„Wann ist Kritik an Israel antisemitisch?“

von Judith Bernstein (Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe)

Ich bin als Tochter deutscher Eltern, die 1935 aus Deutschland fliehen mussten, in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Meine Eltern waren weder religiös noch  Zionisten, und bestimmt kamen sie nicht mit der Absicht an, die Araber – wie man damals sagte – zu vertreiben. Vielmehr mussten sie aus Deutschland fliehen, um ihr Leben zu retten. Meine Großeltern sind in Erfurt geblieben und gehörten zu den letzten Juden, die 1943 von dort nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. Auch wenn wir Kinder – und vor allem natürlich die Eltern – von dieser Geschichte geprägt waren, so spielte sie nach der Gründung Israels keine so große Rolle, denn man war mit dem Aufbau des jungen Staates beschäftigt. Meine Eltern fanden in Palästina einen Zufluchtsort. Doch gleichzeitig wissen wir, dass dadurch auch neues Unrecht entstand. Es waren aber gerade deutschsprachige Juden wie Martin Buber, Hans Kohn, Georg Landauer, Ernst Simon, Gershom Scholem, Robert Weltsch und eben auch Menschen wie meine Eltern und ihre Freunde, die sich durchaus ein Zusammenleben mit den Palästinensern vorstellen konnten, denn – wie sie sagten und es ihnen auch klar war – waren sie ja die Spätgekommenen.

Ich bin ohne Hass auf Araber aufgewachsen und hatte das Glück, einige von ihnen – vor allem christliche Palästinenser – durch das Sportgeschäft meiner Eltern in Jerusalem kennenzulernen. Das hat mich geprägt. Allerdings gab es im Alltag keine Kontakte zu Palästinensern, sie waren im Bewusstsein der Israelis einfach nicht vorhanden. Erst nach dem Sechstagekrieg konnte man sie nicht mehr ignorieren. Es war eine Zeit der nationalreligiösen Euphorie, und so interessierte sich keiner für die Bevölkerung auf der anderen Seite. Nach und nach wurde uns aber bewusst, was Besatzung bedeutet – Unterdrückung, Demütigung und Schikane. 

Und nun zu unserem Thema: Wann ist Kritik an Israel antisemitisch?

Der Duden definiert Antisemitismus als Abneigung oder Feindschaft gegenüber Juden weil sie Juden sind. Ist also die Kritik an der israelischen Politik, weil 80% der dort lebenden Menschen Juden sind, antisemitisch? Wenn ich Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan oder Donald Trump wegen ihrer Politik kritisiere, bin ich dann Russland-, Türkei- oder Amerika-feindlich?

Ich möchte damit nicht sagen, dass es keinen Antisemitismus gibt. Es gibt ihn unter denjenigen, die grundsätzlich Juden, oft auch Moslems, ablehnen und insbesondere unter Nationalisten mit ihrer Einstellung gegenüber Minderheiten, Homosexuellen oder Frauen.

Auch manche Linke sind aufgrund ihrer eigenen Familiengeschichte obsessiv, wenn es um Israel geht und tendieren dazu, Israel mit Nazideutschland zu vergleichen. Dieser Vergleich bringt uns nicht weiter, denn die Situation vor Ort ist schlimm genug, aber dennoch nicht in ihren Ausmaßen bzw. Methoden vergleichbar.

Ende Januar hat die  Humanistische Union meinem Mann und mir den Preis „Aufrechter Gang“ für unser Engagement sowohl in der „Initiative Stolpersteine für München“ als auch für unseren Beitrag zur friedlichen Regelung des Nahostkonflikts und für die Koexistenz beider Völker verliehen.

Die zahlreichen Bemühungen der Humanistischen Union, die Preisverleihung in einem städtischen Raum wie im Kulturzentrum Gasteig stattfinden zu lassen, waren gescheitert. Zur Begründung gab der Gasteig an: „Ihre Preisträgerin, Frau Bernstein, steht zumindest in ihrer Funktion als Verantwortliche (ich bin nicht die Verantwortliche, sondern die jüdische Sprecherin) der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München auf der Unterstützerliste der BDS-Kampagne“.

