Ist die BDS-Bewegung antisemitisch?

In der berühmt-berüchtigten IHRA-Definition wird klipp und klar festgestellt, dass Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden kann. Die entsprechende Kritik der BDS-Bewegung hat nichts mit Hass gegen Juden, nur weil sie Juden sind, zu tun. Das ist die kurze, aber treffende Definition von Antisemitismus. BDS kämpft keineswegs gegen Juden, sondern für die Rechte der Palästinenser, und diese Rechte werden nicht durch Juden verletzt, sondern durch Israelis. Deshalb haben die Palästinenser auch das Recht, sich gegen die völkerrechtswidrige Besatzung ihres Landes und die Unterdrückung ihres Volkes zu wehren.

„Die BDS-Bewegung hat die Auslöschung des Staates Israel zum Ziel, auch wenn viele ihrer Anhänger das Gegenteil behaupten.“ Das schreibt Thomas Thiel im Feuilleton der FAZ und beruft sich auf die Neuerscheinung von Alex Feuerherdt und Florian Markl: „Die Israel-Boykottbewegung – Alter Hass in neuem Gewand“, die im Hentrich & Hentrich Verlag in Leipzig erschienen ist, und fügt noch hinzu, dass das Buch „insofern zur rechten Zeit kommt“. Allerdings von einem Verlag veröffentlicht, von dem man annehmen könnte, dass er im Auftrag des israelischen Propagandaministeriums („Ministry of Strategic Affairs“) arbeitet. 

Warum das Buch „zur rechten Zeit kommt“, begründet Thomas Thiel nicht. Er muss das auch nicht, denn für die meisten Gegner der BDS-Bewegung ist deren Diffamierung stets willkommen und erfolgt insofern immer „zur rechten Zeit“. Immerhin kämpfen Zionisten und Antideutsche schon seit Jahren an derselben Front.

Bereits die Nazis wollten alle Juden nach Palästina „transferieren“, so wie die israelischen Rechten lieber heute als morgen alle Palästinenser aus Israel und aus Palästina über den Jordan hinweg abschieben bzw. transferieren würden. Das Programm der ultrarechten Partei Moledet – Heimat – besteht demgemäß im Kern aus einem einzigen Slogan: Transfer. Die anderen Parteien sind da allerdings nicht viel besser oder gar anders.

Man sollte hier nicht unerwähnt lassen, dass Israel seine Bürger nicht etwa als „Israelis“ betrachtet, sondern – z. B. im Personalausweis – als „Juden“ bezeichnet. Insofern ist für Israel die Kritik seiner Bürger wegen ihrer Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser folgerichtig ein Kampf gegen „Juden“ und insofern Antisemitismus. So jedenfalls sehen es die meisten Israelis und Israelunterstützer weltweit. Die Palästinenser haben jedoch allen Grund für ihren Hass, und ihre Forderung, israelische Waren zu boykottieren ist legitim, ganz im Gegensatz zur Forderung der Nazis – Kauft nicht bei Juden. Die BDS-Bewegung  begreift sich auch ausdrücklich – im Gegensatz zum Boykott der Nazis – als gewaltfrei, und allein schon deshalb verbietet sich der Vergleich. Während die Israelis ihre Politik ohne weiteres ändern könnten, um dem Boykott zu entgehen, hatten die Juden im Dritten Reich keine Wahl, sie mussten den deutschen Rassismus ertragen, ohne sich wehren zu können. Die Palästinenser dürfen und können sich wehren, und das ist auch gut so.

Neben allem, was sich in dieser Angelegenheit ansonsten noch sagen ließe, weise ich derartige ignorante Äußerungen eines Redakteurs entschieden zurück, der offensichtlich nicht wirklich weiß, was er da schreibt. Und wenn er es weiß, dann ist es purer Zynismus. Er glaubt vielleicht, „den Juden“ mit solchen Lügen und Verdrehungen von Tatsachen zu helfen. Oder vielleicht will er gar nicht den Juden helfen, sondern nur sich selbst.

