von Arn Strohmeyer
Der deutsch-jüdische Comedian Oliver Polack scherzte bei einem Auftritt in New York, er sei am Abend zuvor aus Deutschland gekommen, mit dem Flugzeug diesmal, was für ihn ein bisschen ungewohnt gewesen sei. Er konstatierte: „In Deutschland reise ich normalerweise mit dem Zug – eine alte jüdische Familientradition.“ Nach einer Pause, die die Wirkung seines Vortrages noch verstärken sollte, fuhr er fort: „Die Abfahrtzeiten kann man sich nicht aussuchen, aber die Tickets sind kostenlos. Das Problem: Alle Züge fahren nach Polen.“
Für den deutsch-jüdischen Journalisten Daniel Killy sind die deutschen Printmedien (aber auch ARD und ZDF) grundsätzlich „antiisraelisch“ eingestellt, was dasselbe ist wie „antizionistisch“, was wiederum ein Synonym für „Deutschlands feschen Zeitgeist-Antisemitismus“ ist. Selbst die FAZ und die Süddeutsche sind in Killys Sichtweise neben den öffentlich-rechtlichen Anstalten „ein sicherer Hafen für anti-israelische Autoren“. Es gebe zwar – so doziert Killy weiter – dort keinen antiisraelischen Redaktionskodex, aber alle bösartigen Attacken auf Israel würden durch einen Wall des „Pluralismus“ geschützt. Wann immer jemand (wie etwa er selbst) diese Methode offenlege, werfe man ihm reflexartig einen „Angriff auf die Pressefreiheit“ vor. (Dieser Vorwurf Killys bedeutet ja, dass die Pressefreiheit in Deutschland Antisemiten schützt.) Die Sprache der deutschen Medien sei „vergiftet“, weil sie einseitig propalästinensisch berichteten, so der ehemalige Boulevard-Journalist, der früher bei BILD gearbeitet hat.
Killy fasst seine Position so zusammen: „Pessimistisch ausgedrückt: Die Bestie des deutschen Antisemitismus ist nicht zur Strecke gebracht – sie wurde nur betäubt. Sollte dieses staatlich verordnete Sedativum seine Wirkung verlieren, wäre sie wieder quicklebendig. Positiv formuliert heißt das: Deutschland tut alles, um sicherzustellen, dass dieses Anästhetikum stets in ausreichender Menge vorhanden ist.“
Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und jetzige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München Charlotte Knobloch hält die Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland für gescheitert, Die 85jährige sagte kürzlich in einem Vortrag, sie sehe im Kampf gegen den Antisemitismus nur noch Rückschläge, keine Fortschritte mehr. Knobloch verwies auf die fast 1500 antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr in Deutschland, die Schändung jüdischer Friedhöfe, Angriffe auf Synagogen und jüdische Gemeindehäuser sowie Hasstiraden in sozialen Netzwerken. Die Situation sei so schlimm wie noch nie.
Ohne den gefährlichen Rechtsruck in der deutschen Gesellschaft verharmlosen zu wollen, marschiert die SA wirklich schon wieder auf Deutschlands Straßen? Müssen Juden wirklich auf gepackten Koffern sitzen, weil sie Verfolgungen befürchten müssen? Nebenbei gefragt: Warum kommen Zehntausende junge jüdische Israelis inzwischen nach Deutschland, vornehmlich nach Berlin, weil sie die Situation in ihrem Land unerträglich finden? Es gibt auch ganz andere Stimmen, die die Situation der Juden in Deutschland sehr viel nüchterner beschreiben.