Das Kulturzentrum bezieht sich auf den Beschluss des Stadtrats vom Dezember 2017 „Gegen jeden Antisemitismus – Keine Zusammenarbeit mit der antisemitischen BDS-Bewegung“. Der Antrag hierzu wurde auf Betreiben von Stadtrat Marian Offman, Mitglied der CSU und der israelitischen Kultusgemeinde und den Fraktionen von SPD und CSU eingebracht. Obwohl den Fraktionen dazu die fachliche Kompetenz fehlt, stellen sie sich „gegen die antisemitische BDS-Kampagne“ und wollen „städtische Räume nicht länger den Gegnern der israelischen Regierungspolitik für Veranstaltungen zur Verfügung stellen“. Nur die LINKE hat geschlossen gegen den Antrag gestimmt.

In einem Schreiben an OB Reiter versuchte ich ihm klarzumachen, dass dieser Beschluss nicht nur den Antisemitismus nicht bekämpfen, sondern ihn eher schüren würde und dass dies eines Tages auf die Juden zurückschlagen wird. Seine Loyalität gegenüber der israelitischen Kultusgemeinde München scheint ihm aber wichtiger zu sein.

Deshalb fand die Preisverleihung in fast letzter Minute in einem Kino statt. Eine Gruppe, die sich ausgerechnet „Münchner Bürger gegen Antisemitismus und Israelhass“ nennt, hatte sich durch den Beschluss des Stadtrats ermutigt gefühlt, die Besitzer des Filmtheaters aufzufordern, die Vermietung an die Humanistische Union rückgängig zu machen: „Organisieren Sie Veranstaltungen mit der BDS, können Sie ebenso die NPD unterstützen“, heißt es in ihrem Brief.

Die genannte Gruppe wollte verhindern, dass Veranstaltungen der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe auch in privaten Räumen stattfinden können. Sie forderte sämtliche Lokale auf, nicht die Türen für „Propaganda-Veranstaltungen zu öffnen“. Doch an derPreisverleihung nahmen fast 350 Menschen teil. Eine politische Ohrfeige für die Antragsteller.

Ich erwähne das deshalb weil seit Juli d.J. der Münchner Stadtrat Stelen und Wandtafeln in München anbringen lässt, um die Stolpersteine zu verhindern. Dahinter stehen die Personen und Institutionen – also israelitische Kultusgemeinde, Stadtrat und Oberbürgermeister, die sich auch für das Verbot ausgesprochen haben, kritische Veranstaltungen zum brisanten Nahostkonflikt in städtischen Räumen abzuhalten. Da frage ich mich – geht es beim Verbot der Stolpersteine tatsächlich um Erinnerung und beim Verbot um eine sachliche Diskussion um den Nahen Osten tatsächlich um Antisemitismus, oder geht es nicht vielmehr um Macht?

Der Aufruf gegen unsere Preisverleihung und das Verbot der Vermietung öffentlicher Räume an BDS-Unterstützer kommt einem Boykottaufruf gleich. BDS soll also wegen ihres Boykottaufrufes bekämpft werden, indem man mit einem Boykott droht.

Durch den Kampf gegen die BDS-Bewegung – Boycott, Divestments and Sanctions – wird jede kritische Auseinandersetzung mit der Politik Israels unterbunden. Indem man die Kampagne als antisemitisch bezeichnet, soll sich also jede weitere Diskussion erübrigen.

Die BDS-Bewegung entstand 2005 als ein Zusammenschluss von mehr als 170 zivilgesellschaftlichen palästinensischen Gruppen und setzt sich für die Rechte der Palästinenser ein. Was soll da bitte antisemisch sein? Es ist doch sehr perfide, wenn die Forderung nach fundamentalen Menschenrechten der Palästinenser Antisemitismus gleichgesetzt wird. Dann scheint die bloße Existenz der Palästinenser antisemitisch zu sein.

Wie in vielen anderen propalästinensischen Gruppen gibt es auch bei der BDS-Bewegung Menschen, die sich auf Kosten der Palästinenser profilieren wollen und leider auch solche, die die Kampagne für ihren Hass auf Juden benutzen. Das kann man aber nicht der Bewegung anlasten. BDS ist gegen jede Form von Rassismus – auch gegen Antisemitismus. Die Bewegung hat das Ziel, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen, aber deshalb ist die Bewegung noch lange nicht gegen Israel. Ganz im Gegenteil – in dem sie für die Rechte der Palästinenser kämpft, kämpft sie auch für die Israelis, denn es gibt keinen Frieden für Israel ohne einen Frieden für Palästina. Wenn die Rechte der Palästinenser aber bedeuten, dass Israel auf große Teile seiner politischen und gesellschaftlichen Ideologien verzichten muss, dann müssen diese Ideologien hinterfragt werden, nicht die Rechte der Palästinenser. Wer das anders sieht, sollte seine eigene Grundeinstellung zu Menschenrechten hinterfragen.

