Antisemitenmacher live (und mit Fahnen)

von Michael Meyen

Haben wir das so gewollt? Klar: Als es losging mit diesem Blog und mit Medienrealität live, wollten wir hinaus aus dem Elfenbeinturm. Nicht mehr im stillen Kämmerlein forschen und dann schauen, was passiert, sondern gleich mit denen zusammen denken, die es letztlich angeht.

Zum Beispiel mit einer Stadtgesellschaft, die nicht zur Ruhe kommt, seit ihr Parlament im Dezember 2017 beschlossen hat, kein Geld und keine Räume mehr zu geben, wenn es um BDS geht oder wenn Menschen auftreten, die sich zu BDS bekennen. Für alle, die die Abkürzung nicht kennen (auch weil sie eher selten in den Medien auftaucht; eine wunderbare Ausnahme: das Interview von Alexander Gorkow mit Roger Waters im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 13. September 2018): Die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ fordert seit 2005 zum Widerstand auf, bis sich die israelische Regierung zu dem bekennt, was das Völkerrecht von ihr verlangt, und bis alle Bürger dieses Landes gleichberechtigt sind.

Der Stadtrat hat entschieden, BDS als antisemitisch einzustufen. Nicht nur in München ist es heute schwierig, Kritiker der israelischen Regierungspolitik auftreten zu lassen. Jürgen Jung hält im Hörsaal eine Liste hoch, die alle Vorfälle dokumentiert. 13 Seiten, eng bedruckt. Die Argumentation ist immer gleich. Die deutsche Geschichte. Verantwortung. Wer will da über sich lesen, Antisemiten Raum zu geben oder gar selbst einer zu sein. 

„Ein Antisemit sein heißt, eine Einstellung zu haben, die zu Recht absolut moralisch verwerflich ist“, hat der Philosoph Georg Meggle (2008) geschrieben, vorher selbst von einem Shitstorm getroffen. Und weiter bei Meggle: „Einen anderen als ‚Antisemiten‘ zu bezeichnen, ist einer der schlimmsten Vorwürfe, die man einem Mitmenschen gegenüber erheben kann. Vor dem Hintergrund von Auschwitz vielleicht der schlimmste überhaupt.“ Natürlich wissen das die, die mit diesem Vokabular hantieren. Aber es schert sie einen feuchten Kehricht.

https://f-origin.hypotheses.org/wp-content/blogs.dir/3830/files/2018/11/IMG-20181111-WA0000-300x225.jpgHinterher kann man sagen: Die Veranstaltung „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“ hat (zumindest für uns, als Medienforscher, als Theoretiker von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung) ganz real (also empirisch) gezeigt, wie stark der Gegenwind ist, wenn man nur über dieses Thema sprechen möchte. Als wir den Termin 7. November bekannt gegeben haben, kamen die ersten Protestmails nach nicht einmal einer Stunde. Zwei Tage vor dem 9. November, am Geschwister-Scholl-Platz, in der ruhmreichen LMU. Seht ihr das denn nicht.

Es gab einen offenen Brief an den Präsidenten der LMU und einen anonymen Aufruf im Internet (von einem „Linken Bündnis gegen Antisemitismus“, das die Studierenden aufforderte, sich zu verhalten, wie und wozu auch immer). Von beiden Texten wird in diesem Blog noch zu reden sein (genau wie von einigen Veranstaltungsberichten, die es hinterher im Netz gab). Man kann hier exemplarisch zeigen, mit welchen Methoden Menschen arbeiten (Unterstellungen, Verdrehungen, Lügen), die Abraham Melzer (2017) „Antisemitenmacher“ nennt. Wer nicht so lange warten mag, lese neben Melzer den neuen Zuckermann (2018) oder höre sich den Vortrag an, den Andreas Zumach bei uns gehalten hat.

Die Atmosphäre im Hörsaal spiegelt das Video nur unzureichend. Israelfahnen. In der Universität, nicht im Stadion. Wer sich als Fan verkleidet, will nicht diskutieren. Einmal Bayern, immer Bayern. Ist doch egal, wie die eigene Mannschaft gerade spielt. Man brüllt einfach rein, wenn die anderen den Ball haben. Vielleicht merkt ja dann keiner, wenn sie ein Tor schießen.

Vielleicht muss man das alles auch nicht zu ernst nehmen (bis auf die genannten Texte, darauf kommen wir zurück) und die Veranstaltung vom Ende her lesen. Es war schwierig, die Leute aus dem Saal zu bekommen. Überall kleine Gruppen, eifrig im Gespräch, auch die, die sich vorher auf im Wortsinn engstem Raum zwei Stunden lang bekämpft und beschimpft haben. Die Sitze haben nicht gereicht und die Luft erst recht nicht. Vielleicht hat es sich doch gelohnt, wochenlang nicht viel anderes zu machen, als Stellungnahmen zu schreiben, zu telefonieren. Hochschulleitung, Pressestelle, Liegenschaften, Ministerium. Auch darüber wird noch im Detail zu berichten sein. Sicher scheint: Das Thema braucht öffentlichen Raum und Formate wie Medienrealität live, wie jedes Thema, das so viele Menschen beschäftigt. Ob wir das nun wollen oder nicht.

Danke an Nirit Sommerfeld und Stefan Hafen, ohne die es das Video nicht geben würde. Und danke, Andreas Zumach, der sich seinen Auftritt bei uns sicher auch anders vorgestellt hat.

Literaturangaben

Georg Meggle: Wer ist Antisemit? Ein philosophischer Versuch. In: Telepolis vom 8. Dezember 2008. https://www.heise.de/tp/features/Wer-ist-Antisemit-3420944.html?seite=a

Abraham Melzer: Die Antisemitenmacher. Wie die neue Rechte Kritik an der Politik Israels verhindert. Frankfurt am Main: Westend 2017.

Moshe Zuckermann: Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit. Frankfurt am Main: Westend 2018.

Empfohlene Zitierweise:

Michael Meyen: Antisemitenmacher live (und mit Fahnen). In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2018. https://medienblog.hypotheses.org/3782 (Datum des Zugriffs).

Zuerst hier.

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