von Moshe Zuckermann
Es ist Nichtjuden schwer zu vermitteln, wie sehr sich Juden untereinander uneinig darüber sind, was für jüdisch zu erachten sei. Es will zuweilen scheinen, als wüßten sich Juden disbezüglich nur in einem einig: in der Abgrenzung von den Nichtjuden, womit sie mutatis mutandis den Nichtjuden die gemeinhin von Klischees nur so strotzende Deutungshoheit überlassen. Wenn der Nichtjude zum Kriterium der eigenen Selbstsetzung wird, „der Andere“ also, von dem man sich abzusetzen trachtet, die Definition des Judeseins, ohne sich dessen bewußt zu sein, mitbestimmt, dann ist diese Definition ihrem Wesen nach ex negativo generiert. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß gerade in der Moderne sich das Judesein im Kontext der nichtjüdischen (Um)Welt herausbildete, mithin nicht mehr ausschließlich durch eine positive Bestimmung des Jüdischen gefaßt werden konnte.
Das irritierte den nichtjüdischen Diskurs über die Juden im 19. Jahrhundert zutiefst. Denn was war das Judentum? Eine Religion? Ein Volk? Eine Nation? Daß die drei Kategorien im archaisch-traditionellen Judentum nicht voneinander zu trennen sind, konnte der moderne Westen nicht recht annehmen. Denn wenn die Juden das von Gott auserwählte Volk sind, welches sich in einem von Gott verheißenen Land als Nation konstituiert und in einer Gebotseinhaltungsreligion sein Bündnis mit Gott immer wieder erneuert, um sich darin der Auserwähltheit zu vergewissern, dann steht dieses (theologische) Paradigma der westlichen Aufklärung und dem sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa herausbildenden modernen Nationalstaat diametral entgegen. Der moderne europäische Nationalstaat strebt die Trennung von Staat und Kirche an, er möchte seine Raison d‘être nicht mehr einem „Gottesgnadentum“ verdanken. Vor allem aber ist sein Volksbegriff (insofern der Staat von einem Volk bevölkert wird) prinzipiell exklusiv: Ein Franzose kann auch in Deutschland leben, aber es ist nicht sein Land. Wie steht es da mit dem Juden, der im Selbstverständnis dem jüdischen Volk angehört, aber auch als Deutscher in der deutschen Gesellschaft leben möchte? Kann er Teil der deutschen Nation werden? Weiterlesen