von Abed Schokry
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und liebe Freunde,
Meine letzte Email hatte ich mit den Sätzen: „Ich bin wütend“ und „ich bin verzweifelt“ begonnen. Nach den Ereignissen gestern, bin ich nun sprachlos, fassungslos, machtlos, ohnmächtig. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so recht, wie ich in Worte fassen kann, was in mir vorgeht, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Denn es ist gestern ein Verbrechen/Blutbad geschehen, es wurde ein Massaker verübt, das zum Himmel schreit.
Die Täter sind die Soldaten und Befehlshaber und letztlich die Regierung „der einzigen Demokratie im Nahen Osten“. Die Opfer sind die unbewaffnet demonstrierenden Palästinenserinnen und Palästinenser an der von Israel festgesetzten Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel. Die Demonstranten mit leeren Händen, nur mit Mut und Courage ausgerüstet. Sie tragen keine Schutzanzüge, keine Gewehre, keine Zielfernrohre wie die Soldaten auf der anderen Seite. Diesen Soldaten wurde kein Haar gekrümmt, keiner von ihnen wurde verletzt. Aber sie schießen auf Männer, Frauen und Kinder. Es gibt Videos, in denen zu hören ist, wie sie sich über einen „Treffer“, einen Erschossenen freuen. Das ist so unglaublich menschenverachtend, dass ich laut schreien möchte.
Seit fast 12 Jahren leben wir im größten Freiluftgefängnis der Welt. Wie der Alltag in diesem Gefängnis aussieht, habe ich Ihnen schon oft beschrieben. Strom bekommen wir vier Stunden täglich, das Wasser aus der Leitung ist sehr salzig oder mit Abwasser vermischt, also ungeeignet um zu duschen oder um Gemüse oder Obst damit zu waschen. Die Jugendlichen haben keine Hoffnung, sie sehen keine Perspektive, sie sehen sich auch als Opfer der Besatzung, der Abriegelung und der zerstrittenen palästinensischen Gruppen. Inzwischen sind fast 70% von ihnen arbeitslos. Die Jugendlichen kennen nichts anderes als das Leben mit permanenten Problemen, denn mal mangelt es an Brennstoffen bzw. Kochgas, mal an Grundnahrungsmitteln, vor allem auch an Medikamenten. Und die Familienmitglieder, die überhaupt Arbeit haben, bekommen oft ihr Gehalt nicht. Es ist ein Leben, das nicht nur zornig und wütend macht, sondern das auch krank macht, oft genug körperlich krank aber vor allem psychisch krank.
Gestern bin ich am Rande der Demonstration in Gaza Stadt gewesen. Ich habe die vielen Menschen gesehen, junge und alte Menschen, Männer und Frauen, auch Kinder mit ihren Eltern. Danach kehrte ich heim und kaum war ich Zuhause, da erfuhr ich, dass der 17 Jahre alte Sohn meiner Cousine erschossen worden war. Danach kamen Meldungen, dass weitere Verwandte von mir verletzt wurden. Einige hatten Schusswunden an den Beinen, andere an der Brust und weitere hatten Bauchschüsse erlitten. Manche von ihnen wurden sofort in den Krankenhäusern operiert, andere warten darauf, ins Ausland verlegt zu werden, denn es fehlen geeignete medizinische Geräte oder Medikamente. Ob man sie aus Gaza raus lässt, weiß ich nicht.
Ich lief sofort los, um meine Verwandten im Krankenhaus zu besuchen. Es fällt mir immer schwer, ein Krankenhaus zu betreten, aber was ich diesmal sah, das übersteigt alles, was man sich vorstellen kann. Verletzte in den Gängen, überall Blut, die Patientenräume überfüllt. Weiterlesen →