So hält der israelische Sozialwissenschaftler und Historiker Moshe Zuckermann die antisemitischen Ausfälle, die es ja zweifellos gibt und gegeben hat, für eher „moderat“. Er sieht keine reale antisemitische Bedrohung für in Deutschland lebende Juden: „Ist es wirklich ein Weltuntergang, wenn man im heutigen Deutschland antisemitischen Vorfällen ausgesetzt ist? Im Gegensatz zum historischen Antisemitismus, zum nazistischen allemal, sind heutige Ausfälle für Juden nicht existenzbedrohend, man wird gesellschaftlich nicht durch Antisemitismus geächtet, ist keiner eklatanten Diskriminierung, auch keinerlei performativen Verfolgung ausgesetzt, man sieht sich nicht genötigt, ins Exil zu gehen, schon gar nicht ist man in seinem Leben bedroht. Heutige deutsche Antisemiten vergreifen sich nicht an Juden. Auch die psychischen Blessuren, die der Antisemitismus bei Betroffenen hinterlassen mag, überschreiten nicht das Ausmaß dessen, was andere Minoritäten in Deutschland zu erleiden haben.“
Ganz ähnlich sieht das vermeintliche Problem der Nestor der deutschen Antisemitismus-Forschung Wolfgang Benz. Er kann keinen Anstieg des Antisemitismus in Deutschland erkennen, macht aber eine Unterscheidung zwischen der sozialen und politischen Realität, die die Wissenschaft empirisch registriert, und emotionalen Befindlichkeiten, in denen es durchaus so erscheinen könne, als gebe es einen solchen Anstieg. Auch das Hochkommen eines „neuen“ Antisemitismus kann Benz nicht feststellen: „Nein, es gibt keinen neuen Antisemitismus. Es ist der alte, der Bodensatz in der Gesellschaft. Der wird nicht schlimmer, aber es ist schlimm genug, dass es ihn überhaupt gibt.“
Auch die von jüdischen Kreisen in Deutschland immer wieder beschworene Gefahr, dass die muslimischen Flüchtlinge einen neuen Judenhass ins Land brächten, sieht Benz nicht. Er hält dem entgegen: „Die Zuwanderer sind nicht gekommen, um Antisemitismus zu forcieren, aber es ist so schrecklich einfach, von unserem selbstgemachten deutschen Antisemitismus abzulenken, indem man mit dem Finger auf andere zeigt.“ Womit Benz auf die von ihm früher schon oft angeführte strukturelle Parallele zwischen traditionellem Antisemitismus und Islamophobie anspielt.
Wo sind also die Gründe zu suchen für die übertrieben aufgeregten Reaktionen der Politik, der Medien, der Öffentlichkeit, der Israel-Solidarisierer und der meisten hier lebenden Juden selbst, auf jeden noch so unschönen, aber letzten Endes doch harmlosen (weil lediglich verbalen) Vorfall gleich die Antisemitismus-Keule zu schwingen und laute Klagen anzustimmen, als stände eine neue Judenverfolgung unmittelbar bevor? Reaktionen, die zudem in krassem Widerspruch zu der Resonanz auf andere fremdenfeindliche und oft auch gewaltsame Übergriffe stehen, denen andere Minderheiten in Deutschland ausgesetzt sind – etwa muslimische Flüchtlinge, Afrikaner und Vietnamesen. Dass die Sensibilität gegenüber Juden auf Grund der monströsen NS-Verbrechen an diesen Menschen und in Folge der daraus resultierenden Schuldgefühle höher ist als gegenüber anderen Ethnien, versteht sich von selbst, erklärt aber nicht den Sachverhalt, warum die deutsche Reaktion so überaus hysterisch und politisch-ideologisch so einseitig ausfällt. Damit hängt eng das Tabu zusammen, die völkerrechts- und menschenrechtswidrige israelische Politik gegenüber den Palästinensern offen, klar und deutlich beim Namen zu nennen und unter Berufung auf das internationale Recht kritisieren zu können. Man kommt also nicht umhin, das deutsche Verhältnis zu Israel in die Betrachtung miteinzubeziehen, denn in der höchst umstrittenen Beurteilung der israelischen Okkupationspolitik feiert der Antisemitismus-Vorwurf seine abstoßendsten und widerlichsten Urstände.
Es gehört in Deutschland einerseits zur „Staatsräson“ (Kanzlerin Angela Merkel), sich mit Israel zu solidarisieren und für seine Existenz und Sicherheit einzutreten – das ist sozusagen die „milde“ Form der staatsoffiziellen Identifizierung mit dem zionistischen Staat. Es gibt aber sehr viel radikalere Individuen und Kreise, die sich mit Israel total identifizieren und auch seine Ideologie rückhaltlos vertreten und verteidigen: Diese Bewegung reicht von vielen Medien, den jüdischen Gemeinden, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) bis zu Gruppen wie den „Antideutschen“ und anderen zionistischen Sekten.
