von Arn Strohmeyer
Lieber Sascha Lobo,
Ich danke Ihnen für Ihre sehr aufschlussreichen Ausführungen über den so umstrittenen Komplex Israel/ Antisemitismus/ Palästinenser im SPIEGEL. Ich habe bisher leider an die Legende und das Märchen von den siedlerkolonialistischen Zionisten geglaubt, die seit ungefähr 140 Jahren in Palästina einwandern und das Land langsam aber sicher – zuerst mit Hilfe der britischen Mandatsmacht – in ihren Besitz gebracht haben. Nach der Lektüre Ihres Artikels bin ich mir bewusst geworden, dass ich im Irrtum bin, die Geschichte ist offensichtlich ganz anders – eben umgekehrt – verlaufen. Ich muss deshalb notgedrungen auch meine Einstellung zum Antizionismus/Antisemitismus ändern. Danke für die Aufklärung!
Die Geschichte verlief dann wohl so: Ab etwa 1880 sind die Palästinenser in mehreren Wellen in Palästina mit der Absicht eingefallen, um das Land, das ja eigentlich „leer“ war, aber in Wirklichkeit von Juden bevölkert war, unter Berufung auf ihre kanaanäischen Vorfahren, die dort vor 3000 Jahren gelebt haben, zu übernehmen und einen palästinensischen Staat dort zu errichten. Die Briten, die der Völkerbund als Mandatsmacht dorthin geschickt hatte, leisteten bei der Realisierung des siedlerkolonialistischen palästinensischen Projekts aktive Unterstützung. Mit Kauf und später auch mit Gewalt schafften die Palästinenser es wirklich, das Land zu erobern.
Im Jahr 1948 holten die Palästinenser zum großen Schlag aus: Sie vertrieben 800 000 Juden in die benachbarten arabischen Länder. Den restlichen noch verbliebenen Juden nahm man ihren Besitz weg (Anwesenden-Abwesenden Gesetz). Im Krieg von 1967 wurden noch einmal 300 000 Juden vertrieben. In diesem Krieg nahmen die Palästinenser dann noch das Westjordanland, den Gazastreifen und die Golanhöhen ein und führten eine brutale Besatzungspolitik über die besetzten Juden ein. Den Palästinensern gehörte nun das ganze Land, sie konnten jetzt machen, was sie wollten, ihnen war jetzt ihnen „alles erlaubt!“
Den größten Teil der Juden sperrten die Palästinenser nun hinter Mauern und großen Zäunen in Reservaten weg. Wenn sie dennoch Widerstand leisteten, sich mit ihrem Gefangensein also nicht abfinden wollten und selbst gebastelte Raketen über die Mauer schickten, die im Land der Palästinenser aber kaum Schaden anrichteten, dann schlug die hochgerüstete palästinensische Kriegsmaschine zu: mit modernstem Tötungsgerät aus den USA oder aus eigener Produktion. Dass da tausende Juden – auch Frauen und Kinder – umkamen, nahm man hin – Kollateralschäden eben. Und außerdem muss man für die Sicherheit des palästinensischen Staates eben Opfer bringen!
Auch dass Tausende jüdische Gefangene – zumeist ohne Anklage – in palästinensischen Gefängnissen sitzen, darunter zumeist auch hunderte Kinder, auch das verlangt die Sicherheit des Staates. Ebenso die Folter, die dabei praktiziert wird. Als die Juden im Jahr 2006 in ihren besetzten Gebieten freie Wahlen abhielten und eine jüdische Organisation, der man Terror vorwarf, haushoch gewann, erkannten die palästinensische Regierung das Ergebnis zusammen mit ihren westlichen Verbündeten nicht an, weil eben die falsche Partei gewonnen hatte.
Die grausame Besatzung, die die Palästinenser nun über die Juden praktizierten, führte zu Apartheidzuständen. Es gibt zweierlei Justizsysteme im Westjordanland: ein militärisch-rigides für die besetzten Juden und ein liberales für die Palästinenser im Kernland. Es gibt schöne, gut asphaltierte Straßen für die privilegierten Palästinenser und schlechte mit vielen Checkpoints bestückte Feldwege für die Juden, deren Bewegungsfreiheit eingeengt und kontrolliert werden soll. Das palästinensische Parlament beschloss ein Nationalstaatsgesetzt, das festlegt, das nur die Palästinenser im Staat Palästina über ein Selbstbestimmungsrecht verfügen, die andere Ethnie (die Juden – 20 Prozent) wurde staatsoffiziell in den Status von minderrangigen Bürgern verbannt. Ein schönes Beispiel für Apartheid ist die Stadt Hebron. Dort belagern 700 palästinensische Siedler 200 000 Juden, terrorisieren sie und nehmen ganze Stadtteil für sich in Anspruch.