Die BDS-Bewegung ist alles andere als antisemitisch und will mitnichten den Staat Israel vernichten. Sie bekämpft die rassistische Politik des Zionismus und setzt sich für die vom Völkerrecht verbrieften Rechte der Palästinenser ein. Besonders unangenehm sind mir Deutsche, die das nicht sehen wollen oder es sehen, aber nicht wahrhaben wollen. Sie wissen, dass im Holocaust, an dem die Deutschen schuld sind, Millionen von Juden vernichtet wurden, und sie wissen, dass es nicht die Palästinenser waren, die die Juden vertrieben haben, sondern umgekehrt: es waren die Palästinenser, die von den Juden vertrieben wurden.

Viele Israelis und Juden weltweit unterstützen die BDS-Bewegung, auch wenn Alex Feuerherdt und Florian Markl am angeblichen antisemitischen Charakter der BDS-Bewegung keinen Zweifel lassen wollen und der FAZ-Redakteur dies offensichtlich kritiklos übernimmt. Derartigen Unsinn konnte man nur einem Journalisten auftischen, der keine Ahnung vom Nahost-Konflikt hat, wie zum Beispiel die Hasbara-Lüge, dass die Forderung der Palästinenser nach Rückkehr der Flüchtlinge faktisch die Vernichtung Israels bedeutet. Tatsächlich war es aber genau umgekehrt: Die jüdische Kolonisation Palästinas, die der Zionismus als Rückkehr oder gar als Alija (Aufstieg) bezeichnete, bedeutete die Vertreibung der Einwohner, die Vernichtung ihrer Kultur und Zivilisation. Selbst die Erinnerung daran versucht man auszulöschen. Das Gedenken der Nakba, der palästinensischen Katastrophe, ist in Israel – man glaubt es kaum – verboten und darf im Schulunterricht nicht erwähnt werden. Feuerherdt und Markl und sogar der Rezensent der FAZ stellen die Geschichte auf den Kopf, machen aus den Opfern Täter und die Täter zu Opfern.

Vermeintlichen Nachkommen von Juden, die angeblich vor zweitausend Jahren vertrieben wurden, ist es erlaubt, nach Israel einzuwandern, während dies den Palästinensern, die erst vor wenigen Jahrzehnten fliehen mussten, verboten ist. Und wenn man Shlomo Sands Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes liest, dann erfährt man auch, dass die Vertreibung der Juden durch die Römer eine Geschichtslüge ist, für die es keine empirischen Belege gibt. Die russischen Juden und die Mehrheit der osteuropäischen Juden sind also mitnichten Nachkommen der Hebräer, sondern der Chasaren, die zum Judentum konvertiert waren.

Thiel fügt noch hinzu, dass die Flucht der Palästinenser einem Angriffskrieg der arabischen Staaten geschuldet war, was jeder, der sich mit dem Konflikt beschäftigt, leicht als Unsinn entlarven kann. Die sogenannte „Flucht“ war nämlich in erster Linie keine Flucht, sondern eine Vertreibung. Selbst der spätere israelische Ministerpräsident Itzchak Rabin, der an der Vertreibung beteiligt war, nennt das so in seinen Erinnerungen. Da würde ich mich doch lieber an Rabin halten, als den zwei Geschichtsverdrehern zu glauben und ihnen in der FAZ eine Bühne geben.

Tausende von Palästinensern sind von der Hagana, dem Vorläufer der israelischen Armee, und den paramilitärischen Einheiten der Untergrundorganisationen Lechi und Etzel Wochen vor der Ausrufung des Staates Israel und dem Angriff der sogenannten arabischen Armeen vertrieben worden. Das Massaker von Deir Jassin fand schon im April 1948 statt, als die Engländer noch im Land waren, kurz vor ihrer Rückkehr nach England. Diese ethnische Säuberung wurde von vielen jüdischen Zeitzeugen bestätigt.  Dass nach dem Krieg, den die Israelis Unabhängigkeitskrieg nennen und die Palästinenser Nakba, die Katastrophe, immerhin noch ein Zehntel der palästinensischen Bevölkerung im Land verblieb, ist vor allem den wenigen anständigen und mutigen jüdischen Kommandeuren zu verdanken, die sich weigerten, die Befehle der Führung unter David Ben-Gurion zu befolgen, die arabische Bevölkerung zu vertreiben oder zu töten. Die Israelis wissen, dass Vertreibung genauso ein völkerrechtwidriges Verbrechen ist wie Massenmord. Deshalb bestehen sie darauf, von Flucht zu reden, weil sie dadurch dem Vorwurf des Genozids entgehen wollen und die Schuld den Palästinensern in die Schuhe schieben möchten. Es erinnert mich an das, was ein deutscher Altnazi 1958 meinem Vater sagte, als dieser nach Deutschland zurückkehrte: „Das mit dem Vergasen hätte man nicht machen sollen. Man hätte die Juden auch vertreiben können.“ In diesem Denken ist „Vertreiben“ fast schon eine humanitäre Lösung.