Da gehört es zum Programm, auf jedes Vorgehen Israels (und sei es auch noch so brutal und menschenverachtend) mit Verständnis und Rechtfertigung zu reagieren und den Kritiker sofort gnadenlos und inquisitorisch des Antisemitismus zu bezichtigen, wobei Diffamierung, Verleumdung, Beleidigung, Einschüchterung und Rufmord die üblichen Mittel sind. Es geht bei diesem ruchlosen Vorgehen der Israel-Solidarisierer gar nicht mehr um wirklichen Antisemitismus (also um einen unverbesserlichen Hass auf Juden und die Überzeugung, dass Juden, genetisch minderwertig, böse und eine universelle Bedrohung sind, so eine herkömmliche Definition), sondern um den Nahost-Konflikt beziehungsweise den israelisch-palästinensischen Konflikt, der aber nicht etwa politisch, ökonomisch oder sonst wie analysiert wird, sondern lediglich die „Plattform für das gesteigerte Toben von Meinungen, Zuschreibungen, Schmähungen und selbstgefälligen Parteinahmen darstellt.“ (Moshe Zuckermann)
Dem ganzen ruchlosen Vorgehen liegt natürlich eine moralische Erpressung mit der Ansage an die Israel-Kritiker zu Grunde: Wenn Du das Tabu brichst, und zu Israels Verbrechen an den Palästinensern nicht schweigst, sondern sie öffentlich kritisierst, dann diffamieren wir Dich als Antisemit, was heißt, wir stellen Dich assoziativ auf eine Stufe mit den übelsten NS-Schergen. Dass dieser so gut wie täglich gebrauchte Vorwurf den Holocaust in schlimmster Weise banalisiert und bagatellisiert, das heißt, auch das Andenken der Opfer dieses Mega-Verbrechens beschmutzt, ergibt sich daraus ganz von selbst. Der permanent vorgebrachte Antisemitismus-Vorwurf hat natürlich die Funktion, jede öffentliche Debatte über Israels Politik zu verhindern.
Der Antisemitismus ist zu einem Kampfbegriff geworden. Man sorgt dafür, dass die vermeintlichen „Antisemiten“ (vornehmlich aus dem linken, universalistisch-menschrechtlich gesinnten Lager) in den Medien und der Öffentlichkeit möglichst gar nicht erst zu Wort kommen, dass ihnen für Veranstaltungen Räume versagt werden, dass sie auch persönlich kaltgestellt und in ihrer Existenz getroffen, sie schlicht ausgeschaltet werden. Auch kritische, „linke“ Juden werden vom Antisemitismus-Vorwurf nicht verschont, was an Infamie nicht mehr zu übertreffen ist. Dass die Israel-Solidarisierer damit die Debattenkultur in Deutschland vergiften, ja mit der Gefährdung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit die höchsten Werte der Demokratie in Frage stellen, schert sie nicht, jedes Mittel ist Recht.
Nun kann man über die offizielle Beziehung der Deutschen zu Israel ganz allgemein sagen, dass ihr ein ideales Wunschbild von diesem Staat zu Grunde liegt, das mit dem realen Besatzungs- und Apartheidstaat Israel wenig oder nichts zu tun hat. Das offizielle Deutschland ist nach der furchtbaren Erfahrung mit dem Nationalsozialismus zum Philosemitismus konvertiert und glaubt, dass man Sühne für das Mega-Verbrechen an den europäischen Juden nur dadurch erlangen kann, indem man Israels brutales Vorgehen gegen die Palästinenser beschweigen und Israel in jeder Hinsicht unterstützen muss. Dass man damit gegen den westlichen Wertekanon, der sonst bei jeder Gelegenheit angeführt wird, in schlimmer Weise verstößt, dass die deutsche Politik mit dieser Art von „Wiedergutmachung“ und der engen Zusammenarbeit mit Israel auf vielen Gebieten (Politik, Wirtschaft, Kultur und auch des Militärs) zum Partner, ja zum Komplizen eines kolonialistischen Unterdrückerstaates wird, macht das Dilemma der deutsch-israelischen Beziehungen aus. Sie sind daher unaufrichtig bis zur Verlogenheit. Diese deutsch-israelische Konstellation ist nur möglich, weil die aus der deutschen Schuld geborene Sicht auf Israel die Wahrnehmung der Realität so beeinträchtigt, dass nicht zwischen Judentum, Zionismus und Israel und damit auch zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israels Politik unterschieden werden darf. An diesem Tabu darf unter keinen Umständen gerüttelt werden.
