Rolf Verleger gestorben – ein jüdischer Kritiker Israels

von Heiko Flottau

Professor Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland und Kritiker der israelischen Besatzungspolitik, ist gestorben. Bei der Beerdigung auf Berlins Jüdischem Friedhof in  Weissensee fehlte ein Trauergast – ein Vertreter des Zentralrates. Beerdigungen können die Basis für Versöhnung sein – oder wenigstens für eine Art politischen Waffenstillstand – so denn ein Zerwürfnis  aktuellen oder auch prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten etwa über Konflikte zwischen zwei Völkern entspringt. Wer Grösse zeigen will, lässt sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen.

Rolf Verleger hätte eine solche Geste verdient gehabt. Sie ist ausgeblieben. Die Fronten zwischen ihm und dem Zentralrat waren zu verhärtet. Wie im Nahen Osten, wo sich Israelis und Palästinenser seit Jahrzehnten in einem Konflikt verknäuelt haben. Oder realistischer: wo Israel die Besetzung palästinensischen Landes nicht beenden will.

Rolf Verleger war – neben Rupert Neudeck, Professor Udo Steinbach, Professor Norman Paech, Nirit Sommerfeld und manch anderen, Gründungsmitglied des 2017 in Deutschland ins Leben gerufenen  Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e. V., abgekürzt BIP. >>>

Es ist an der Zeit, über Israels „Demokratie“ zu reden

Es ist an der Zeit mit einer Propagandalüge Schluss zu machen, damit sie nicht noch ein Mythos wird. Israel glänzt für die generellen Verhältnisse im Nahen Osten wie eine einzige Demokratie in der Region, aber absolut darf man den Satz nicht nehmen. Es ist schon zu klären, ob Israel überhaupt eine Demokratie im Sinne von EU oder den USA ist. Schon vor Jahren konnte man in der israelischen Presse den Begriff „Demoktatur“ lesen. So bezeichneten kritische Israelis das politische System in ihrem Land.

In der Diaspora erwartet die jüdische Minderheit von der gesellschaftlichen Mehrheit, was die jüdische Mehrheit ihren Arabern nicht gewährt. So fragt man sich in der Tat, wie demokratisch ein Land ist, das fremdes Land besetzt hält und dessen Bewohner unterdrückt. Das muss überlegt werden, aber gleichzeitig darf man keine Fakten unterschlagen und ignorieren, dass es in Israels Nachbarschaft eine weitere, sogar ältere Demokratie gibt, nämlich den Libanon.  Weiterlesen

Kritik an der Politik Israels aufgrund des jüdischen Gebots der Nächstenliebe – Ein Nachruf auf Rolf Verleger

von Arn Strohmeyer

Die Nachricht vom Tod Rolf Verlegers muss alle, die sich für einen gerechten Frieden im Nahen Osten einsetzen, tief betroffen machen. Mit ihm verlieren wir zudem einen wunderbaren und liebevollen Menschen, den persönlich gekannt zu haben eine große Bereicherung war. Im Januar dieses Jahres hat er mir noch einen langen Brief geschrieben, in dem er auch auf seine Krankheit einging. Der Brief endete mit den Worten: „Ich muss sehr teure Pillen schlucken, und die Ärzte sind guter Stimmung. Mal sehen, wie es weitergeht…“ Er hat den Kampf gegen seine Krankheit verloren, er ist nur 70 Jahre alt geworden. Wir haben mit ihm einen der besten und kenntnisreichsten Mitstreiter für ein Ende der Gewalt und der Unterdrückung in Israel/Palästina verloren. Der Verlust wiegt sehr schwer.

Die Motivation für sein politisches Engagement war das Judentum, so wie er es verstand. Über diese Religion schrieb er: „Das Judentum war über Jahrhunderte eine Ideologie der Befreiung, der Möglichkeit der kommenden Erlösung, der Heilung der Welt durch Gottes Gnade.“ Das Gebot der Tora „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“ oder in anderer Übersetzung „Liebe Deinen Nächsten – er ist wie Du!“ war für ihn die universale Kernaussage dieser Religion. Er zitierte immer wieder den Satz, den der Rabbi Hillel (geb. 70 v.u.Z.) zu einem Schüler auf die Frage nach dem Wesentlichen im menschlichen Leben gesagt hat: „Was Dir verhasst ist, das tu Deinem Nächsten nicht an!“. Hillel fügte hinzu: „Das ist die ganze Tora. Der Rest ist Erläuterung.“  Weiterlesen