Dafür, wie die Palästinenser mit Juden umgehen, gibt es täglich neue Beispiele. Sie zerstören ihre Häuser oder zwingen die Juden, ihre angeblich „illegal“ gebauten Häuser selbst abzureißen, wie jetzt immer wieder in Sheikh Jarrah in Jerusalem geschehen. Weitere Untaten der Palästinenser: Sie reißen ganze jüdische Dörfer ab und zwingen die Bewohner zur Umsiedlung, sie zerstören gezielt landwirtschaftliche Flächen – vor allem Olivenhaine, die die Existenzgrundlage den Menschen sind. Die Armee schaut bei diesem Treiben zu, ohne einzugreifen.
Ein besonders schönes Spiel hatte sich die palästinensische Armee ausgedacht, als die eingesperrten Juden wieder einmal an der Grenze im Gazastreifen für ihre Freiheit demonstrierten. Sie gab die Parole aus: auf die Knie schießen, also die Getroffenen zu Krüppeln machen! Ein Scharfschütze prahlte anschließend, er habe 52 Knie geschafft und damit einen Rekord aufgestellt. Da konnten andere Kameraden nicht mit, sie hatten viel weniger getroffen. Der zuständige Offizier meinte zu solchen Praktiken, das seien junge Leute und die wollten zeigen, was sie in der Ausbildung gelernt hätten! (Haaretz 6.03.2020)
Lieber Sascha Lobo; Sie wissen natürlich dass es in Israel/Palästina genau umgekehrt zugeht, wie ich es hier geschildert habe. Von all den Unmenschlichkeiten schreiben Sie aber nichts. Sie schreien nur „Antisemitismus!“, „Antisemitismus!“ und verschweigen einen der Hauptgründe für den Judenhass auf der Welt: die Zustände im „heiligen Land“. Das ist Ihre ganze Botschaft. Das erinnert an die große Israel-Versteherin Jutta Ditfurth, die mit ihrer Parole „Palästina, halts Maul!“ die Richtung und den Inhalt der Debatte vorgegeben hat.
Von den Fakten und wirklichen Geschehnissen in dieser leidgeprüften Region wissen Sie nichts. Wollen Sie nichts wissen. Das würde ja Ihr ideologisches Feindbild zerstören. Die einzige Daseinsberechtigung, die Sie den Palästinensern zubilligen, ist, „Antisemiten“ zu sein. Man muss ja schließlich jemanden haben, den man hassen kann. Und die deutschen Aktivisten, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts für diese Menschen einsetzen, stecken Sie gleich mit in Ihrem Antisemitismus-Kasten. Das ist ja auch am einfachsten, da braucht man sich nicht um Differenzierungen und das Verstehen verschiedener Sichtweisen und Interessen bemühen. Und schon gar nicht Empathie zeigen am Leiden von Menschen.
Erbärmlich, was Sie für ein Menschenbild haben! Erbärmlich auch DER SPIEGEL oder SPIEGELonline. In diesem Magazin konnte früher der Redakteur und Autor Siegfried Kogelfranz eine Serie über die leidvolle Geschichte der Palästinenser schreiben, der große israelische Publizist Uri Avnery kam öfter zu Wort und das Buch des israelischen Psychologen Benjamin Beit-Hallahmi über den israelischen Kolonialismus wurde in einer ausführlichen positiven Rezenszion gewürdigt. Das „Flaggschiff der Aufklärung“ (Rudolf Augstein über den SPIEGEL) ist längst auf Grund gelaufen, zur gehobenen Bildzeitung geworden.