Wenn die deutsche Politik und die radikalen Israel-Solidarisierer die israelische Staatsideologe – den Zionismus – bedingungslos anerkennen, dann akzeptieren sie auch eine sehr bedenkliche psychologische Befindlichkeit dieses staatlichen Kollektivs: dass seine Politik – psychologisch gesehen, und es gibt keine Politik ohne Psychologie – weitgehend auf einer paranoiden Basis beruht. Diese Vorstellung mag beim deutschen Leser sofort abwehrende Empörung und sogar den Antisemitismus-Vorwurf auslösen, was aber völlig abwegig ist, denn unter israelischen Intellektuellen ist dieser Sachverhalt ein oft diskutiertes und damit weit verbreitetes Thema.
Um ein Beispiel zu nennen: In den 90er Jahren veröffentlichte der israelische Psychoanalytiker Ofer Grosbard ein Buch zu dieser psychischen Befindlichkeit seiner Landsleute: „Israel auf der Couch. Zu Psychologie des Nahost-Konflikts“ (in Deutschland 2002 erschienen). In diesem Werk, zu dem der renommierte israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk das Vorwort geschrieben hat, verwendet der Verfasser 45mal den Begriff Paranoia in Bezug auf die psychische Situation der Israelis und deren Auswirkung auf die Politik dieses Staates.
Das jüdische Trauma, das bis zur Paranoia gehen kann, ist angesichts der Geschichte dieses Volkes mit all ihren Verfolgungen und Katastrophen ja auch durchaus verständlich, auch wenn man hinzufügen muss, dass es in der jüdischen Geschichte auch lange Perioden der Ruhe und des friedlichen Zusammenlebens mit Nicht-Juden gegeben hat (das Gegenteil zu behaupten ist ein zionistischer Mythos). Die Angst ist aber dennoch in der Seele jedes Juden tief verwurzelt. Grosbard schildert alle Facetten dieser Angst, und wie eng sie mit der Paranoia verschwistert ist – dem Gefühl der ständigen Bedrohung, auch wenn diese gar nicht real vorhanden ist. Der in Israel allgegenwärtige Satz „Die ganze Welt ist gegen uns!“ ist der Beleg für den Fortbestand dieses paranoiden Seelenzustandes. Der israelische Psychoanalytiker legt dar, dass die Bedrohungsangst im Fall Israel in erster Linie ein Phänomen des seelischen Innen und nicht des Außen ist. Weil die Vergangenheit immer präsent ist, fällt es so schwer, die gefühlte Bedrohung im Innen und die reale Bedrohung von außen auseinanderzuhalten. Der Paranoide fühlt sich immer bedroht.
Grosbard schildert ausführlich die fatalen Folgen, die eine solche seelische Disposition für den Einzelnen wie auch die Gesellschaft und die Politik des Staates hat. Die Juden haben sich früh in ihrer Geschichte von den anderen Völkern abgesondert, weil sie glaubten, dass sie vom allmächtigen Gott ganz besonders und bevorzugt geliebt würden und deshalb auserwählt seien. Grosbard schreibt: „Das jüdische Volk hat sich über Jahre hinweg durch seine Unterschiedlichkeit und Eigenheiten selbst von den Nachbarländern abgesondert. Die Isolation birgt in sich selbst gleichzeitig Gefühle des Verfolgtseins und der Überlegenheit. Da ich so großartig und wichtig bin, haben die anderen einen Grund mich zu beneiden, zu verfolgen und zu hassen. Aus der Psychopathologie wissen wir, dass Paranoia sich häufig mit Größenwahn verbindet.“
Der Paranoide schwankt also zwischen Unsicherheit und Angst einerseits und Selbstgerechtigkeit, dem Gefühl der Einzigartigkeit, Überheblichkeit und Arroganz auf der anderen Seite. Eine solche Haltung verstellt aber den Blick auf die reale Außenwelt, weil sie immer die schlimmen Erinnerungen der Vergangenheit in die äußere Wirklichkeit hineinprojiziert. Aus diesem Grund kann der Paranoide dem „Anderen“ in seiner Realität nie wirklich begegnen, ohne das Gefühl der Bedrohung auf ihn zu übertragen, was auch heißt, er kann die Schuld für das eigene Tun nie bei sich selbst suchen, sondern immer nur beim „Anderen“, was aber wiederum jede Übernahme von Verantwortung ausschließt.