Palästina und die Palästinenser

Muriel Asseburgs Buch folgt nicht der zionistischen Geschichtsschreibung. Sie beschreibt die Geschichte eine verratenen und geschundenen Volkes.

von Arn Strohmeyer

Die Wahrnehmung der Palästinenser und ihrer politischen Rechte ist in Deutschland vor allem durch die Schuld gegenüber den Juden geprägt und wird deshalb vornehmlich durch die israelische Sicht bestimmt. Obwohl die Palästinenser mit dem Holocaust nichts zu tun hatten, werden sie von den Zionisten nicht nur als Terroristen, sondern als „Antisemiten“ und die „neuen Nazis“ hingestellt. Das heißt, die Opfer des Nahost-Konflikts werden zu Tätern gemacht. Die zionistische Ideologie überträgt also die Verbrechen der Nazis auf die Palästinenser und kann so von seiner eigenen Gewaltpolitik gegenüber diesem Volk ablenken: Wer in Palästina der Kolonist und die Kolonisierten, der Besatzer und die Besetzten sowie die Unterdrücker und die Unterdrückten sind, wird auf diese Weise verschleiert. Stellen die Palästinenser ihr historisches Narrativ mit Hinweis auf ihr völkerrechtlich verbürgtes Recht auf Selbstbestimmung dar – man denke nur an die Nakba-Ausstellung – , dann preschen auch die Verteidiger Israels in Deutschland schnell mit denunziatorischen Vorwürfen der Einseitigkeit und des „Antisemitismus“ vor.

So konnte Israel Jahrzehnte lang im deutschen Raum sein historisches Narrativ verbreiten, ohne dass ihm gegenüber je der Vorwurf der Einseitigkeit erhoben wurde. Das taten dann aber ab den 90er Jahren bis heute israelische Historiker einer neuen Generation, die nicht mehr unkritisch den Vorgaben der zionistischen Ideologie folgen wollten. Die Vertreter der Gruppe der sogenannten „neuen Historiker“ interessierten und interessieren sich nicht für das zionistische Dogma, sondern für die Fakten, also für das, was wirklich geschehen war. Ihnen kam zugute, dass in Israel zum ersten Mal wenigstens ein Teil der Archive zugänglich gemacht wurde. So konnten Historiker wie Benny Morris, Ilan Pappe, Shlomo Sand, Avi Shlaim und Tom Segev, um die bedeutendsten zu nennen, ein ganz anderes, eben realistisches Bild der Geschichte Israels zeichnen, das mit den Verklärungen und Mythen der alten zionistischen Geschichtsschreibung gründlich aufräumte.  Weiterlesen

„Unsere einzige Rache ist, Frieden zu schließen“

von Arn Strohmeyer

Um das Fazit gleich vorwegzunehmen: Wer immer noch glaubt und davon überzeugt ist, dass der Zionismus irgendetwas mit Frieden zu tun hat und Israel ein von Moral geprägter Staat ist, der lese dieses Buch Apeirogon von Colum McCann. Dieser irische Autor hat den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in einem grandios geschriebenen Roman zusammengefasst. Mit unbestechlichem Blick auf das grausam-barbarische Vorgehen der Zionisten gegen ein ganzes Volk, das sich verzweifelt gegen die Unterdrückung und die endgültige Vertreibung aus seinem Land wehrt, analysiert der Autor das Geschehen in Israel-Palästina. Dabei spart er nicht mit historischen und wissenschaftlichen Einschüben, ja bisweilen benutzt er sogar poetische Assoziationen, um klarzumachen, wie schön dieses Land sein könnte, wenn der Wille zum Frieden vorherrschend wäre. Mit der Anwendung der Collage-Technik wechselt ständig die Szene und die Ebene des Erzählens und schafft so eine ganz eigene Atmosphäre der beschriebenen Ereignisse und des Verstehens beim Leser.