Ich möchte Ihnen zum Schluss noch ein paar Sätze eines israelischen Autors präsentieren – des Holocaustforschers an der Universität Jerusalem und Direktor des Getto-Museums in Warschau Daniel Blatman. Er kommt zu ganz anderen Ergebnissen als Sie. Er schreibt: „Fast alle Mitglieder des Bundestages – Sozialdemokraten, Freie Demokraten und Grüne – haben vor kurzem für einen Beschluss gestimmt, der die BDS-Bewegung als antisemitisch definiert. Nach dieser umfassenden Entscheidung ist Deutschland zu einem führenden Mitglied der Koalition der „Verzerrer des Antisemitismus“ geworden. Zu den Mitgliedern gehören Persönlichkeiten wie Viktor Orban aus Ungarn, Matteo Salvini aus Italien und Heinz-Christian Strache aus Österreich. Alle sind Liebhaber Israels, ernsthafte Rassisten und, wenn nötig, auch Antisemiten.
So wurde aus einem Land, in dem der Antisemitismus ein politisches Instrument war, das zum Aufstieg des mörderischen Unternehmens der Nazis beitrug, ein Land, das die Verzerrung des Antisemitismus als Instrument zur Erleichterung der politischen Verfolgung einer gewaltfreien Bewegung, die die Besatzung, die Unterdrückung der Palästinenser und die Kriegsverbrechen, die Israel in den Gebieten begeht, fördert.
Deutschland ist insofern einzigartig, als der Druck der israelischen Regierung die politische Stimmung so weit beeinflusst hat, dass dort mit Unterstützung einiger jüdischer Ortsgruppen eine Hexenjagd ausgebrochen ist. Es richtet sich derzeit an den Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schaefer, einen führenden Intellektuellen auf dem Gebiet der Judaistik, der sich gegen die Untergrabung der Meinungsfreiheit ausgesprochen hat und vor der Gefahr warnte, jeden zu brandmarken, der Israel als „antisemitisch“ kritisiert.
Mehrere Holocaust-Forscher in Israel und im Ausland haben in jüngster Zeit auf die Gefahr einer so genannten „Holocaust-Verzerrung“ hingewiesen. Keine Verleugnung, sondern Verzerrung. Aus ihrer Sicht leugnet der heute an mehreren Orten in Europa aufkommende Trend, insbesondere bei rechtsextremen populistischen Parteien, den Holocaust nicht, sondern verdreht seine Ereignisse oder Bedeutung, um sie an eine nationale historische Narrative anzupassen und das jeweilige kollektive Gedächtnis, das sie fördern, zu gestalten.
Obwohl diese Wissenschaftler keine Stellungnahme zu einem ähnlichen Prozess im Hinblick auf die Definition des Antisemitismus abgegeben haben, scheint die von ihnen vorgeschlagene Gleichung zum Holocaust auch hervorragend zu dem zu passen, was in Deutschland und anderen Orten in Bezug auf den Antisemitismus geschieht.
Der traditionelle, vertraute Antisemitismus war gekennzeichnet durch eine vielfältige Feindseligkeit gegenüber Juden und Judentum, die Dämonisierung der Juden, die Beschäftigung mit ihren kollektiven Eigenschaften und ihren Geschäftsbeziehungen sowie Mythen und Stereotypen, die den Juden als den inkarnierten Teufel darstellten. Der neue Antisemitismus der heutigen europäischen nationalistischen Populisten – deren Definitionen Deutschland übernommen hat – könnte als funktionaler Antisemitismus definiert werden. Es basiert auf dem Prinzip, dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch definieren wollen, als solcher definiert wird.
Mit anderen Worten, es handelt sich nicht mehr um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet – sondern um einen, der zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von der israelischen Regierung und von Juden und Nichtjuden, die ihn unterstützen, in Deutschland und anderen Ländern aufgestellt werden.
Was hier geschieht, ist nicht weniger als eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht mehr, wer ein Jude ist, der aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philo-Semit ist, und die Deutschen nehmen ihre Meinung an. Funktionaler Antisemitismus definiert Juden und Nichtjuden gleichermaßen als Antisemiten, basierend auf einer Reihe von Spezifikationen und Eigenschaften, die dem aktuellen Nationalismus Israels entsprechen. Und weil funktionaler Antisemitismus auch eine Art Dokument oder Organisation braucht, die seine Grenzen definiert – da es unvorstellbar ist, dass jeder selbst entscheiden soll, wer antisemitisch ist und wer nicht -, hat er sich auf die Zehn Gebote der Internationalen Holocaust-Gedenkallianz geeinigt.“
Vielleicht bedenkenswert! Beste Grüße Arn Strohmeyer
Quelle: Palästina-Portal.