Der Paranoide ist deshalb dem „Anderen“ gegenüber auch zu keiner Empathie fähig, worin Grosbard den Grund für die offenbar unlösbare Feindschaft zwischen Israelis und Palästinensern sieht. Erst wenn Israel bereit wäre, die Leiden, die es den Palästinensern zugefügt hat, anzuerkennen und zu einer Politik der Entschuldigung und Versöhnung fähig und bereit wäre, könne es seine Paranoia überwinden. Die Alternative ist nur die Fortsetzung von Gewalt und Krieg. Grosbard schreibt: „Solange wir die Existenzberechtigung der Palästinenser leugnen und die legitimen Rechte der Araber nicht anerkennen, werden wir keinen Frieden haben. Solange wir nicht verstehen, dass wir aus ihrer Sicht wie aus einer anderen Welt gekommen sind, ihr Land besetzt und sie aus ihren Häusern vertrieben haben, solange wird es keine Versöhnung geben.“
Auf den Tatbestand einer paranoiden Befindlichkeit des israelischen Kollektivs haben neben Ofer Grosbard auch schon andere israelische Intellektuelle in ihren Schriften immer wieder hingewiesen – so zum Beispiel Abraham Burg, Ruchama Marton, Shlomo Sand und Moshe Zuckermann, um nur einige zu nennen. Abraham Burg, der frühere Sprecher des israelischen Parlaments (der Knesset) und Ex-Vorsitzende der zionistischen Weltorganisation nennt die Paranoia ein „klassisches jüdisches Erbe“, das vor allem in Folge des Holocaust alle Manifestationen des Alltags in Israel durchdringt: die Medien, das öffentliche Leben, Literatur, Musik, Kunst, Erziehung und Bildungswesen. Selbst den völkerrechtswidrigen Bau der Siedlungen im Westjordanland führt er auf den „paranoiden Glauben der Rechten in Israel zurück, der demographischen Bedrohung durch die Araber ließe sich nur durch Macht und Siedlungen begegnen. Darin offenbarten sich klaustrophobe Anwandlungen des jüdischen Gettodenkens, die sich durch ein Ausbrechen in ein größeres Siedlungsgebiet Erleichterung zu verschaffen suchten.“
Die Intensität der israelischen Paranoia beschreibt Burg so: „Für uns ist jedes Töten Mord, jeder Mord ein Pogrom, jeder Terroranschlag ein antisemitischer Akt und jeder neue Feind ein Hitler. Hinter jeder Gefahr lauert ein neuer Holocaust. Wir und viele unserer Führer, die uns aufstacheln, sind überzeugt, dass nahezu jeder uns vernichten will. Da wir uns so von Schatten bedroht fühlen, die uns im Morgengrauen angreifen wollen, sind wir zu einer Nation von Angreifern geworden. In dieser Dunkelheit fühlen wir uns wohl, weil wir uns daran gewöhnt haben.“
So verständlich das Phänomen der Paranoia bei Juden ganz allgemein oder speziell beim israelischen Kollektiv als Folge der Geschichte dieses Volkes ist, besteht das Kritikwürdige darin, dass die Zionisten diese seelische Befindlichkeit keineswegs als unangenehm empfinden und sie auch nicht mit Aufklärung therapeutisch zu lindern suchen, sondern sie fördern diese psychische Disposition sogar, instrumentalisieren sie mit allen Mitteln und nutzen sie propagandistisch für ihre politischen und militärischen Zwecke, ja sie haben sie zu einem Teil der zionistischen Staatsideologie gemacht. Dabei muss das wirkliche authentische Erinnern der Opfer des Holocaust weitgehend aus dem Blick geraten, der Holocaust ist Rechtfertigung für die Entstehung und Existenz des Staates geworden. Er gibt dem Staat Israel auch die Rechtfertigung, dass ihm „alles erlaubt ist!“, dass er sich also an Völkerrecht und Menschenrechte nicht halten muss, weil er einer eigenen zionistischen Gesetzlichkeit folgt. Die Fetischisierung dieses Mega-Verbrechens geht so weit, dass der Israeli Moshe Zuckermann dem zionistischen Staat inzwischen „Verrat an den Holocaust-Opfern“ vorwirft.