Thiel übernimmt auch die propagandistische Behauptung der unkritischen philosemitischen Autoren, dass die BDS-Bewegung eine „Delegitimierung“ und „Dämonisierung“ des israelischen Staates beabsichtige. Umgekehrt wird ein Schuh draus: die israelische Propaganda wird seit Jahrzehnten nicht müde, die Palästinenser zu delegitimieren und zu dämonisieren.

Der Vergleich mit dem südafrikanischen Apartheid-Staat wird auch von etlichen Juden, Israelis und Südafrikanern angestellt, keineswegs nur von der BDS-Bewegung. Juden und Südafrikaner wissen sehr viel besser, wovon sie reden, als die zwei ideologisch verbohrten Antideutschen. Diese behaupten, dass auf BDS-Kundgebungen skandiert wird: Tod den Juden. Bei den verschiedenen Kundgebungen, an denen ich teilnahm, habe ich nichts dergleichen erlebt.  Andererseits lese ich immer wieder – in israelischen Zeitungen! dass jüdische Israelis in arabischen Vierteln „Mawet la ArawimTod den Arabern schreien. Dieser Ruf wird nicht nur skandiert, man findet ihn auch auf Wänden und Türen von Moscheen und anderen arabischen Einrichtungen. An einer friedlichen Lösung des Nahost-Konflikts zeigt sich die israelische Regierung jedenfalls nicht interessiert und macht daraus auch keinen Hehl. Wer das nicht glaubt, will es nicht glauben.

Wenn Deutschland, die USA und die EU Russland boykottieren, weil Putin die Krim annektiert hat, dann werden die Palästinenser ja wohl Israel boykottieren dürfen, dass ihr Land besetzt und kolonisiert hat und immer noch täglich Familien von ihrem Grund und Boden vertreibt, Land stiehlt, also ethnische Säuberung betreibt.

Die Autoren des rezensierten Werkes meinen, beweisen zu können, dass BDS in die lange „Geschichte der arabischen Wirtschaftsboykotte gegen Juden und Israel hineinpasst, die schon 1922 begann.“ Mir ist kein Boykott gegen Juden und Israel vor der Gründung des Staates bekannt. Eher ist mir ein Boykott der Juden gegen Deutschland bekannt, den 1933 die jüdische Zeitung Jewish Chronicle in London ausgerufen hatte. Die arabischen Staaten – nicht BDS und nicht die Palästinenser – haben später, in den 60er und 70er Jahren, Unternehmen wie Coca-Cola oder Shell, American Express oder Toyota boykottiert, das dann aber auch sehr bald wieder beendet. Die BDS-Bewegung ruft in erster Linie dazu auf, Produkte aus den von Israel besetzten Gebieten zu boykottieren. Das befürworten auch viele Juden und Israelis, und das ist auch nach den Bestimmungen der UN erlaubt.

Der ökonomische Schaden des Boykotts ist zwar marginal. Schlimmer sei aber der kulturelle Boykott, den vor allem die israelische Propaganda als Antisemitismus bezeichnet. Aber auch das erst, seitdem ein israelischer Diplomat, der auf die Frage, was er in seiner Amtszeit als Botschafter in Washington erreicht hat, sagte: „Es ist mir gelungen, die amerikanische Administration davon zu überzeugen, dass Antizionismus nichts anderes als Antisemitismus ist.“ Seitdem ist der Westen und ganz besonders Deutschland von einer Antisemitismus-Hysterie ergriffen, die den Antisemitismus einigermaßen relativiert, ja banalisiert und insofern seines Wesensgehalts beraubt.

