von Arn Strohmeyer
Die amerikanisch-jüdische Philosophin Judith Butler schreibt in einem ihrer Texte: „Nie war es wichtiger, genau nachzudenken. Wann und wo ist Antisemitismus echt? Wann und wo muss er entschieden und eindeutig verurteilt und abgelehnt werden? Wann und wo funktioniert Antisemitismus als ein Vorwurf, mit dem die legitimen Ansprüche der Palästinenser auf Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Selbstbestimmung untergraben werden sollen?“ Diese Fragen hätten sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus den Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP vor ihrem Beschluss zu BDS (Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen) stellen und realitätsangemessen beantworten müssen. Genau das haben sie aber nicht getan und deshalb ist ihr BDS-Beschluss so falsch und fatal. Und das in mehrfacher Hinsicht. Er ist politisch kurzsichtig, moralisch zweifelhaft, unlogisch und widerspricht sowohl dem Grundgesetz wie auch den Menschenrechten und dem Völkerrecht.
Zunächst: Geht man davon aus, dass Antisemitismus eine Form des Rassismus ist, zu der per definitionem die Benutzung und Verbreitung von antisemitischen Stereotypen, widerlichen Karikaturen, Verschwörungstheorien sowie der Gebrauch von rassischen Vorurteilen gehört – was ist dann an BDS antisemitisch? BDS ist eine gewaltfreie, aus der palästinensischen Zivilgesellschaft hervorgegangene und inzwischen international verbreitete Protestbewegung gegen einen Siedlerkolonialismus, der massive staatliche Gewalt einsetzt, um die politischen Rechte einer großen Minderheit (der Palästinenser) zu untergraben.
Wenn man den Antisemitismus-Vorwurf instrumentalisiert, um Israel vor Kritik an seiner Gewaltpolitik gegen ein ganzes Volk zu schützen, dann ist das höchst unmoralisch. Genau das tut der Bundestagsbeschluss der vier Fraktionen zu BDS. Er unterstellt den Palästinensern und den BDS-Aktivisten in der ganzen Welt, dass sie eigentlich gar keine Gründe hätten, gegen Israel zu protestieren. Der Beschluss nimmt die siedlerkolonialistische Realität in den besetzten Gebieten überhaupt nicht zur Kenntnis, die aus Landraub, Unterdrückung, Wegsperren hinter Mauern und Stacheldraht, Checkpoints, willkürlichen Verhaftungen, jahrelanger Administrativhaft ohne Rechtsbeistand und Prozess, extralegalen Liquidierungen, Bombardierungen ziviler Bevölkerungen, Zerstörungen von Häusern und landwirtschaftlich bebauten Flächen – mit anderen Worten aus totaler Rechtlosigkeit – besteht.
Die Palästinenser in Israel selbst (20 Prozent der Bevölkerung) sind inzwischen durch das neue „Nationalstaatsgesetz des Jüdischen Volkes“ ganz offiziell zu Bürgern zweiter oder dritter Klasse degradiert worden, denn nur Juden dürfen nach diesem Gesetz in Israel politisch mitbestimmen. Was ist das für eine Demokratie, in der es keine Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz gibt? Haben die Abgeordneten aus den vier Fraktionen von diesen hanebüchenen Zuständen in der „einzigen Demokratie“ des Nahen Ostens noch nie etwas gehört oder drücken sie in ihrer totalen Israel-Hörigkeit beide Augen zu?
Die Abgeordneten, die diesem Beschluss zugestimmt haben, wissen offensichtlich auch wenig oder nichts über diese Bewegung außer dem, was sie aus Israel selbst oder von fanatischen Israel-Anhängern hierzulande gehört haben. Die BDS-Bewegung hat das erklärte Ziel, Druck auf Israel auszuüben, um die oben beschriebenen menschenrechts- und völkerrechtswidrigen Praktiken des israelischen Siedlerkolonialismus zu beenden und Israel zu veranlassen, sich endlich an internationales Recht zu halten.
Die Abgeordneten haben nach der Logik gehandelt: Wer nicht antisemitisch ist, der wird die koloniale Herrschaft der Zionisten akzeptieren. Wer aber gegen die koloniale Herrschaft protestiert und Widerstand leistet, der gibt damit zu erkennen, dass er Antisemit ist. Was ja heißt: Die Abgeordneten können mit den menschenrechts- und völkerrechtswidrigen Zuständen in Israel/Palästina gut leben.
Man muss einige Fragen an die Abgeordneten stellen: Haben sie bedacht, wie weit ihr Beschluss jüdischen Werten widerspricht, denn soziale Gerechtigkeit ist eines der Kernelemente des Jüdisch-Seins? Generationen von Juden haben in Europa an vorderster Front gestanden, wenn es um das Erkämpfen von sozialer Gerechtigkeit ging. Haben die Abgeordneten bedacht, dass der BDS-Boykott sich gar nicht gegen Juden und auch nicht gegen israelische Bürger, sondern gegen politische Institutionen und Personen in Israel richtet, die die Macht haben, endlich die brutale Okkupationspolitik gegen ein ganzes Volk zu beenden? Haben die Abgeordneten bedacht, dass Boykotte ein ganz legales Mittel sind, um gesellschaftliche Veränderungen zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zu erreichen? Man denke in diesem Zusammenhang an Südafrika.