Aber gegen diese Fetischisierung einer paranoiden Ideologie regt sich seit langem Widerstand in Israel. Schon 1988 hat der israelische Philosoph und Publizist Yehuda Elkana einen Essay mit dem Titel „Die Notwendigkeit zu vergessen“ veröffentlicht. Elkana wurde als Junge von zehn Jahren nach Auschwitz verschleppt und überlebte das Vernichtungslager. Auch er macht die paranoide Angst der Israelis zum Ausgangpunkt seiner Überlegungen und sieht in ihr die Ursache für die Lähmung der israelischen Demokratie, das Verharren im Status quo sowie die Unfähigkeit der israelischen Politik, Frieden mit den Nachbarn – vor allem mit den Palästinensern – zu schließen. Er plädiert für Vergessen, aber nicht in dem Sinn, dass die Nation ihre Vergangenheit verdrängen oder vergessen soll, sondern dafür, dass Israel den Holocaust – und damit seine Paranoia – aus der Mitte der nationalen Erfahrung nehmen soll.
Ganz ähnlich argumentiert Abraham Burg: „Ständig wollen wir wegen der Shoa eine noch schlagkräftigere Armee, mehr Mittel von den Steuerzahlern anderer Länder und eine automatische Vergebung aller unserer Exzesse. Wir wollen über Kritik und Aufmerksamkeit erhaben sein, und das alles wegen zwölf Jahren Hitler, die das Antlitz Europas und unseres bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. So kann es nicht weitergehen. Dieser innere Widerspruch wird sein Gefäß, den Staat und die Gesellschaft, die ihn enthält, sprengen. Wir nähern uns mit schnellen Schritten einem Scheideweg, an dem wir entscheiden müssen, wer wir sind und welche Richtung wir einschlagen. Gehen wir in die Vergangenheit, an der wir uns immer orientiert haben, oder entscheiden wir uns zum ersten Mal seit Generationen für die Zukunft? Entscheiden wir uns für eine bessere Welt, deren Basis Hoffnung, nicht ein Trauma, Vertrauen in die Menschheit, nicht misstrauischer Isolationismus und Paranoia sind?“
Nach diesen Israel betreffenden Ausführungen muss man zur Haltung der deutschen Politik gegenüber Israel und besonders dem ruchlosen Treiben der Antisemitismus-Jäger zurückkehren. Die ganze politische Existenz der letztgenannten besteht darin, aus der totalen Identifizierung mit Israel heraus Kritiker der israelischen Politik als „Antisemiten“ aufzuspüren und zu entlarven“. Man muss fragen, was wissen diese Leute überhaupt von dem realen Israel? Und: Folgt aus ihrer völligen Identifizierung mit dem zionistischen Staat und seiner Ideologie nicht, dass sie sich damit auch die israelische Paranoia zu eigen machen, ja selbst paranoid sind? Dass ihre permanente Diffamierung der Kritiker der israelischen Politik nichts mit dem Blick auf die israelische Realität zu tun hat, sondern aus paranoiden Ängsten stammt, die sie aus dem Land ihrer Identifizierung übernommen haben?