Thiel schreibt: „Der faktische Einfluss der Bewegung, resümieren die Autoren nüchtern, reicht bei weitem nicht an die Aufmerksamkeit heran, die ihre Aktionen bewirken – an der Humboldt-Universität wurde beispielweise eine Holocaust Überlebende niedergebrüllt.“ Ja, in der Tat, sie wurde – als Repräsentantin Israels! – von Israelis, bzw. Juden „niedergebrüllt“. Nebbich!

Henryk M. Broder dagegen, ein fanatischer Gegner von BDS, beschimpfte einen BDS-Aktivisten und Holocaust-Überlebenden als „Berufsüberlebenden“, was meiner Meinung nach niederträchtiger ist. Und an unzähligen Checkpoints im besetzten Palästina sind Palästinenser und Palästinenserinnen nicht niedergebrüllt, sondern niedergewalzt worden.

Ein mit Waffengewalt besetztes und unterdrücktes Volk hat das Recht, sich zu wehren, und wenn manche Juden, Israelis und schuldbewusste Deutsche das als Antisemitismus verunglimpfen, dann wissen sie augenscheinlich nicht, was sie tun und falls doch, dann handeln sie mit Absicht zynisch und selbstgerecht, jedenfalls nicht gerecht.

Es geht mir hier allerdings weniger um das Buch als um die Rezension. Dass Alex Feuerherdt israelische Propaganda verbreitet, ist nun wirklich keine Überraschung. Dass die FAZ solche Propaganda ernst nimmt und ihren Lesern empfiehlt, ist leider auch keine Überraschung. Angeblich soll hinter jedem Leser ihrer Zeitungen ja ein kluger Kopf stecken. Bleibt die Frage, ob auch in der Redaktion noch kluge Köpfe sitzen, weil sie derartige geschichtsfälschende Rezensionen veröffentlichen, die Leser damit für dumm verkaufen und sie auf diese Weise zu manipulieren versuchen.

Ein Gedanke zu „Ist die BDS-Bewegung antisemitisch?

  1. Papier ist geduldig; also beanspruche ich auch Geduld: 1. es ist gar nicht so einfach, einen Drittstaat zu finden, den man genauso kritisieren könnte wie Israel. Man könnte allerdings zeitverschoben nach einem Moment in der deutschen Gesichte suchen, in dem die Deutschen ähnlich gehandelt hatten wie die Israelis heute. Mit solchen historischen Rechenschiebern zu arbeiten, wird heute auch als „antisemitisch“ verstanden. Also lassen wir es bei der Einmaligkeit israelischer Politik in einer Situation, die vielleicht ihre Parallelen in der amerikanischen Siedlungsgeschichte finden könnte (Semnonen Floridas). Deswegen stellt aber niemand die amerikanische Demokratie in Frage.
    2.
    Deswegen ist auch ein Vergleich mit der russischen Krimbesetzung kein Treffer: Im nahöstlichen „Parallelfall“ müßten die arabischen Staaten sich embargo-drohend verhalten. Sie machen aber genau das Gegenteil. Marokko und Saudi-Arabien beenden ihren Boykott, in Dubai eröffnet eine Synagoge.
    3.Die so genannten Palästinenser stellen 1% des arabischen Volkstums von 300 Millionen Menschen. Die Kriege von 1948, 1967 usw. waren Angelegenheiten der ganzen arabischen Welt. Wieso veranstalten „die Araber“ keinen Lastenausgleich zugunsten der Palästinenser, wie es nach dem WKII die Deutschen veranstaltet hatten?
    4. Meine Kritik an Israel geht nur in eine Richtung: Wieso gibt man den Westbänklern keine Option eines Übertritts zum Judentum wie es die Spanier 1492 Juden und Moslems eingeräumt hatten? 80% der iberischen Juden sind im Lande als Katholiken geblieben, keine 10% von ihnen wurden „rückfällig“. Das kann man doch riskieren, vom israelischen Standpunkt aus, oder nicht?

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