Vorabdruck. Geschichtliche Verfolgungsneurose, Expansionspolitik, religiöser Wahn und der Nahostkonflikt haben die ursprüngliche Idee einer jüdischen nationalen Souveränität in eine regressiv-repressive »Rückbesinnung auf sich selbst« verwandelt
von Moshe Zuckermann
Seine politischen Führer und Ideologen haben den Staat Israel vor eine Wahl gestellt, die nur zwei Möglichkeiten offen hält: Das Land kann sich zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern für die Zwei-Staaten-Variante entscheiden, d.h. eine Friedenslösung zwischen zwei souveränen Staaten Israel und Palästina akzeptieren. Es kann aber auch eine territoriale Teilung zwischen Israel und Palästina torpedieren. In diesem Fall entsteht innerstaatlich eine Struktur, die tendenziell zu jenem demographischen Zustand führt, bei dem die Juden zur Minderheit im eigenen Land werden.
Beide Möglichkeiten werden von vielen Israelis als unannehmbar betrachtet. Unser Autor leuchtet sie aus. Ein Aspekt bei diesem Vorhaben ist das Verhältnis von »Zionismus und Rassismus«. jW veröffentlicht das gleichnamige Kapitel aus Zuckermanns bald erscheinendem Buch »Israels Schicksal« ungekürzt und um Zwischenüberschriften ergänzt. (jW)
Am 10. November 1975 geschah etwas, das man für entweder gravierend oder – gemessen daran, dass dies Gravierende späterhin annulliert wurde – für nichtig erachten kann. Die UN-Vollversammlung entschied: »[…] der Zionismus ist eine Form des Rassismus und der rassischen Diskriminierung«. Die Stimmverteilung für und wider das Verdikt darf sowohl beim Beschluss als auch bei dessen nachmaliger Annullierung außer Acht gelassen werden; sie verdankte sich der jeweiligen, deutlich zeitgeistgeschwängerten politischen Konstellation der UN-Vollversammlung. Da aber der an den Zionismus ergehende Vorwurf des Rassismus durch die Aufhebung der institutionellen Entscheidung mitnichten aus der Welt geräumt ist, lohnt es sich, das Problem besagter Zuschreibung grundsätzlich zu reflektieren.
Man kann es sich dabei leichtmachen, indem man den Begriff des Rassismus auf seine ursprüngliche, namentlich biologistische Grundbedeutung zurückführt und nachweist, dass sich der historische Zionismus nicht durch ein ideologisches Postulat der Rassenreinheit auszeichnete. Zwar weist die jüdische Halacha1 in ihrer Definition des Juden eine biologische Komponente auf – Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde –, aber zum einen gründet diese Doktrin nicht im Zionismus, sondern im religiösen Judentum; zum anderen ist selbst sie prinzipiell »überwindbar«: Denn Jude ist auch der, der eine orthodox anerkannte Konversion zum Judentum begangen hat.
Es stimmt zwar, dass das religiöse Judentum (in striktem Gegensatz zum Christentum und zum Islam) nicht missionarisch ausgerichtet ist, traditionell mithin einer Abgrenzung gegenüber Nichtjuden das Wort redet, aber dies hat nichts mit der Ideologie einer modernen Rassenbiologie zu tun, sondern, wenn überhaupt, mit dem religiös-archaischen Gedanken, auserwählt zu sein, sowie mit der historisch begründeten Ambition, als Religionsgemeinschaft im Diasporischen und im Kontext einer langen Verfolgungsgeschichte zu überdauern. Ein Blick auf Israels Straßen genügt zudem, um sich davon zu überzeugen, wie »rassisch« und ethnisch durchmischt das aus aller Herren Länder im Einwanderungsland Israel zusammengekommene jüdische Kollektiv selbst ist. Selbst wenn man in Anschlag bringt, dass ein Theodor Herzl2 seinerzeit sich nur schwerlich hätte vorstellen können, der von ihm antizipierte Judenstaat würde dereinst auch dunkelhäutige äthiopische und »nichtweiße« orientalische Juden zu seinen Bürgern zählen – und in der Tat verstand sich das zionistische Projekt ursprünglich primär als ein europäisches, mithin aschkenasisches Unterfangen –, so kann ihm nicht im Nachhinein unterstellt werden, rassistischem Gedankengut aufgesessen zu sein. Weiterlesen