Niemand ist verpflichtet, diese Kampagne zu unterstützen. Aber es muss in einer demokratischen Gesellschaft möglich sein, darüber zu debattieren. Während wir hier diskutieren, setzt die israelische Regierung ihre Annexionspolitik und ihren Kampf gegen die Palästinenser in Gaza ungestört fort. Ich bin sogar der Meinung, dass die BDS-Kampagne den Unterstützern der israelischen Politik sehr gelegen gekommen ist – gäbe es diese Kampagne nicht, hätte man sie erfinden müssen.

Eines haben die Antragsteller im Stadtrat erreicht: Es wird nur noch über den vermeintlichen oder tatsächlichen Antisemitismus diskutiert, nicht aber über die israelische Politik. Jeder, der sich ihr entgegenstellt, muss gewärtigen, diffamiert und mundtot gemacht zu werden. Anstatt sich mit dem Kernpunkt – nämlich den fundamentalen Rechten der Palästinenser zu beschäftigen, treten die israelischen Befindlichkeiten in den Vordergrund. Der Fokus wird von den Palästinensern auf die Juden gelenkt – um die geht es der BDS-Bewegung jedoch überhaupt nicht.

Auch der Vorwurf des Antisemitismus unter Moslems in Deutschland hat sein Ziel erreicht. Der Antisemitismus muss nicht importiert werden, er war schon vor den Geflüchteten da. Die Mehrheit der Kriegsflüchtlinge kommt aus Staaten, die keine Friedensverträge mit Israel unterhalten. In diesen Ländern ist der Hass auf Israel wegen seiner Politik gegenüber den Palästinensern sehr stark. Das haben wir vor einigen Monaten anlässlich einer privaten Reise in Ägypten erlebt.

Solange die deutsche Politik nicht den Zusammenhang zwischen der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern und der Ablehnung dieser Politik unter Moslems herstellt, kann man dem Antisemitismus nicht beikommen, da hilft auch kein Beauftragter der Bundesregierung. Wie können wir von den Flüchtlingen erwarten, dass sie zwischen Israel und Juden unterscheiden, wenn Netanjahu behauptet, für alle Juden der Welt zu sprechen. Damit nimmt er die Juden für seine Politik in Haftung. Israel wird mittlerweile auch bei unseren Politikern und Journalisten als „jüdischer Staat“ bezeichnet, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie der Begriff in Israel diskutiert wird, nämlich die rund 20 Prozent der arabischen Staatsbürger einfach zu ignorieren und das Gemeinwesen unter das Diktat der Religion zu stellen, wie es das neue Nationalstaatsgesetz zum Ausdruck bringt.

Ich könnte Ihnen noch viele Beispiele nennen, bei denen sowohl mein Mann und ich als auch die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe diffamiert und regelrecht bekämpft wurden. Mittlerweile wird uns der Zugang zu städtischen und sogar zu Privaträumen untersagt.Aber ich habe mich entschlossen, mich nicht auf das Niveau meiner Gegner herab zu begeben.

Wie ich von einem bekannten ehemaligen Journalisten der Bild-Zeitung belehrt wurde, haben wir gegen die Macht in der Stadt keine Chance. Also müssen wir nach Alternativen suchen. Und warum lernen wir nicht von den Palästinensern? Nachdem ihr jahrzehntelanges Bemühen, zu einer friedlichen Lösung mit Israel zu kommen, gescheitert ist, haben sie sich für den gewaltfreien Widerstand entschieden. Dass die BDS-Kampagne mit vielen Widerständen und vor allem mit dem Vorwurf des Antisemitismus bekämpft wird, hat sie nicht eingeschüchtert. Auch nicht die Tatsache, dass behauptet wird, diese Kampagne richte sich gegen Israel. Allein dieser Vorwurf ist absurd, denn warum sollte sie die Gleichberechtigung der palästinensischen Bevölkerung in Israel verlangen, wenn sie diesen Staat weghaben will? Es ist doch eher die israelische Regierung mit ihren neuen Gesetzen, wie das Nationalstaatsgesetz, das den eigenen Staat gefährdet. Im Übrigen, zu diesem Gesetz haben die Israelunterstützer in Deutschland bisher geschwiegen. Dieses Gesetz ist nur die Legalisierung der Praxis, die seit Gründung des Staates herrscht – die palästinensische Bevölkerung nicht als ebenbürtig zu betrachten. Auch die Forderung an Abbas, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, zielte genau darauf, nämlich dass eine Minderheit von 20% kein Recht auf volle nationale Gleichheit genießt.