Apeirogon ist ein Begriff aus der Geometrie und bezeichnet eine Figur, deren Seiten sowohl zählbar als auch gegen unendlich gehen. Der Autor spielt hier wohl auf die Unendlichkeit des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern an. Oder anders gesagt: Man muss sehr viel Zeit und Geduld aufbringen, wenn man auf ein Ende dieses Konflikts hofft – genauso viel, wie wenn man die Seiten eines Apeirogons zählen will.  Weiterlesen

Hat DIE LINKE die Seiten im Nahostkonflikt gewechselt und unterstützt jetzt die Unterdrücker?

von Annette Groth

Offener Brief

Dr. D. Bartsch,Co-Fraktionsvorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke.

Hallo Dietmar,                                                                                                 26.7.2021

mit großem Befremden und Ärger habe ich Dein Interview in der Jüdischen Allgemeinen gelesen.

Du hast völlig den Kontext im Mai vergessen oder Du willst ihn nicht wahrhaben, als sich die weltweiten Demonstrationen gegen das gewaltsame Eindringen durch israelische Polizei und Armee in die Al-Aksa Moschee, eines der bedeutendsten Heiligtümer des Islam, richteten, gegen die Vertreibung von Dutzenden palästinensischen Familien aus Sheikh Jarrah, gegen die Verhaftungen zahlreicher palästinensischer Frauen, Kinder und  Männer, und die brutalen Gewaltakte sowie die rechtsradikalen Israelis, die „Tod den Arabern“ und Ähnliches skandierten.

Die Proteste in Berlin und anderen Städten in Deutschland und anderen Ländern richteten sich gegen diese Ungeheuerlichkeiten, begangen von den Herrschenden in Israel, und NICHT gegen Juden. Aber Du scheinst den Unterschied zwischen Judentum/Juden und dem Staat Israel nicht zu kennen oder kennen zu wollen. Damit stößt Du viele kritische Jüdinnen und Juden vor den Kopf, die legitime Kritik an der Regierungspolitik des israelischen Staates sehr wohl von zu verurteilendem Antisemitismus unterscheiden können, ja vielmehr diese Kritik selbst üben.  Weiterlesen

Aus einer Mücke ist ein Tiger geworden: BDS

Israelkritik ist nicht mehr und nicht weniger als Kritik an Israels Politik, vor allem an Israels Verhältnis zu den Palästinensern. Es ist keinesfalls „Judenhass“. Manche besonders perfide Kritiker der „Israelkritik“ sehen allein schon in dieser harmlosen Wortzusammensetzung ein Zeichen und ein Beweis für Antisemitismus.

Die Bewegung „Boykot, Divestment and Sanctions” (BDS) ruft, international, zu Boykottaktionen gegen Israel auf. Knapp 170 palästinensische Organisationen machen mit, die meisten von ihnen schon seit 2005. BDS-Aktivisten fordern Politiker, Unternehmer, Künstler, Wissenschaftler oder Sportler dazu auf, Auftritte, Investitionen oder wissenschaftliche Kooperation abzusagen oder zu beenden. Sie rufen aber nicht dazu auf Israel abzuschaffen oder gar zu vernichten.

BDS ist nicht einmal ein eingetragener Verein. Das heißt die Aktivisten und Sympathisanten sind nicht organisiert. Dennoch grenzen sich in Deutschland Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und sogar Sportvereine von BDS deutlich ab und Städte wie Berlin, München, Frankfurt und andere erklären, dass sie keine städtischen Räume an Vereine vermieten oder Zuschüsse zahlen wollen, wenn sie BDS unterstützen sollten.

Dennoch hat BDS prominente Unterstützer wie z.B. Naomi Klein, Judith Butler oder auch Musiker wie Kate Tempert und Roger Waters. Viele Israelis und Juden überall auf der Welt unterstützen die Bewegung entweder als Aktivisten oder als Sympathisanten.  Weiterlesen

Nicht in meinem Namen! Gedanken zur andauernden Naqba

von Nirit Sommerfeld

Liebe Wuppertalerinnen und Wuppertaler!

Mein Name ist Nirit Sommerfeld, ich bin deutsch-israelische Jüdin, bin

Sängerin und Schauspielerin von Beruf und lebe in Deutschland. Ich stehe hier als Mitglied des Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“, und als jüdische Stimme sage ich Euch: Israel handelt nicht in meinem Namen, nicht in unserem Namen, nicht im Namen des Judentums, und nicht im Einklang mit jüdischen Werten!

