekundären und den israelbezogenen Antisemitismus. Dabei bezeichnet er Juden als „Hebräer“. Joffe ist übrigens nicht der einzige Jude, der deutsche Juden als „Hebräer“ bezeichnet, ein Begriff aus dem Wörterbuch der Nazis, der eher in den Stürmer passt als in die ZEIT.
Auch Rafael Seligmann, der emsige jüdische Publizist, der den Roman Deutsch meschugge geschrieben hat, und Herausgeber von Jewish Voice from Germany ist, bezeichnet in seinen Büchern und Essays die Juden immer nur als „Hebräer“ und trotzt damit der permanenten Häme von Henryk M. Broder, der sich darüber lustig macht. Und wenn Broder ansonsten kaum mehr ernst zu nehmen ist, so hat er in diesem Fall Recht.
Die Nazis haben den Begriff benutzt, um zu unterstreichen, dass Juden keine Germanen sind. Dabei sind fast alle Deutschen keine Germanen. Deutsche Juden hätten sich dagegen gewehrt, als „Hebräer“ bezeichnet zu werden. Sie waren deutsche, französische, holländische oder polnische Juden, oder jüdische Deutsche, Franzosen, Holländer oder Polen. Und heute ist es nicht viel anders. Ich identifiziere mich eher als jüdischer Deutscher und gewiss nicht als Hebräer. Leider bezeichnet sich der Zentralrat immer noch als „Zentralrat der Juden in Deutschland“. Demnach sind Juden immer noch nicht integriert und leben hier als „Fremde im eigenen Land“, aber nicht so, wie es Henryk M. Broder einst meinte, als er sein Buch mit diesem Titel herausbrachte. Broder war damals in der Tat fremd in diesem Land und ist es bis heute geblieben. In Israel, wohin er für 10 Jahre geflüchtet ist, ist er auch fremd geblieben. Mag sein, dass er nicht mehr im Ghetto lebt, aber das Ghetto lebt noch immer in ihm.
Dasselbe gilt auch für Josef Joffe, Rafael Seligman, Charlotte Knobloch u.v.a., die sich als „Hebräer“ identifizieren und als Israelis fühlen und nicht müde werden zu betonen, dass ihr Herz in Israel liege. Ich fürchte, es ist eher ihr Verstand, der dort begraben liegt.
Was Joffe über Antisemitismus schreibt, bestätigt dies. Es ist das, was von vielen Zionisten und Philosemiten penetrant wiederholt wird, die wenig Ahnung vom Judentum haben und sich mit Statistiken und Zahlen beschäftigen, die sie nach Lust und Laune interpretieren. Obwohl das Zahlenbild in den letzten Jahren „lichter“ geworden ist, wie Joffe sich ausdrückt, und einen bedeutsamen Rückgang antisemitischer Einstellungen in Deutschland zeigt, nämlich von 26 auf 17 Prozent, so Joffe selbst, bleiben sie dabei, dass der Antisemitismus ständig zunimmt. Andere Studien zeichnen ein noch rosigeres Bild: Antisemitische Einstellungen seien gar in den einstelligen Bereich abgesunken. Zudem kommt noch die Erkenntnis, dass vieles von dem, was in solchen Studien als Antisemitismus „erkannt“ wird, simple Vorurteile sind, wie zum Beispiel: „Wo so viele Banken stehen, muss es auch viele Juden geben.“
Joffe gibt sich aber damit nicht zufrieden. Er berichtet nicht über den Antisemitismus, er sucht ihn, weil er sich nicht damit abfinden mag, dass es ihn nur noch marginal gibt. Wenn er ihn aber nicht finden kann, dann schwadroniert er vom Sekundär-Antisemitismus, also davon, dass 13 Prozent der Deutschen Juden als Fremdkörper betrachten. Dabei wundert es mich, dass es nur 13 Prozent sind, wo doch die offizielle Politik des Zentralrats davon ausgeht, dass sie tatsächlich Fremde sind. Jude in Deutschland bedeutet für den Zentralrat der Juden eben nicht, Deutscher zu sein.
Sekundär-Antisemitismus, klagt Joffe, sei, wenn fast jeder Dritte in Deutschland glaubt, dass Juden Vorteile aus der „Vergangenheit“ zu schlagen versuchen. Das mag auf den einzelnen Juden nicht zutreffen, der Entschädigung, Wiedergutmachung für erlittenes Leid oder verlorenes Gut, bekommt. Es trifft aber ganz sicher zu auf die Politik des Staates Israel, die aus der Shoa ein „business“ macht und Druck auf Deutschland ausübt. Joffe räumt ein, dass der Holocaust ein Geschäft geworden ist: „Der millionenfache Mord als Macht- und Geldquelle für den Staat Israel“. There is no business like shoa business, so die bitter-ironische Erkenntnis, die Israels früherem Außenminister Abba Eban zugeschrieben wird.