Über die Art und Weise, wie diese Leute die deutsche Vergangenheit aufarbeiten, merkt der Israeli Moshe Zuckermann an: „In ihrer Torhütermentalität wird alles angeprangert und verfolgt, oft auch pauschal denunziert, was nach ‚Antisemitismus‘ riecht, oder genauer, was sich unter dem neuen Begriff von Antisemitismus, den sich diese Öffentlichkeit zurechtgebastelt hat, subsumieren lässt, wobei sich Aufklärungselan und paranoides Pathos solcherart wechselseitig durchwirken, dass politische Emanzipationspraxis zur befindlichkeitsgeschwängerten Lust am publiken Verfolgungswahn verkommt. Man gefällt sich als ‚hauptamtliche Antisemiten-Jäger‘ (gut deutsch der Verbeamtung von Emanzipation frönend), beruft sich dabei auf Adornos neuen kategorischen Imperativ, wobei sich freilich der alte Frankfurter Denker im Grabe umdrehen dürfte, wenn er erführe, von welchem Ungeist diese Vereinnahmung beseelt ist, und geht alles brutal denunziatorisch an, was sich nicht den Vorgaben des manipulativen Antisemitismus-Diskurses unwidersprochen fügt. Auch Juden sind vor der Definitionsallmacht dieser vermeintlichen Sachwalter ihrer Belange nicht gefeit.“
Wenn aber Israel für diese Antisemiten-Jäger keine Realität, sondern nur eine Projektionsfläche für ihre eigenen psychischen Befindlichkeiten ist, dann muss man aus diesem Tatbestand noch weitere Schlussfolgerungen ziehen. Moshe Zuckermann formuliert sie so: Wenn die deutsche Solidarität und Identifizierung mit Israel sich auf die abstrakte Idee Israel bezieht [das ist der Sinn und die Bedeutung der „Projektionsfläche“A. Str.], dann müssen diese Israel-Solidarisierer und -Identifizierer sich auch auf das Israel beziehen, das eine völkerrechts- und menschenrechtswidrige, eine brutale Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern betreibt, was aber heißt, diese Solidarität muss dann ihrem Wesen nach objektlos, eine egoistische Nabelschau sein, die sich „in formalen Abstraktionen einerseits und unreflektiert selbstbezogenem Emotionsgewühl anderseits“ bewegt.
Was die „Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit“ samt der aus ihr abgeleiteten „Verantwortung“ angeht, stellt sich Zuckermann zufolge noch eine andere Frage: „Sollte sich etwa die abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich verkommenen und verbrecherischen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen erweisen? Man misst diese Möglichkeit normalerweise der deutschen Solidarität mit den Palästinensern bei. Muss man nicht annehmen, dass sie sich gravierender, wenngleich auch glänzend kaschiert, in der überbordenden Solidarität mit dem Judenstaat niedergeschlagen hat?“ Denn wenn auch die Israelis schlimme Verbrechen begehen (was keine Gleichsetzung mit der Dimension des Holocaust bedeutet), dann würde das in den Augen der Israel-Solidarisierer ja auch die Deutschen von ihrer Schuld entlasten, so Zuckermanns Gedankengang.
Und wenn Deutsche sich sogar anmaßen, Juden und erst recht jüdische Israelis wegen ihrer Israel-Kritik als Antisemiten zu bezichtigen, dann sei das nicht nur „ein zur Perversion verkommenes deutsches Befindlichkeitsproblem“, sondern das Residuum eines latenten antisemitischen Ressentiments: „Nur Antisemiten können Juden als Antisemitem besudeln, um sich selbst von der Erbärmlichkeit ihres deutschen, allzu deutschen Antideutschseins zu erlösen.“ Der Israeli und Jude Moshe Zuckermann spricht hier nicht zuletzt auch von sich selbst, denn er steht in Deutschland mit im Zentrum der Diffamierung und Denunziation der Antisemiten-Jäger. Ihm werden inzwischen Räume für seine Vorträge verweigert, und Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen, an denen er teilnimmt, werden als „antisemitisch“ denunziert. Dass ein jüdischer Israeli seinen eigenen Staat aus tiefer Sorge wegen dessen inhumaner Politik, die in den Abgrund zu führen droht, kritisiert, diese Idee ist für diese deutschen Israel-Versteher schon reiner Antisemitismus.