Genau heute vor 54 Jahren war der sogenannte Sechs-Tage-Krieg zu Ende, und mit diesem Kriegsende begann etwas, das noch schlimmer ist als sechs Tage Krieg. Was kann schlimmer sein als Krieg, fragt Ihr Euch?!

Dauerhafter Krieg ist schlimmer! Die Militärbesatzung der palästinensischen Bevölkerung in der Westbank, in Ost-Jerusalem, den syrischen Golanhöhen und in Gaza ist dauerhafter Krieg, der tagtäglich, seit 19.723 Tagen durch Einschränkung, Unterdrückung, Unfreiheit, Bespitzelung durch Geheimdienst, Folter, Verhaftungen ohne Anklage, Hauszerstörungen, Schikanen, Vertrauensverlust, rohe Gewalt und all ihre Folgen Millionen von Palästinenser*innen quält.

Neueste historische Erkenntnisse, die erst letzte Woche in der israelischen Tageszeitung Haaretz veröffentlich wurden, zeigen ganz klar, dass die Besatzung durch Israels Militär von langer Hand geplant war. Die Dokumente zeigen, dass bereits sechs Jahre vor dem sogenannten Sechs-Tage-Krieg detaillierte Pläne erstellt wurden, die für die Militär-Herrschaft in den später Besetzten Gebieten benötigt werden würden. Der Staat Israel bemüht sich, diese und andere geheime Akten weiterhin unter Verschluss zu behalten. Aber Wahrheit ist wie Löwenzahn: Man kann sie beschneiden und versuchen, sie auszurupfen und zu unterdrücken – sie wird ihren Weg an die Oberfläche finden, so wie der Löwenzahn Asphalt durchbricht.  Weiterlesen

War die israelische Plünderung ’48 Teil einer breiteren Politik zur Vertreibung der Araber?

Die dunklen Seiten des Unabhängigkeitskrieges werden in einem Buch über die massive jüdische Plünderung von arabischem Eigentum beleuchtet, das die Verbindung zwischen der Plünderung und Ben-Gurions Politik, das Land von seinen arabischen Bewohnern zu befreien, zeigt.

von Benny Morris

In seinem neuen Buch beschäftigt sich der Historiker Adam Raz mit den jüdischen
Plünderungen von 1948 – nicht aber mit der kollektiven Plünderung von Immobilien, Häusern und Ländereien von Arabern, die von der israelischen Regierung während des
Unabhängigkeitskrieges und danach (auch lange danach, muss man sagen) konfisziert
wurden. Raz konzentriert sich auf die Plünderung des arabischen beweglichen Vermögens durch Zivilisten, einzelne Soldaten, Armeeeinheiten und Institutionen des entstehenden Staates und des Staates selbst. Verschiedene Historiker haben diesen Aspekt des Krieges schon früher angesprochen, aber nicht mit diesem Fokus oder Detailgrad.

.Während des Krieges sagte David Ben-Gurion, der provisorische Premierminister, er sei von zwei Phänomenen überrascht gewesen: der Flucht der Araber und den Plünderungen der Juden. Zu letzterem erklärte er auf einer Sitzung des Zentralkomitees von Mapai, der Regierungspartei und Vorläuferin der Arbeitspartei, am 24. Juli 1948: „Es stellt sich heraus,  dass die meisten Juden Diebe sind …. Leute aus dem Jesreel-Tal haben gestohlen! Die Pioniere der Pioniere, die Eltern der Palmach [vorstaatliche Kommandotruppe] Kinder! Und alle haben sich daran beteiligt.“ Er hätte hinzufügen können, dass die Palmach-Angehörigen selbst nicht widerstehen konnten, hier und da zu plündern. Am 14. Juli versammelte Shmuel „Mula“ Cohen, der Kommandeur der Yiftah-Brigade des Palmach, seine Bataillone im Ben-Shemen-Wald, tadelte sie für die Plünderungen in der eroberten Stadt Lod ein oder zwei Tage zuvor („Leute aus unseren Einheiten begannen auch zu plündern und das verlassene Eigentum an sich zu
reißen“, schrieb er Jahre später) und zwang sie, das gestohlene Eigentum dem Hauptquartier der Brigade zu übergeben oder es zu zerstören.  Weiterlesen