Und so versteht es Josef Joffe, über den Antisemitismus zu schreiben, ohne zu erklären, worin er sich eigentlich ausdrückt. Er springt vom „historischen“ zum „sekundären“, um schließlich beim „israelbezogenen“ Antisemitismus zu landen, als ob es sich dabei um eine logische Fortsetzung des alten Judenhasses handle. Er schreibt: „Vier von zehn können es angesichts der israelischen Politik gut verstehen, dass man etwas gegen die Juden hat – notabene gegen die Juden, nicht gegen die Israelis.“ Es ist schon verwunderlich, dass er sich darüber wundert, wo doch Israel nicht müde wird zu betonen, dass es der Staat der Juden ist und merkwürdigerweise nicht der Staat der Israelis. Nach dem israelischen Personalausweis ist man auch kein Israeli, sondern Jude. Und es ist daher keineswegs überraschend, dass Israelkritik – insbesondere bei Arabern – von Deutschen allzu leicht als Antisemitismus interpretiert wird.
Man muss andererseits mitnichten Antisemit sein, um Israel zu kritisieren und zu verurteilen. Es reicht Mensch zu sein, es reicht ein Gewissen zu haben und einen gesunden Menschenverstand. Joffe behauptet nun, dass jeder Israel kritisieren kann und darf. Wenn man es aber tut, dann schreien Joffe, Broder, Wolffsohn, Knobloch und Schuster sofort im Chor: Antisemit!
Enervierend und peinlich ist auch die Arroganz mit der Joffe Leute wie Blüm und Grass belehren zu dürfen glaubt, die das Richtige und Notwendige gesagt haben, was Joffe aber offensichtlich nicht gefallen hat. Zu diesen beiden kann man noch Erich Fried, Noam Chomsky, Jeshajahu Leibowitz, Rolf Verleger, Gideon Levy u.v.a. zählen, die über ein Gewissen verfügen und nicht so überheblich und selbstgerecht sind wie Joffe. Leibowitz hat den Begriff „Judeo-Nazis“ – bezüglich der israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten – geprägt, was zu einem geflügelten Wort geworden ist. Und wenn Joffe sich beklagt, dass man Gaza mit einem Ghetto vergleicht, dann sollte er uns erklären, warum Gaza kein Ghetto ist. Er begnügt sich mit wenig überzeugenden, weil der israelischen Propaganda entliehenen Kommentaren.
Charlotte Knobloch hat versucht bei Gericht durchzusetzen, dass der Vergleich zwischen Gaza und einem Ghetto ein Zeichen von antisemitischer Einstellung sei – und scheiterte.
Joffe verurteilt auch noch den Schriftsteller Martin Walser wegen seiner „abgeleiteten Animosität“ anlässlich seiner Rede bei der Friedenspreisverleihung 1998. Dabei sprach Walser von der „unvergänglichen Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird“. Und er meinte auch zu Recht, dass Auschwitz nicht zur „jederzeit einsetzbaren Moralkeule“ verkommen dürfe. Damals hat man ihm vorgeworfen, ein Antisemit zu sein, und Joffe entblödet sich nicht, es heute wieder zu tun. Walser hatte selbstverständlich Recht. Auschwitz wird von der israelischen Politik permanent instrumentalisiert. Die jährlichen Todesmärsche israelischer Schüler und Politiker mit israelischen Fahnen in Auschwitz zeugen davon. In einem Nachtrag schrieb Walser, „dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos.“ Wann schreiben Broder, Joffe oder Knobloch, dass die Israelis die Schuldner der Palästinenser bleiben? Bedingungslos.
Dem neuen Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, zufolge, nehmen islamische Religionsgemeinschaften eine Schlüsselrolle beim Thema Antisemitismus ein. Er wolle das Thema bei der Deutschen Islamkonferenz einfordern, und die Deutsche Islamkonferenz wiederbeleben. Allerdings sei nur jeder fünfte Muslim in Deutschland in einem Verband organisiert. Da sei die Wiederbelebung der Islamkonferenz eine mögliche Form, auch die Nicht-Organisierten zu erreichen. Dies sei „eines der ersten Dinge, um die ich mich kümmern werde“, sagte Klein.
