Bei Joseph Roth habe ich einen Text entdeckt, den ich meinen Lesern nicht vorenthalten möchte, da er mit nur geringen Änderungen auf die Situation der Palästinenser heute passt, mehr als 80 Jahre nachdem er im Juni 1937 geschrieben wurde. Ich habe den Originaltext von Joseph Roth so gelassen, wie er ihn geschrieben hat und meine „Änderungen“ in Klammern und in kursiv gesetzt.
Die Leser mögen es mir verzeihen. Trotzdem hoffe ich, dass ich damit den einen oder anderen Leser zum Nachdenken gebracht habe und dazu, dass er seine Position im Nahost-Konflikt überprüft. Der Text von Joseph Roth ist deshalb absolut richtig, weil er inhaltlich von höchster Qualität und moralisch über jeden Zweifel erhaben ist. Er ist auch nach 80 Jahren so aktuell und wahrhaftig wie im Juni 1937, als Roth ihn geschrieben hat. (A.M.)
von Joseph Roth
Von den Juden (Palästinenser), die heute noch in Deutschland (Israel/Palästina) leben, wird höchstwahrscheinlich nur noch ein unwesentlicher Bruchteil auswandern können – und wollen. Denn auch nach einer hundertjährigen Emanzipation und einer Scheingleichberechtigung, die etwa 50 Jahre gedauert hat, besitzen die Juden (Palästinenser) wenn auch nicht die göttliche Gnade, leiden zu können wie ihre gläubigen Brüder, so doch die merkwürdige Fähigkeit, Unsagbares zu erdulden. Sie werden bleiben, sie werden heiraten, sich vermehren, ihre Finsternisse und Bitterkeit vererben – und hoffen, dass eines Tages „alles anders“ werde.
Eines Tages – und gewiss früher als in 1000 Jahren – wird sich freilich manches in Deutschland (Israel/Palästina) ändern. Aber mit der Generation, die jetzt in der Hitler-Jugend (Hügel-Jugend) heranwächst, werden weder die Juden (Palästinenser) noch die Christen (Israelis), noch die kulturbewussten Europäer erfreuliche Erfahrungen machen können. Es ist Jasons Drachensaat, die da aufgehen wird. Um die nächsten zwei Generationen der deutschen (israelischen) Heiden zu taufen (bekehren), wird es eine ganze Armee von Missionaren bedürfen. Solange die Deutschen (Israelis) nicht Christen (Juden) sind, haben die Juden (Palästinenser) wenig von ihnen zu erhoffen.
Es ist also menschlichem Ermessen nach wahrscheinlich, dass die Juden (Palästinenser) noch lange Parias unter den Deutschen (Israelis) bleiben werden. Es sei denn, man rechne mit der beinahe utopischen Vorstellung, dass Europa (und die Welt) zu seinem Gewissen zurückfindet; dass ein gemeinsam anerkanntes Gesetz den törichten Standpunkt der sogenannten „Nicht-Einmischung“ verbietet, der sich aus dem geradezu vulgären und plebejischen Sprichwort herleitet: „Jeder kehre vor seiner Tür.“ Es ist wahrhaftig die Hausmeister-Philosophie, die seit einigen Jahrzehnten die Welt bestimmt. Vielmehr sollte
Jeder vor der Tür des anderen kehren. Es kann mir nicht verwehrt sein, in das Haus meines Nachbarn einzudringen, wenn er im Begriff ist, seine Kinder mit der Hacke zu erschlagen. Es kann keine europäische und auch keine europäisch-christliche Moral geben, solange der Grundsatz der „Nicht-Einmischung“ besteht. Weshalb denn maßen sich die europäischen Staaten an, Zivilisation und Gesittung in fernen Erdteilen zu verbreiten? Weshalb nicht in Europa? (in ihrer Nachbarschaft)?
Eine jahrhundertealte Zivilisation eines europäischen Volkes (der Juden) beweist noch lange nicht, dass es durch einen unheimlichen Fluch der Vorsehung wieder barbarisch wird. Auch unter den Völkern in Afrika, die heute der Protektion zivilisierter (?) Völker bedürfen, hat es bestimmt einige gegeben, deren Jahrtausende alte Kultur eines Tages, eines Jahrhunderts möchte man sagen, aus unergründlichen Ursachen verschüttet worden ist. Die europäische Wissenschaft selbst beweist es.
Man redet konstant von einer „europäischen Völkerfamilie“. Wenn diese Analogie stimmen soll: Wo hätte man je gesehen, dass ein Bruder dem andern nicht in den Arm fällt, wenn dieser im Begriff ist, eine Dummheit oder eine Bestialität zu begehen? Ist es mir lediglich erlaubt, dem schwarzen Kopfjäger bessere Sitten beizubringen, nicht aber dem weißen? Fürwahr, eine seltsame Art von Familie, diese „Völkerfamilie“!…Der Vater ist fest entschlossen, nur vor seiner eigenen Tür zu kehren; und aus dem Zimmer seines Sohnes stinkt schon der Mist zum Himmel.
Ich wollte, ich besäße die Gnade und die Einsicht, einen Ausweg auch nur andeuten zu können. Die Aufrichtigkeit, eine der oft verkannten bescheidenen Musen des Schriftstellers, zwingt mich zu einem pessimistischen Schluss dieses meines zweiten Vorwortes:
- Der Zionismus ist nur eine Teillösung der Judenfrage.
- Zu vollkommener Gleichberechtigung und jener Würde, die äußere Freiheit verleiht, könnten die Juden (Palästinenser) erst dann gelangen, wenn ihre „Wirtsvölker“ (die Israelis) zu innerer Freiheit gelangt sind und zu jener Würde, die das Verständnis für das Leid gewährt.
- Es ist – ohne ein Wunder Gottes – kaum anzunehmen, dass die „Wirtsvölker (Israelis) zu dieser Freiheit und dieser Würde heimfinden.
Dem gläubigen Juden (Palästinenser) bleibt der himmlische Trost.
Den andren (Israelis) das „vae victis“.