Haben die Abgeordneten bedacht, dass das von ihnen benutzte Argument, die BDS-Forderung, keine israelischen Produkte zu kaufen (solange die Besatzung andauert), erinnere an die NS-Parole „Kauft nicht bei Juden!“ ein völlig unzulässiger Vergleich ist, denn die NS-Parole ging von einem Terrorregime aus, um Menschen zu unterdrücken und später zu ermorden. Die BDS-Forderung kommt aber von einer unterdrückten Bevölkerung, die für ihre politischen Rechte – Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Rechtsstaat – kämpft.
Man muss noch zwei Fragen an die Abgeordneten stellen. Haben sie bedacht, dass ihr Beschluss, Menschenrechtsorganisationen, die in Israel/Palästina für die politische und wirtschaftliche Emanzipation der Palästinenser arbeiten, ihren Dienst sehr erschweren wird, weil sie nun unter Antisemitismus-Verdacht stehen? Und haben die Abgeordneten bedacht, dass sie mit ihrem Beschluss ganz massiv in Artikel 5 des Grundgesetzes eingreifen, der die Freiheit von Information, Presse und Meinungsbildung garantiert. Welche Zeitung wird sich jetzt noch ganz offen für die Rechte der Palästinenser einsetzen? Diskussions-Veranstaltungen über Israels Politik werden künftig in Deutschland sehr viel schwieriger sein, denn jeder Raumvermieter kann sich nun – aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf – auf den BDS-Beschluss berufen. Dass selbst kritische Juden oder Israelis inzwischen von Saalverboten betroffen sind, ist eine Schande für die politische Kultur dieses Landes. Die Drohung von Zensur schwebt jetzt über allem.
Der Beschluss wird aber keine große Nachhaltigkeit haben. Er ist nichts anderes als ein Beleg deutscher Israel-Hörigkeit, die kein Problem damit hat, Unrecht für Recht anzuerkennen. Aber eine solche Position ist kurzsichtig und nicht zukunftsfähig. Israels System, wie es sich heute darstellt, mit der Unterdrückung von Millionen Menschen, wird so nicht überleben können. Der Freiheitswille der Palästinenser ist nicht aufzuhalten, auch wenn deutsche Abgeordnete ihn für „antisemitisch“ halten. Es ist aufschlussreich, was weitsichtige Israelis zu BDS sagen. Der israelische Historiker Avi Shlaim bekennt, dass BDS das einzige friedliche Mittel der Palästinenser ist, sich ihre Freiheit zu erkämpfen und das dürfe man ihnen nicht aus der Hand schlagen. Und die israelische Menschenrechtlerin, die Ärztin und Therapeutin Ruchama Marton, die für ihre Arbeit 2010 den alternativen Nobelpreis erhalten hat, BDS aktiv unterstützt und dafür in ihrem Land als „Verräterin“ diffamiert wird, sagt: „Die Verräter von heute sind die Helden von morgen!“
Die Staats- und Parteiräson der Deutschen erfordert eine bedingungslose „Solidarität“ mit Israel, nicht mit seinen „Feinden“. Feinde sind bekanntlich „Terroristen“ im modernen Sprachgebrauch der westlichen „Wertegemeinschaft“ – und dazu gehören alle, die Israel als solche benannt hat und zudem auch solche, die Israel mit ihrer Kritik zu „delegitimieren“ suchen – ein Vorwurf, der tatsächlich Einmaligkeit für sich beanspruchen darf.
Da der Zentralrat 1:1 die Positionen des Staates Israel in Deutschland vertritt – ergänzt um das Bemühen, den Arabern hierzulande ein wenig Schutz angedeihen zu lassen, sozusagen als weitere potentielle Opfer der Mehrheitsgesellschaft der Deutschen – haben wir es eben hierzulande mit einer etwas andere Positionierung des Zentralrats zu tun, die wiederum für die Abgeordneten bindend ist. Denn ethnische oder kulturelle Diskriminierungen, dagegen verwahrt sich der Zentralratsvorsitzende, wenigstens wenn es hierzulande geschieht.
Allerdings wird aus politischen Gründen darauf bestanden, dass der Kampf gegen „Rassismus“ und „Antisemitismus“ zu führen sei, obwohl ein Kampf gegen Mobbing, soziale Benachteiligung, Unrecht usw. allen Menschen der Welt gerecht werden würde; allerdings würde dann der mit dem Begriff „Antisemitismus“ verbundene Exklusivitätsanspruch verlorengehen.
Was derzeit in der politischen Landschaft der westlichen „Wertegemeinschaft“ und ihrem Gebrauch der Sprache geschieht, sind Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die der Fledderei noch sehr viel näher stehen als der Klitterung.