Es gehe v. a. auch darum, die Menschen zu erreichen, die neu ins Land gekommen seien. Er wolle zwar den Flüchtlingen „keinen pauschalen Antisemitismus unterstellen: Sie sind aber in Ländern sozialisiert worden, die teilweise noch im Kriegszustand mit Israel sind und haben ein Bild vermittelt bekommen von Israel und von Juden, das für uns nicht akzeptabel ist“, sagte der Antisemitismus-Beauftragte.
Er wirft Juden und Israelis leichthändig in einen Topf und geht davon aus, dass wenn Araber Israel hassen, sie auch Antisemiten seien. Man muss wahrlich kein Antisemit sein, um Israel zu hassen. Araber und insbesondere Palästinenser haben dafür jede Menge nachvollziehbare Gründe, und wir Juden brauchen keinen Beschützer, der uns philosemitisch, im Kern aber antisemitisch motiviert, beschützt. Wir brauchen auch keinen Antisemitismus-Beauftragten, wir brauchen eine gut funktionierende Demokratie und, wenn überhaupt, einen Rassismus-Beauftragten, der sich um alle Minderheiten kümmert.
Wo bleibt hier Josef Joffe, der sich und seine ZEIT als Beschützer der Demokratie hinstellt. Hier versagt er, indem er wieder nur das sieht, was er sehen will, bzw. was ihn seine Hasbara-Brille sehen lässt. Joffe ruft auf, gegen Antisemitismus auf die Straße zu gehen. Wann ruft er endlich auf, gegen Vergleiche von BDS-Parolen mit der rassistischen Aufforderung „Kauft nicht bei Juden“, auf die Straße zu gehen? Wenn er schon Juden aufruft zur Unterstützung seiner Thesen, warum diese unsägliche Esther Shapira und nicht den klugen David Ranan, der ein ausgezeichnetes Buch über „Muslimischen Antisemitismus“ geschrieben hat, das Josef Joffe aber, wie es scheint, nicht gelesen hat.
Joffe befürwortet natürlich die Einsetzung eines Antisemitismus-Beauftragten, der sich, wie einst der nationalsozialistische Judenreferent, um Juden kümmern soll. Heute um ihr Wohl und nicht um ihre Vernichtung. Ein Kernelement der Judenfeindschaft war immer die Vorstellung, dass der Einfluss der Juden zu groß ist. Das aber glaubt heute – laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung – gerade mal einer von zehn! Die Forschung zeigt also ein durchaus gewandeltes Bild. Wozu also ein Antisemitismus-Beauftragter? Die neuesten Erhebungen legen eher nahe, dass wir einen Beauftragten zur Bekämpfung des Rassismus, insbesondere der Islamophobie brauchen.
Der Selbstfindungsprozess unter Juden – das „wer sind wir“ – wird wohl noch eine Weile offen bleiben. Juden sind keine Religionsgemeinschaft, dafür gibt es zu viele Atheisten, keine Ethnie, dafür gibt es zu viele Nachkommen von Konvertiten, kein Volk, dafür hat man keine gemeinsame Sprache und angesichts der Politik Israels ist auch keine vermittelbare jüdische Wertegemeinschaft vorhanden. So bleibt offenbar nur der Kampf gegen den Scheinriesen AS als Kristallisationspunkt, die Beachtung gemeinsamer Feiertage und die öffentlichen Erinnerungen an den Holocaust der europäischen Juden.
Wenn Martin Walser meinte „dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos,“ so reiht sich dieser Satz ein in die Liste jener Sätze, die als „Schuldkultur“ angeprangert werden. Deutsche sollten sich allein der Aufklärung Immanuel Kants, dem „sapere aude“ und dem „kategorischen Imperativ“ verpflichtet fühlen. Das hätte jeglichen Ansatz totalitärer Herrschaftssysteme im Keim erstickt und vermieden, dass jeder so seine „Lehren aus der Geschichte“ zieht, so wie es ihm gerade passt, um dem anderen sein Gesetz aufzuzwingen, seine Freiheit einzuschränken.
Ein sehr interessanter und wohl weitestgehend zutreffender Beitrag.
Alles sehr richtig gesehen. Ergänzend: Während meiner Zeit in Israel habe ich mich 1969 zufällig mit Ben Gurion im Kibbutz unter,halten können. Ich habe ihn gefragt was denn seines Erachtens die Juden der Welt verbinde. Er (ein bekennender Atheist) sagte nach kurzem Überlegen: „The common suffering in the past – Das gemeinsame Leid in der Vergangenheit“. Das war m.E. genauso nichtssagend wie die israelische Erklärung „Jude ist wessen Mutter Jüdin ist“!
Richtig, Karl. K.
Je schwieriger die Selbstfindung und Selbstvergewisserung für die vielen „Juifs imaginaire“ ist, desto stärker klammern sie sich an den AS als Stifter einer Identität.