Ich denke, dass unser Adressat diejenigen sein sollten, die wir überzeugen können, und dass wir uns nicht mit der Politik Israels und seinen Unterstützern in Deutschland aufhalten sollten. Wichtiger ist es, diejenigen Friedensgruppen zu unterstützen, die nach Alternativen zur jetzigen Politik suchen. Um unsere Gesprächspartner zu überzeugen, müssen wir vor allem glaubwürdig sein. Auch wenn es natürlich in einer Zeit von „fake news“ mit einem Nationalisten wie Trump schwieriger geworden ist, so kann niemand die Zukunft voraussagen. Und vielleicht kommt doch der Tag, an dem auch hierzulande die Politik Rechenschaft ablegen muss, warum sie jahrelang zu einer Politik geschwiegen hat, die unseren eigenen Werten widerspricht (ich erinnere an die Aussage des jetzigen Außenministers Heiko Maas, als er die rechte israelische Justizministerin Ayelet Shaked zu einem Vortrag über Rechtstaatlichkeit eingeladen hat und von den gemeinsamen Werten sprach). Und wenn bei der jetzigen Auseinandersetzung um Antisemitismus beklagt wird, dass dieser sich gegen die Politik Israels richtet, warum wird die Ursache hierfür, also die ungerechte Behandlung der Palästinenser, nicht bekämpft?

Das Versagen deutscher Politik hat mehrere Ursachen. Zum einen ist es sehr bequem, sich auf die deutsch-jüdische Geschichte zu beziehen, ohne sich mit der Gegenwart beschäftigen zu müssen. Zum anderen gibt es eine enorme Ignoranz und Blindheit den Konflikt betreffend – das sehen wir z.B. bei den Antideutschen wie die Grüne Jugend und ähnlichen Gruppierungen und manche trauen sich keine Kritik an der israelischen Politik zu äußern aus Angst, dies könnte ihrer Karriere schaden.

Bei den jüdischen Gemeinden geht es vor allem um Anerkennung seitens Israels. Als ich in den 70er Jahren nach Deutschland kam, durfte ich nicht sagen, dass ich nicht beabsichtige, nach Israel zurückzukehren. Es war eine Schande, im Land der Täter zu leben. Die Juden in Deutschland wurden in Israel als Abschaum betrachtet. Heute wird jeder offizielle deutsche Gast in Israel von Frau Knobloch begleitet. Diese Anerkennung haben sich die deutschen Juden durch ihre uneingeschränkte Solidarität mit jeder Regierung in Israel erworben.

Es ist richtig und wichtig, zu unseren Werten wie der Achtung der Menschenrechte, der Meinungs- und Pressefreiheit zu stehen. Jedoch macht man sich unglaubwürdig, wenn man nur die Menschenrechtsverletzungen seitens Israels, nicht aber die Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern und bei uns anprangert. Nur so könnte man auch von unserer Regierung erwarten, dass sie nicht von Israel als die einzige Demokratie im Nahen Osten spricht. Denn mittlerweile zeigen die letzten Gesetze, die die israelische Regierung verabschiedet hat, dass Israel sich nicht von seinen Nachbarn unterscheidet, die auch bei uns nicht als Demokratien betrachtet werden. Zwar wird die Politik Orbans, Kaczynskis und Straches von allen deutschen Parteien – bis auf die AfD und leider auch die CSU – abgelehnt, nicht aber von ihrem Freund und Partner Netanyahu. Gemeinsam gilt für diese Nationalisten, dass sie Moslems und Menschenrechtsorganisationen bekämpfen.

Nicht die Kritiker der israelischen Politik sind Israels Feinde, sondern seine Unterstützer, die Israel das Gefühl der Narrenfreiheit vermitteln, und somit diesen Staat in Gefahr bringen, dass er eines Tages verschwindet. Schon heute ist Israel moralisch am Ende. Es muss unseren Politikern klar sein, dass sie mit ihrer falsch verstandenen Solidarität gegenüber Israel zu Kollaborateuren eines ungerechten Regimes geworden sind – wollen sie das wirklich?