Aber Zuckermanns Schlussfolgerung ist klar und deutlich: „Wer als Deutscher Israelkritik zwangsläufig für antisemitisch erachtet und jüdische, mithin israelische Israelkritiker des Antisemitismus zeiht, hat ein Problem mit dem Juden als solchem, das er nicht anders als durch Besudelung des Juden in den Griff zu kriegen weiß. Er ist von einem unbewussten antisemitischen Ressentiment angetrieben.“ Und. „Generell: Wer als Deutscher, dem Juden seit Auschwitz tabu sind, gerade Juden des Antisemitismus bezichtigt, ist selbst ein Antisemit. Nicht immer latent.“
So werden die Antisemiten-Jäger von einem kritischen jüdischen israelischen Intellektuellen selbst des Versuchs der Schuldentlastung und des Antisemitismus überführt. Was für eine fatale Ironie der deutschen Gegenwart! Aber diese Ironie ist nicht lustig, das Problem ist zu ernst, um Spaß dabei zu haben. Es geht einmal um die richtige, das heißt der Realität entsprechende Sicht auf den zionistischen Staat Israel und nicht zuletzt auch um die offenbar in weiten deutschen Kreisen immer noch nicht geleistete rationale Aufarbeitung der monströsen Verbrechen der NS-Zeit. Anders kann man sich nicht erklären, wie eine Erscheinung wie die ruchlose „Antisemiten“-Jagd in Deutschland überhaupt möglich ist. Wenn kluge und sensible israelische Intellektuelle ihrem Staat den Spiegel vorhalten und auf das gefährliche Symptom der dort herrschenden Paranoia und seine Folgen hinweisen, dann warnen sie auch die Deutschen, diesen Weg einzuschlagen, der Israel nur Unheil bringt und in Deutschland keinen wirklichen Beitrag zur Bekämpfung der Seuche des Antisemitismus darstellt.
Literatur:
Burg, Abraham: Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss, Frankfurt/ Main 2008
Grosbard, Ofer: Israel auf der Couch. Zur Psychologie des Nahost-Konflikts, Düsseldorf 2001.
Segev, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Problem der Erinnerung, Reinbek 1995.
Zuckermann, Moshe: „Antisemit!“. Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010.
Ders.: Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit, Frankfurt/ Main 2018.
Zuerst hier.
Lob für den Artikel! Und der Gedanke der „nicht geleisteten rationalen Aufarbeitung der monströsen Verbrechen der NS-Zeit“ in Deutschland ist tatsächlich hervorzuheben: trotz all`der Dokumentationen, der Filme, der Hörspiele, der offiziellen Gedenkfeiern kann wohl kaum von „rationaler Aufarbeitung“ die Rede sein. All dies läßt insbesondere die jungen Leute eher ratlos zurück, wie jenen 20igjährigen , der sich mir gegenüber darüber beklagte, dass er 5 Jahre lang in der Schule in allen möglichen Fächern immer wieder mit dem Nationalsozialismus geradezu bedrängt wurde. „Ist doch toll“, so ein Bekannter zu mir. Und dieser wurde geradezu aufgeregt, als ich ihm darauf hinwies, dass dieses ständige Insistieren letztendlich nicht nur die jungen Menschen überfordert – und nicht nur die-, sondern in der zumeist vorgetragenen Emotionalisierung gar nicht weiter hilft, weil hier stets die Sicht auf ein bestimmtes historisches Ereignis gelenkt wird, ohne die Frage nach dem „Warum“ jemals zufriedenstellend beantworten zu können. Dafür, dass junge Leute in Deutschland eine Gewaltdiktatur ablehnen, dass sie einen Hitler, der für fast alle, die seine Auftritte heutzutage auch nur kurz sehen, so lächerlich wirkt, wie der große Dikatator im Chaplin-Film, dass sie Verfolgung ,Massenmord und Krieg ablehnen – dafür benötige ich keine fünf Jahre. Aber dafür, dass junge Menschen erste Anzeichen von Menschenfeindlichkeit, die Erosion von Demokratie und Meinungsfreiheit, die Doppelmoral der Politik, die rüstend den Frieden beschwört erkennen und ein Gespür für jenes „Freund-Feind-Denken“ , dass ebenso bei denjenigen Anwendung findet, die scheinbar das „Gute“ wollen, entwickeln – dafür sollte Schule sorgen. Und dann , erst dann, kann der Nationalsozialismus rational aufgearbeitet werden .
„Aber dafür, dass junge Menschen erste Anzeichen von Menschenfeindlichkeit, die Erosion von Demokratie und Meinungsfreiheit, die Doppelmoral der Politik, die rüstend den Frieden beschwört erkennen und ein Gespür für jenes „Freund-Feind-Denken“ , dass ebenso bei denjenigen Anwendung findet, die scheinbar das „Gute“ wollen, entwickeln – dafür sollte Schule sorgen.“
Zustimmung. Dazu gehört die Reflexion dessen, was
Heitmeyer in „Deutsche Zustände“ thematisiert und aktuell in
„Autoritäre Versuchungen“ weiter vertieft wird.
https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-heitmeyer-der-begriff-rechtspopulismus-ist.2850.de.html?drn:news_id=946125