Daher ist eine sachliche Kritik an der Politik Israels, und da schließe ich die BDS-Kampagne ein, nicht nur erwünscht, sondern sogar notwendig – gerade auch um Israel vom eigenen moralischen Niedergang zu bewahren. Wenn wir als wahre Freunde Israels nicht wollen, dass dieser Staat untergeht, dann müssen wir seine Politik kritisieren. Diejenigen, die unsere Einwände verhindern wollen, sind diejenigen, die die Selbstzerstörung dieses Landes vorantreiben.

Um den Konflikt wirklich zu verstehen, reicht es nicht aus, Leute wie Amos Oz oder Avi Primor zu hofieren, weil sie ihre Stimme gegen die Besatzung erheben, und gleichzeitig die BDS-Kampagne als antisemitisch zu bezeichnen. Denn diese gewaltlose Kampagne geht noch weiter – sie fordert nicht nur das Ende der Besatzung, sondern auch die Gleichberechtigung der Palästinenser, was auch das Recht – und ich betone, es geht in erster Linie um das Recht – auf Rückkehr von Flüchtlingen, bedeutet. Warum dürfen Juden, die nie in Israel gelebt haben, nach Israel einwandern, während Palästinensern, die über Generationen dort gelebt haben, dieses Recht vorenthalten wird? Es ist natürlich für viele Israelis sehr schmerzhaft, denn eine Gleichberechtigung bedeutet auch einen Verzicht auf Privilegien. Und doch gibt es keinen Grund, warum die Palästinenser in Israel und in Palästina, nicht das Selbstbestimmungsrecht wie die jüdischen Israelis genießen sollten.

In seinem neuen Buch „Wie alle Völker…?“, ein Satz aus der Bibel (2. Samuel VII) und  „Das Volk, das allein wohnt und sich nicht unter die Erdstämme rechnet“ (Num. 23,9), geht mein Mann dieser Prophezeiung nach. Diese Aussagen sind heute Realität geworden. Während wir an Rechtsstaat und Völkerrecht festhalten, meint die israelische Regierung und ein großer Teil der Gesellschaft, dass sie durch ihre Bindung an Gott und an das „Heilige Land“ über der Geschichte stehen. Dieser innerjüdische Streit findet sich schon bei den Mitgliedern von Brit Shalom in den 1920er Jahren, doch indem man ihre Warnungen beiseiteschob, hat man zur weiteren Verschärfung des Konflikts beigetragen.

Natürlich können wir nicht erwarten, dass unsere Politiker sich in der Bibel auskennen, aber sie sollten das Narrativ der Israelis, wenn es ihnen vorgetragen wird, wahrnehmen und entsprechend reagieren. Und vor allem müssen wir glaubwürdig sein und nicht – wie im Fall der Flüchtlinge von heute – unsere demokratischen Werte aufgeben.

Abschließend möchte ich sagen: Wenn man sieht, wie mit Anhängern der BDS-Bewegung umgegangen wird, d.h. sie ihrer Bürgerrechte wie Meinungsfreiheit beraubt und sie diffamiert werden, dann kann man nur erahnen, was mit den Palästinensern selbst geschieht. Egal wie man zu Israel bzw. Palästina steht – hat man demokratische Werte tatsächlich internalisiert, wirft man sie nicht wegen politischer Unstimmigkeiten über Bord. In einer wirklichen Demokratie hat man auch unangenehme Meinungen und Ansichten auszuhalten. Wer jedoch aktiv diese Meinungen und Ansichten bekämpft, die Akteure mundtot macht und sie ihrer demokratischen Rechte beraubt, hat seine eigene Glaubwürdigkeit hinsichtlich seiner demokratischen Werte verspielt. Das sollten sich Politiker, Journalisten und sämtliche Institutionen immer wieder vor Augen führen. Die blinde Unterstützung der nicht-demokratischen Politik der israelischen Regierung wird sich früher oder später auch auf die Glaubwürdigkeit und Integrität der deutschen und europäischen Politik auswirken. Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass man das historische Unrecht an den Juden mit einem anderen Unrecht an den Palästinensern „wiedergutmachen“ kann.

„Shrinking Space Im Israel-Palästina-Konflikt – Aufbruch Zu Einem Konstruktiven Miteinander“, Evangelische Akademie Bad Boll, 21.-23. September 2018

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